Année politique Suisse 1999 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Ausländerpolitik
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Gesellschaftliche Integration
Im Dezember legte die Eidgenössische Ausländerkommission (EKA) dem Bundesrat ihren Integrationsbericht vor. Sie kam zum Schluss, die Gefahr von Konflikten zwischen Ausländern und Schweizern habe in den letzten Jahren zugenommen. Die indifferente Haltung von Behörden, Parteien und einflussreichen Gesellschaftskreisen bezüglich der Integration habe auf beiden Seiten Verunsicherung, Orientierungsschwierigkeiten, aber auch Resignation geschaffen. Es sei „eine Art Vakuum“ in dieser staatspolitisch wichtigen Frage entstanden. Die Schweiz sei de facto ein Einwanderungsland; weil sie es aber nie habe sein wollen und nach wie vor der Wille zu einer grundlegenden Neuorientierung fehle, lebten selbst langjährig anwesende Ausländerinnen und Ausländern noch immer in einem integrationshemmenden Provisorium. Die EKA listete einen weitreichenden Katalog von Massnahmen auf. Dazu gehören eine rasche Neuauflage der erleichterten Einbürgerung, mehr Sprachunterricht, die gezielte Förderung des Miteinanders vor allem in der Freizeit und der Ausbau der Kommunikation, wozu nicht zuletzt die von den Ausländern mit einem Fünftel der Gebühren mitfinanzierte SRG verpflichtet sei. Vor allem aber brauche es die strikte Trennung der Integrationsfrage von der Asylproblematik – und dazu überzeugende Signale aller Kreise für die Integration [17].
Mit 121 zu 27 Stimmen überwies der Nationalrat eine im Vorjahr vom Ständerat einstimmig angenommene Motion Simmen (cvp, SO), welche den Bundesrat beauftragt, die Expertenkommission für die Totalrevision des Anag anzuweisen, die rechtlichen Möglichkeiten des Bundes zur Förderung der Sprachschulung für in der Schweiz dauerhaft zugelassene Ausländer zu schaffen [18].
Seit Jahren wird vor allem in der Deutschschweiz immer wieder gefordert, getrennte Schulklassen für deutsch- und fremdsprachige Kinder einzuführen, da viele Schweizer Eltern befürchten, ihre Kinder würden bei einer hohen Ausländerpräsenz im Unterricht zu wenig gefördert. Mit einer Interpellation Bühlmann (gp, LU) darauf angesprochen, lehnte der Bundesrat alle Massnahmen, die auf eine Diskriminierung einer Kategorie von Schülern hinauslaufen, ganz entschieden ab. Eine schulische Benachteiligung aufgrund der Herkunft, der Rasse oder der Sprache würde dem verfassungsmässigen Grundsatz der Rechtsgleichheit und dem Diskriminierungsverbot sowie dem internationalen Übereinkommen über die Rechte der Kinder und der Rassismusstrafnorm widersprechen. Nach Ansicht des Bundesrates schliesst dies vorübergehende Massnahmen nicht aus (befristeter Einführungs- und Stützunterricht bzw. vorläufiger Besuch einer Vorbereitungs- und Übergangsklasse). Dabei dürfe aber niemals vergessen werden, dass die Schule nicht nur einen Ausbildungsauftrag habe, sondern auch einen Beitrag zur Integration von Kindern unterschiedlicher sozialer, kultureller und geographischer Herkunft leisten müsse [19].
Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) sprach sich ebenfalls ganz vehement gegen eine längerdauernde schulische Trennung von einheimischen und ausländischen Kindern aus, da diese diskriminierend sei, die Ghettobildung fördere und zu einer Apartheid-Gesellschaft führe. Getrennter Schulunterricht würde die Integration der ausländischen Kinder erschweren und damit längerfristig auch das friedliche Zusammenleben von Schweizern und Ausländern gefährden. Die EKR betonte, sie nehme die Besorgnis vieler Eltern ernst, die Bildungschancen ihrer Kinder würden in Schulklassen mit hohem Ausländeranteil beeinträchtigt. Doch gehe es nicht an, deswegen eine willkürlich definierte Gruppe von Schulkindern zu benachteiligen; anzustreben seien vielmehr Verbesserungen für alle. Dazu kann nach EKR auch ein pädagogisch begründeter und befristet getrennter Unterricht gehören, so etwa die Integrationsklassen, in denen ausländische Kinder intensiven Unterricht in der Landessprache erhalten, um dann nach spätestens einem Jahr in die Regelklasse zu wechseln [20].
