Année politique Suisse 1999 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen / Allgemeine Fragen
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Bilaterale Abkommen mit der EU
Anders als bei dem 1992 vom Volk abgelehnten EWR-Beitritt, welcher die Übernahme von EU-Recht bedingt hätte, geht es beim bilateralen Vertrag mit der EU über den freien Personenverkehr im Bereich der Sozialversicherungen lediglich um eine Koordinierung der sozialen Sicherheit, was nur geringe gesetzliche Änderungen notwendig macht. Die Sozialgesetzgebung der beiden Partner wird grundsätzlich nicht verändert, doch soll verhindert werden, dass Beschäftigte eine direkte oder indirekte Benachteiligung bei der sozialen Sicherheit erleiden, wenn sie vom EU-Raum in die Schweiz wechseln oder umgekehrt. Erfasst von der Koordination werden alle schweizerischen Sozialversicherungszweige in den Bereichen Krankheit, Unfall, Invalidität, Alter, Tod, Arbeitslosigkeit und Familienleistungen. Oberstes Prinzip ist die uneingeschränkte Gleichbehandlung der Bürgerinnen und Bürger aller Vertragsstaaten. Hinzu kommt die Verpflichtung zur gegenseitigen Anerkennung von Versicherungszeiten für den Erwerb von Leistungsansprüchen sowie zur Auslandszahlung von Leistungen. Um nicht in allen Sozialversicherungsgesetzen sämtliche Koordinationsbestimmungen einfügen zu müssen, wurde in den entsprechenden Gesetzen eine sogenannte „Verweiserbestimmung“ auf das europäische Verordnungsrecht eingefügt.
Für den reinen AHV/IV-Bereich ergeben sich aus dem Abkommen keine besonderen Belastungen für die Schweiz. Im Ausland zurückgelegte Beitragszeiten müssen zwar anerkannt werden, doch kann jedes Vertragsland die Höhe seiner Renten weiterhin autonom berechnen. Zu einer finanziellen Hypothek könnte hingegen die freiwillige AHV für Auslandschweizer werden. Die Gleichbehandlungsvorschrift würde die Schweiz verpflichten, EU-Staatsangehörige unter den gleichen Voraussetzungen wie Schweizer Bürgerinnen und Bürger zur (massiv defizitären) freiwilligen AHV zuzulassen. Der Bundesrat schlug deshalb vor, bereits jetzt die Beitrittsmöglichkeit im Sinn seiner Vorschläge zur Revision der freiwilligen AHV (siehe unten) einzuschränken. Danach soll ein Beitritt künftig nur noch bei Wohnsitz in einem Staat möglich sein, mit dem die Schweiz kein Sozialversicherungsabkommen abgeschlossen hat. Ausserdem muss die betreffende Person zuvor mindestens fünf Jahre obligatorisch in der AHV versichert gewesen sein. Beitreten könnten schweizerische und ausländische Staatsangehörige.
Die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV können als beitragsunabhängige Sonderleistungen der öffentlichen Hand von der Auslandszahlung ausgenommen werden. Dafür entstehen im Inland neue Verpflichtungen, deren Kosten auf jährlich 11 Mio Fr. geschätzt werden. EU-Staatsangehörige haben inskünftig unter denselben Voraussetzungen wie schweizerische Bürgerinnen und Bürger Anspruch auf EL. Die bisher verlangte zehnjährige Mindestwohndauer entfällt. Für allfällige Karenzfristen bei kantonalen Zusatzergänzungsleistungen und AHV/IV-Beihilfen müssen Wohnzeiten in einem EU-Staat angerechnet werden. Bei den Hilflosenentschädigungen beantragte der Bundesrat eine Herauslösung aus der eigentlichen Versicherung und eine ausschliessliche Übernahme durch die öffentliche Hand, um so den Export dieser Leistungen ebenfalls auszuschliessen.
Im Rahmen der beruflichen Vorsorge ergeben sich durch die bilateralen Verträge nur geringfügige Veränderungen, da nur die Minimalvorsorge gemäss BVG von der Koordination tangiert ist. Nach Ablauf einer fünfjährigen Übergangsfrist können Barauszahlungen der Austrittsleistung gleich wie für Schweizer Bürgerinnen und Bürger nur noch erfolgen, wenn damit eine Aufgabe der Erwerbstätigkeit verbunden ist. Ist dies nicht der Fall, wird das BVG-Guthaben bei einem beruflichen Wechsel ins Ausland an den neuen Wohnsitzstaat überwiesen. Nicht berührt vom Abkommen ist die Wohneigentumsförderung mit Mitteln der beruflichen Vorsorge.
