Année politique Suisse 1999 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Mutterschaftsversicherung (MSV)
Wie bereits bei der Behandlung im Parlament angedroht, wurde im Januar von der Jungen SVP mit Unterstützung bürgerlicher Politikerinnen sowie der Präsidenten von Arbeitgeber- und Gewerbeverband das Referendum gegen die vom Parlament im Vorjahr verabschiedete Mutterschaftsversicherung ergriffen. Hauptargument der Gegnerinnen und Gegner der Vorlage war, mit den Beschlüssen des Parlaments sei ein neuer Sozialversicherungszweig „auf Pump“ eingeführt worden, der mit dem Verzicht auf eine vorgängige Mehrwertsteuerabstimmung am Volk „vorbeigemogelt“ werden solle und erst noch nach dem Gieskannenprinzip funktioniere [57].
Bereits mehrere Wochen bevor das Referendum am 9. April fristgerecht mit 70 320 gültigen Unterschriften eingereicht wurde, verlautete, der Bundesrat habe (wenn auch noch informell) beschlossen, die Volksabstimmung über die MSV auf den 13. Juni anzusetzen. Begründet wurde dies damit, dass wegen der eidgenössischen Wahlen für den Herbst kein Abstimmungstermin vorgesehen war; eine Verschiebung auf das Jahr 2000 lehnte der Bundesrat ab, weil der über 50jährige Verfassungsauftrag keinen weiteren Aufschub dulde. Dieses recht unschweizerische Tempo gab zu der Vermutung Anlass, die Befürworter der MSV in der Landesregierung wollten die Abstimmung unbedingt noch im Wahljahr durchpauken, weil damit wiederkandidierende Parlamentarierinnen und Parlamentarier besser auf ihrem Ja des Vorjahres behaftet werden könnten. Je nach Standpunkt wurde dieses Vorgehen des Bundesrates als geschickter Schachzug oder aber als politische „Zwängerei“ eingestuft. Jedenfalls entstand dadurch die ungewohnte Situation, dass das Referendumskomitee mitten in der Phase der Unterschriftensammlung bereits ihr Argumentarium für das "Bundesbüchlein" abliefern musste. Zudem blieben nur ganz wenige Tage, um die eingegangenen Unterschriften auszuzählen und zu beglaubigen, da der Bundesrat spätestens zwei Monate vor einem eidgenössischen Urnengang bekannt geben muss, welche Geschäfte zur Abstimmung gelangen [58].
Das Vorpreschen des Bundesrates führte auch dazu, dass die Abstimmungskampagne unmittelbar nach Einreichung des Referendums einsetzte. Dabei waren die Meinungen bei den meisten Parteien, Gruppierungen und Vereinigungen von Anfang an klar. Die CVP, das links-grüne Lager sowie die EVP und der LdU waren ebenso dezidiert dafür wie die SVP und die rechts-bürgerlichen Parteien dagegen. Nicht recht entscheiden mochte sich angesichts des Widerstands aus der Wirtschaft die FDP, deren Abgeordnete im Vorjahr noch mehrheitlich der MSV zugestimmt hatten. Neben der nicht definitiv geregelten Finanzierung kritisierten die Gegner vor allem die Grundleistungen für alle werdenden Mütter, welche den eigentlichen Versicherungsgedanken sprengten. Am meisten fielen bei den Freisinnigen jedoch die Unterschiede zwischen den Landesteilen ins Gewicht. Während sich in der Deutschschweiz zusehends Opposition gegen die Vorlage breit machte, stellten sich die welschen Kantonalsektionen nach wie vor geschlossen dahinter. An der Delegiertenversammlung in Brig schwang die ablehnende Haltung der Deutschschweizer nach einer hitzigen Debatte mit 85 zu 73 Stimmen obenaus, und die Partei beschloss die Nein-Parole. Da in der Zwischenzeit jedoch in Arbeitgeberkreisen die Nein-Front bröckelte, weil immer mehr Firmenverantwortliche realisierten, dass sie mit einer MSV finanziell eher entlastet würden, schien die Ausgangslage am Vorabend der Abstimmung noch völlig offen [59].
