Année politique Suisse 1999 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Invalidenversicherung (IV)
Gegen den 1. Teil der 4. IV-Revision war – insbesondere wegen der geplanten Abschaffung der Viertelsrenten – erfolgreich das Referendum ergriffen worden [22]. Die Abstimmungskampagne verlief vor allem auf Befürworterseite immer leiser, je näher der Urnengang kam. Selbst bürgerliche Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die sich im Vorjahr noch vehement für die Abschaffung der Viertelsrenten als Lackmus-Test für den Sparwillen im Sozialversicherungsbereich eingesetzt hatten, liessen sich kaum mehr verlauten. Auch Bundespräsidentin Dreifuss, deren Departement auf Drängen der Bürgerlichen die Vorlage ausgearbeitet hatte, verzichtete darauf, diese vor den Medien zu vertreten. Offiziell wurde dies damit begründet, dass die Departementsvorsteherin von zwei anderen Abstimmungsthemen (Mutterschaftsversicherung und Heroinabgabe) stark gefordert sei. In Wirklichkeit hatte niemand mehr Lust, sich für eine Massnahme einzusetzen, die angesichts ihres geringen Spareffekts (20 Mio Fr. im 8,5 Mia-Budget der IV) in der breiten Öffentlichkeit auf steigenden Widerstand stiess. Dass auch die im Parlament mehrheitlich zustimmende FDP, die schliesslich Stimmfreigabe beschloss, nicht mehr einig war, zeigte die Zahl der von der Mutterpartei abweichenden Kantonalsektionen, die in 16 Kantonen für Ablehnung votierten; das gleiche galt auch für die Junge FDP. In der SVP wurde die nationale Ja-Parole von 8 Kantonalparteien unterlaufen; die Junge SVP sprach sich ebenfalls für ein Nein aus. Insbesondere das Argument der Behindertenorganisationen, die Abschaffung der Viertelsrenten werde fast unausweichlich zur Gewährung von mehr Halbrenten – und dadurch zu massiven Mehrkosten – führen, vermochte die Bevölkerung offenbar zu überzeugen, ebenso wie die Aussage, damit werde die berufliche Integration der Behinderten (eines der Hauptziele der IV) weiter erschwert. Angesichts der ziemlich gesicherten Ausgangslage verzichteten auch die Behindertenorganisationen zusehends darauf, bedeutende Finanzmittel in die Kampagne zu investieren [23].
Das Ergebnis der Volksabstimmung vom 13. Juni liess an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Im Verhältnis 7 zu 3 wurde die Abschaffung der Viertelsrente (und damit der gesamte 1. Teil der 4. IV-Revision) klar abgelehnt. Dabei bestand Einigkeit quer durch alle Kantone und alle Landesteile. Abweichungen vom Durchschnitt überstiegen nirgends mehr als 6%. Am deutlichsten war der Widerstand im Kanton Jura (77,6% Nein), gefolgt von Glarus (74,3%). Die schwächste Ablehnung erfolgte in der Waadt (63,4%) und im Tessin (65%). Bundespräsidentin Dreifuss liess am Abstimmungsabend offen, ob die unbestrittenen Massnahmen (Streichung der Zusatzrente für Eheleute, Transfer von 2,2 Mia Fr. von der überschüssigen EO in die defizitäre IV) in einer separaten Vorlage oder im Rahmen des 2. Teils der 4. IVG-Revision neu vorgelegt werden [24].
Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung
Abstimmung vom 13. Juni 1999

Beteiligung: 45,6%
Ja: 620 797 (30,3%)
Nein: 1 428 986 (69,7%)
Parolen:
Ja: SVP (8*), FPS; Vorort, Arbeitgeber, SGV.
Nein: SP, CVP, Grüne, EVP, SD, LPS (1*), LdU, PdA, EDU, CSP; SGB, CNG, Behindertenorganisationen
FDP (21*); SBV

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die Vox-Analyse dieser Abstimmung kam denn auch zum Schluss, dass von den untersuchten sozio-demographischen Merkmalen keines einen entscheidenden Einfluss auf das Abstimmungsverhalten hatte. Am ehesten gab noch die Sachkenntnis sowie – in geringerem Ausmass – die Einordnung auf der Links/Rechts-Achse den Ausschlag, indem sich die Sympathisanten der linken Parteien noch etwas stärker für die Beibehaltung aussprachen. Am meisten verfangen hatte offenbar das Argument, dass die Abschaffung der Viertelsrenten keine echten Einsparungen gebracht hätte [25].
In der Frühjahrssession behandelte der Ständerat das Stabilisierungsprogramm, welches unter anderem Sparvorschläge im Sozialversicherungsbereich vorsah. Dabei beschloss er einstimmig, auf die schon im Nationalrat umstrittene Schaffung regionaliserter, vom Bund beaufsichtigter ärztlicher Dienste zur Beurteilung von IV-Fällen vorläufig zu verzichten. Diese hätten dazu dienen sollen, die Kriterien für die Gewährung einer IV-Rente gesamtschweizerisch zu vereinheitlichen. Die grosse Kammer schloss sich dieser Sichtweise mit 73 zu 70 Stimmen an [26].
 
[22] Siehe SPJ 1998, S. 262.22
[23] Presse vom 17.4.-12.6.99.23
[24] BBl, 1999, S. 7293 ff.; Presse vom 14.6.99.24
[25] Hanspeter Kriesi et al., Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 13. Juni 1999, Vox Nr. 68, Genf 1999.25
[26] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 17 ff. (Eintretensdebatte) und 63; Amtl. Bull. NR, 1999, S. 226 f. und 233 ff. Siehe SPJ 1998, S. 262.26