Die bedeutendsten Neuerungen im Sozialversicherungsbereich treten bei der Krankenversicherung ein. Hier wurde bereits im Personenverkehrsabkommen eine Präzisierung vorgenommen, da – anders als in den meisten europäischen Staaten – in der Schweiz die Versicherungspflicht nicht an eine Erwerbstätigkeit, sondern an den Wohnsitz geknüpft ist. Deshalb musste ausdrücklich gesagt werden, dass alle ausländischen Personen, die aufgrund ihrer Erwerbssituation der sozialen Sicherheit in der Schweiz zugeordnet sind, auch der hiesigen Krankenversicherung unterstellt werden müssen. Dies gilt – unter Wahrung des Prinzips der Individualversicherung mit Kopfprämien – auch für die in einem EU-Staat lebenden nichterwerbstätigen Familienangehörigen. Alle diese Personen kommen – wenn sie in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen leben – ebenfalls in den Genuss von Prämienverbilligungen.
Im Bereich der Arbeitslosenversicherung bestanden bisher lediglich mit den Nachbarstaaten Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien bilaterale Abkommen. Die grundsätzliche Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer war zwar im geltenden Arbeitslosenversicherungsgesetz (AVIG) gewährleistet, doch konnten Kurzaufenthalter und Saisonniers auf Grund aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen ihre Ansprüche nur bedingt geltend machen. Die Koordinationsregeln der EU zwingen die Schweiz, nach der Annahme der bilateralen Verträge drei Grundsätze zu erfüllen: Das Beschäftigungslandprinzip bedeutet, dass der Anspruch auf Leistungen der ALV in jenem Staat besteht, in welchem der Arbeitnehmer zuletzt angestellt war; die Zusammenrechnung der Beitragszeiten stellt sicher, dass alle in einem EU-Land geleisteten Beschäftigungen für die Berechnung des Anspruchs berücksichtigt werden; die Bestimmungen zum Export von Leistungen ermöglichen es schliesslich einem arbeitslosen Schweizer oder EU-Bürger, in einem anderen Land eine Arbeit zu suchen und sich die Arbeitslosenentschädigung während maximal drei Monaten nachschicken zu lassen. In Anbetracht der relativ hohen Zahl von befristeten Arbeitsverhältnissen ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – 1997 hatten rund 90 000 EU-Staatsangehörige einen unterjährigen Arbeitsvertrag in der Schweiz – wurde eine siebenjährige Übergangsregelung ausgehandelt. Diese sieht vor, dass die Schweiz in diesem Zeitraum bei Arbeitnehmern mit unterjährigen Arbeitsverhältnissen das Prinzip der Zusammenrechnung nicht anwenden muss. Damit haben Kurzaufenthalter nur dann Anspruch auf Leistungen, wenn sie die sechsmonatige Mindestbeitragszeit nach schweizerischem Recht erfüllen. Im Gegenzug erstattet die Schweiz während der Übergangsfrist weiterhin den Wohnsitzstaaten die auf den Löhnen der Grenzgänger erhobenen Beiträge sowie neu diejenigen der Kurzaufenthalter mit einem Arbeitsverhältnis von weniger als sechs Monaten [7].
Die meisten dieser Gesetzesanpassungen wurden vom Parlament praktisch diskussionslos gutgeheissen, so etwa der Übergang der Hilflosenentschädigung von einem teilweisen Versicherungsanspruch zu einer ausschliesslichen Leistung der öffentlichen Hand. Dennoch wurden zu Detailfragen der einzelnen Versicherungszweige Minderheitsanträge oder weitergehende Vorstösse eingereicht. Am meisten zu reden gab die Frage, ob die Einschränkung der freiwilligen AHV bereits hier (und in welchem Umfang) oder erst in der laufenden Revision vorgenommen werden sollte. Im Ständerat setzte sich eine von Brunner (sp, GE) angeführte Minderheit aus allen Parteien dafür ein, die Frage auf dem ordentlichen Gesetzgebungsweg anzugehen. Die Mehrheit stimmte hingegen grundsätzlich für den Vorschlag des Bundesrates, beschränkte den Zugang zur freiwilligen Versicherung aber auf Staatsangehörige der Schweiz und der EU-Staaten. Damit wird das Revisionsverfahren nicht präjudiziert, aber sichergestellt, dass nicht eine Vielzahl von Personen aus dem EU-Raum in die Versicherung aufgenommen werden muss, wenn das Freizügigkeitsabkommen vor Abschluss der Revision in Kraft treten sollte. Der Nationalrat übernahm die Lösung des Ständerates. Er wollte der Revision nicht vorgreifen und lehnte deshalb einen Minderheitsantrag aus den Reihen der FDP und der SVP ab, wonach sich schweizerische Staatsangehörige in EU-Staaten weiter sollten versichern können, wenn sie eine unzureichende Versicherungsdeckung haben [8].