Um so mehr erstaunte das klare Verdikt des Stimmvolkes. 61% sprachen sich an der Urne gegen die Mutterschaftsversicherung aus. Nach drei Anläufen (1984, 1987 und 1999) bleibt die Schweiz damit das einzige Land Europas, welches den Frauen keine gesetzlichen Leistungen bei Mutterschaft zuerkennt. Einmal mehr Anlass zu staatspolitischen Bedenken gab der tiefe Graben zwischen der deutschen und der lateinischen Schweiz. Alle Deutschschweizer Kantone lehnten die Vorlage ab, zum Teil mit Mehrheiten von über 80%. Am deutlichsten wurde die MSV in Appenzell-Innerrhoden mit rund 86% Nein-Stimmen verworfen, gefolgt von den Innerschweizer Kantonen mit annähernd 80%, also den eigentlichen Stammlanden der CVP, die sich neben der SP am stärksten für die Vorlage engagiert und die umstrittenen Grundleistungen an alle (erwerbstätigen oder nichterwerbstätigen) Mütter besonders forciert hatte. Am wenigsten ablehnend verhielten sich Kantone Basel-Stadt (43,5% Ja), Zürich (37,2%) und Bern (36,2%). Ganz anders präsentierte sich das Bild in der Romandie, wo praktisch alle Parteien die Ja-Parole ausgegeben hatten. Das Spitzenresultat erzielte die Vorlage im Kanton Genf mit 74,3% Zustimmung, gefolgt von Jura (70,3%), Waadt (64,0%) und Neuenburg (62,8%). Das Tessin hiess die Vorlage mit 62,6% gut, Freiburg mit 54,1%. Das Wallis lehnte die MSV knapp mit 49% ab, wobei das deutschsprachige Oberwallis entscheidend zur Verwerfung beitrug [60].
Bundesgesetz über die Mutterschaftsversicherung
Abstimmung vom 13. Juni 1999

Beteiligung: 45,9%
Ja: 822 458 (39%)
Nein: 1 286 824 (61%)
Parolen:
Ja: CVP (1*), SP, Grüne, LPS (*1), EVP, LdU, PdA; SGB, CNG, VSA, SBV, FDP-Frauen Schweiz.
Nein: FDP (7*), SVP (2*), FPS, SD (*1), EDU; Vorort, Arbeitgeber, SGV.

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die Vox-Analyse zu diesem Urnengang wies nach, dass bei dieser Abstimmung nicht nur der Gegensatz Deutschschweiz-Romandie seine Rolle gespielt hatte, sondern alle sozio-demographischen Merkmale, welche in den letzten Jahren bei kontroversen Abstimmungen beobachtet werden konnten. Deutlich war der Unterschied unter den Generationen: Die Vorlage wurde von den Jüngeren (bis 40 Jahre), welche von der MSV hätten profitieren können, mehrheitlich angenommen (zwischen 57% und 66%), während ihr die Älteren, welche für ihre Alterssicherung letztlich auf die Unterstützung der kommenden Generationen angewiesen sind, die Solidarität verweigerten (32% bis 42%). Genau so deutlich war einmal mehr der Unterschied zwischen Stadt und Land: rund 57% der stimmberechtigten Bevölkerung in den grossen Städten nahm die Vorlage an gegenüber nur 38%in ländlichen Gebieten. Ebenso stark fiel die Ausbildung ins Gewicht: Personen mit reiner Grundschulausbildung sagten nur zu 35% Ja, jene mit Universitätsabschluss zu rund 60%. Einmal mehr war auch die Parteisympathie ausschlaggebend: 85% der Personen, die der SP nahe stehen, stimmten der Vorlage zu, gegenüber 42% bei der CVP, 38% bei der FDP und 4% bei der SVP [61].