Im Bereich der Beruflichen Vorsorge wurde vor allem darüber diskutiert, ob die allgemeine Verweiserbestimmung genüge, wie sie der Bundesrat vorgeschlagen hatte, oder ob diese durch einen Passus ersetzt werden sollte, der die wesentlichen Auswirkungen des Koordinationsrechts klar umschreibt. In der ersten Lesung des Geschäfts stimmte der Ständerat gegen einen Minderheitsantrag Spoerry (fdp, ZH) dem Bundesrat zu. Auf Antrag seiner Kommissionsmehrheit sprach sich der Nationalrat dann aber für die vom Ständerat verworfene Lösung aus [9]. In der Differenzbereinigung einigten sich die Räte darauf, vorderhand die Verweiserbestimmung anzunehmen. Mit einem Postulat des Ständerates und einer von beiden Kammern überwiesenen Motion wurde der Bundesrat aber beauftragt, im Rahmen der 1. BVG-Revision die notwendigen Anpassungen an die EU-Koordinationsvorschriften vorzunehmen [10].
Bei den Prämienverbilligungen im Rahmen der Krankenversicherung hatte der Bundesrat vorgeschlagen, die Durchführung in Anlehnung an das heutige System den Kantonen zu übertragen. Beide Kammern beschlossen die Streichung dieser Bestimmung. Sie hiessen an deren Stelle je eine Motion ihrer vorberatenden Kommission gut. Der Ständerat beauftragte damit den Bundesrat, in Zusammenarbeit mit den Kantonen ein zweckmässiges Verfahren für die Durchführung der Abkommensverpflichtungen vorzusehen. Der Nationalrat verlangte, dass der Bund den Auftrag erhält, die Prämienverbilligungen für im Ausland wohnhafte Versicherte nach einem zweckmässigen und einheitlichen System zu vollziehen. Abgelehnt wurde hingegen mit 92 zu 62 Stimmen ein Minderheitsantrag Bortoluzzi (svp, ZH), der die Einrichtung eines Prämienverbilligungsgesetzes ausserhalb des Krankenversicherungsgesetzes forderte und dadurch die Verbilligungsgewährung auf Personen mit Wohnsitz in der Schweiz beschränken wollte. Im Rahmen der Differenzbereinigung schloss sich der Nationalrat der ständerätlichen Motion an, und die kleine Kammer überwies ihrerseits die Motion des Nationalrates in Form eines Postulates beider Räte [11].
Bei der Arbeitslosenversicherung verlangte im Nationalrat eine Kommissionminderheit Baader (svp, BL) mit einer Motion die Herabsetzung des Taggeldhöchstanspruchs sowie eine Verlängerung der Mindestbeitragszeit zum Bezug von Leistungen, da die finanziellen Auswirkungen des freien Personenverkehrs in diesem Bereich nicht absehbar seien. Die Mehrheit des Rates folgte jedoch dem Antrag des Bundesrates, diese Fragen im Zusammenhang mit der nächsten ordentlichen Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes zu behandeln, welche für das Jahr 2000 vorgesehen ist, und nahm die Motion lediglich als Postulat an [12].
Mit einem überwiesenen Postulat Wyss (svp, BE) beauftragte der Nationalrat die Landesregierung, die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der bilateralen Verträge auf die Sozialversicherungen zusammen mit den finanziellen, demographischen, aussenpolitischen und durchführungstechnischen Aspekten der AHV/IV-Leistungsexporte ins Ausland vertieft zu untersuchen und zu beurteilen, dem Parlament Bericht zu erstatten und ihm Vorschläge für gesetzgeberische sowie staatsvertragliche Anpassungen zu unterbreiten [13].
 
[7] BBl, 1999, S. 6128 ff. Siehe Lit. Cueni, Lit. Doleschal, Lit. Frechlin und Lit. Frick. Zur Neuregelung der Familienzulagen siehe unten, Teil I, 7d (Familienpolitik).7
[8] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 647 ff.; Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1584 ff.8
[9] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 652 f. und 654; Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1588 ff.9
[10] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 721 ff. und 836 f.; Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1753 ff. und 1912. Motion: Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1912 f.; Amtl. Bull. StR, 1999, S. 966 ff. Postulat: Amtl. Bull. StR, 1999, S. 837.10
[11] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 655 ff. und 724 ff.; Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1592 ff. und 1756. Die Kommission des NR hatte ursprünglich ebenfalls eine Motion eingereicht, welche die Regelung der Prämienverbilligung in einem separaten Gesetz verlangte, zog sie aber nach den Erläuterungen des BR zurück (Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1596 f.).11
[12] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2175 ff. In der Schlussabstimmung wurde das Bundesgesetz zur Umsetzung des Abkommens mit der EU über die Personenfreizügigkeit vom NR mit 160:29 Stimmen und vom StR einstimmig angenommen (Amtl. Bull. StR, 1999, S. 992; Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2302); BBl, 1999, S. 6464 ff.12
[13] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1321 f.13