Bereits in den ersten Tagen nach der Ablehnung wurde im Parlament ein ganzer Strauss von Vorlagen eingereicht, welche die gesetzlichen Lücken beim Mutterschutz schliessen wollten oder anderweitige Entlastungen der Familien mit Kindern anregten. Der Bundesrat beantwortete alle diese Vorstösse am 20. September, wobei er einige in Postulatsform annehmen, andere hingegen ablehnen wollte. Er gab seinem Bedauern über die Verwerfung in der Volksabstimmung Ausdruck und erklärte, er halte am Ziel fest, die heutige, sozialpolitisch ungenügende Regelung des Erwerbsausfalles bei Mutterschaft gesetzgeberisch zu korrigieren. Er beabsichtige deshalb, dem Parlament zu Beginn der nächsten Legislaturperiode einen entsprechenden Lösungsvorschlag vorzulegen, wobei prioritär die Situation der unselbstständig erwerbstätigen Frauen berücksichtigt werden müsse [62].
Im Ständerat verlangte eine Motion Spoerry (fdp, ZH), durch eine Revision des Obligationenrechtes sei sicherzustellen, dass erwerbstätige Frauen in jedem Fall für die acht Wochen Pause nach der Geburt, die vom Arbeitsgesetz verlangt werden, einen Lohn erhalten. Der Bundesrat war bereit, den Vorstoss als Postulat entgegen zu nehmen. Auf einen Ordnungsantrag Cottier (cvp, FR) hin wurde er jedoch zur näheren Prüfung an die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit überwiesen [63].
Zu steuerlichen Erleichterungen für Familien, welche gewissermassen als „Ersatz“ für die MSV verlangt wurden, siehe unten, Teil I, 7d (Familienpolitik).
 
[57] Presse vom 8.1.99. Siehe SPJ 1998, S. 269 ff. Prominent im Referendumskomitee vertreten waren die Nationalrätinnen Egerszegy (fdp, AG), Fehr (svp, ZH), Florio (lp, VD) sowie deren Vorgängerin Sandoz. Praktisch gleichzeitig konstituierte sich ein bürgerliches Pro-Komitee, dem auf FDP-Seite – neben der Zürcherin Nabholz – mehrheitlich Parlamentarierinnen aus der Romandie angehörten. Aus der CVP engagierten sich vor allem Dormann (LU) und Zapfl (ZH). Die SVP war hier lediglich mit Gadient (GR) vertreten; immerhin erhielt sie Unterstützung von der ehemaligen SVP-Generalsekretärin Welti (Presse vom 19.1.99).57
[58] BBl, 1999, S. 3011 f.; LT, 16.2.99; Presse vom 10.4.99.58
[59] Presse vom 10.4.-12.6.99. Offiziell wurde die Abstimmungskampagne Ende April mit einer gemeinsamen Pressekonferenz von BR Dreifuss und BR Villiger lanciert; Villiger stellte sich „nicht bedingungslos“ hinter die Vorlage, bezeichnete sie aber als „wirtschaftsverträglich und vernünftig“ (24.4.99). Zur DV der FDP und deren Auswirkungen auf die Partei siehe unten, Teil IIIa, FDP.59
[60] BBl, 1999, S. 7293 ff.; Presse vom 14.6. und 15.6.99.60
[61] Hanspeter Kriesi et al., Analyse der eidg. Abstimmung vom 13. Juni 1999, Vox Nr. 68, Genf 1999.61
[62] Stellvertretend für die Beantwortung all dieser Vorstösse siehe Amtl. Bull. StR, 1999, S. 919; Presse vom 21.9.99. Vgl. auch die Stellungnahme des BR zu zwei Interpellationen Roth (sp, GE) und Rennwald (sp, JU) in Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2260 ff. Für eine Übersicht über die eingereichten Vorstösse siehe CHSS, 1999, S. 220 und 278.62
[63] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 919 ff. Der Vorschlag Spoerry, der im NR von Egerszegy (fdp, AG) aufgenommen wurde, entspricht den Vorstellungen des Arbeitgeberverbandes (Verhandl. B.vers., 1999, V, Teil II, S. 97 f.; Presse vom 23.7.99).63