Die Erziehungsdirektorenkonferenz der Ostschweizer Kantone, auf deren Gebiet die Forderung nach getrennten Klassen besonders häufig gestellt wird, will ebenfalls keine Separierung von deutsch- und fremdsprachigen Schulkindern. Durch eine dauerhafte Trennung würden die Integrationsprobleme auf die Zeit nach der Volksschule verschoben. Hingegen sei die vorübergehende Differenzierung im Deutschunterricht ein effektiv gangbarer Weg zur Vorbereitung der schulischen Integration [21]. Sie hielt sich dabei an die bereits mehrfach von der gesamtschweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) vorgebrachte Empfehlung, wonach alle in der Schweiz lebenden fremdsprachigen Kinder in die Regelschule einzugliedern und jegliche Diskriminierungen zu vermeiden seien. Die Integration müsse aber immer auch das Recht des Kindes respektieren, gleichzeitig die Sprache und Kultur des Heimatlandes zu pflegen. Aus diesem Grund gibt es seit mehreren Jahren in verschiedenen Kantonen Lehrkräfte für heimatliche Sprache und Kultur (sogenannte „HSK-Lehrer“). Dahinter steht der Gedanke, dass durch das Bewusstwerden der eigenen Wurzeln die Identitätsfindung unterstützt und damit die Integration erst möglich wird. Diese Schulung versteht sich je nachdem auch als Beitrag zur Rückkehrhilfe. So wurden in mehreren Kantonen und Gemeinden der Schweiz vorläufig aufgenommene kosovarische Kinder in separaten Schulklassen auf Albanisch unterrichtet, gleichzeitig aber auch mit den Grundzügen der im Umfeld gesprochenen Landesprache vertraut gemacht. Damit soll vermieden werden, dass sie bei ihrer Rückkehr in die Heimat noch durch zusätzliche schulische Defizite belastet werden; bei einem dauerndem Aufenthalt in der Schweiz würde diese differenzierte Schulung den Übergang in eine Regelklasse erleichtern [22].
Als erste Stadt in der Schweiz gab sich Bern ein Leitbild zur Integrationspolitik. Die Experten, die an den Vorarbeiten beteiligt waren, empfahlen in erster Linie eine bessere Durchmischung der ausländischen und der schweizerischen Bevölkerung auf allen Stufen des öffentlichen Lebens (Arbeitsmarkt, Wohnquartiere, öffentliche Institutionen). Das Leitbild zählt 42 konkrete Massnahmen in den Bereichen Sprache und Bildung, Arbeit, Wohnen, Gesundheit, Gleichstellung, Information und Kommunikation, Selbstorganisation, Einbürgerung, politische Mitwirkung sowie übergeordnetes Recht und Zusammenarbeit auf [23].
Nur gerade drei Wochen später trat die Stadt Zürich mit einem Integrationsbericht an die Öffentlichkeit. Ihre „Massnahmen für ein gutes Zusammenleben in unserer Stadt“ betreffen die Bereiche Spracherwerb, Schule, Arbeit, Zusammenleben im Quartier und Sicherheit. Geplant sind zudem eine Sensibilisierungskampagne und ein Fonds für Integrationsideen. Den Neuzuzügern sollen vermehrt Sprach- und Integrationskurse angeboten werden, wobei Zürich beim Bund ein Obligatorium beantragen will [24]. Zwei Tage danach stellte Basel-Stadt ein ähnliches Integrationsleitbild vor [25].
Ein besonderes Problem stellt sich bezüglich der ersten grossen Einwanderungswelle der 50er und 60er Jahre; als junge, kräftige, aber meist unqualifizierte Männer und Frauen übernahmen diese – vorwiegend aus Italien stammenden – Immigranten damals die körperlich harten und schlecht bezahlten Arbeiten, welche die Schweizer mieden. Heute sind diese Personen im Pensionsalter, haben häufig gesundheitliche Probleme und beziehen deutlich tiefere Renten als die Schweizer, da sie nicht nur geringere Einkommen hatten, sondern häufig auch Beitragslücken aufweisen. Ursprünglich hatte man damit gerechnet, dass diese Menschen im Alter in ihre Heimat zurückkehren würden. Nun zeigte sich, dass gewisse Eigenheiten des schweizerischen Sozialversicherungssystems diese Rückkehr mehr behindern denn ermutigen. Der Anspruch auf Ergänzungsleistungen (EL) beispielsweise erlischt mit der Ausreise und kann bei einer späteren neuerlichen Einreise nicht wieder aktiviert werden. Der Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV), Otto Piller, regte deshalb an, dass eine einmalige zehnjährige Wohnsitzdauer generell für den Bezug von EL ausreichen sollte. Eine weitere Schwierigkeit besteht in der obligatorischen Krankengrundversicherung. Bei einer definitiven Ausreise fällt deren Schutz dahin; der Beitritt zu einer ausländischen Kasse ist aber nicht in jedem Fall ohne weiteres möglich. Hier wird das bilaterale Abkommen mit der EU über den freien Personenverkehr eine Erleichterung bringen, da es allen Betroffenen ermöglichen wird, auch im Ausland bei einer schweizerischen Kasse versichert zu bleiben. In seinem Wunsch nach mehr Solidarität mit diesen Menschen erinnerte der BSV-Direktor daran, dass die Lage der AHV ohne die ausländischen Versicherten um einiges schwieriger wäre, als sie ohnehin ist. Heute sind die ausländischen Arbeitskräfte Netto-Zahler: sie kommen für einen Viertel der Beiträge auf, beziehen aber aufgrund ihrer Altersstruktur nur 13% der Leistungen. Erst in rund 20 Jahren werden sich Beitragszahlung und Leistungsbezug annähern [26].
 
[17] Presse vom 28.3.00. In der Fragestunde der Wintersession erklärte BR Metzler, für 2000 seien noch keine Gelder für die 1998 ins teilrevidierte Anag aufgenommenen Integrationsmassnahmen des Bundes vorgesehen. Die dafür notwendige Verordnung will der BR auf den 1.10.00 in Kraft setzen (Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2480). Vgl. SPJ 1998, S. 280. Zu einer Petition des Verbandes der kantonalen und kommunalen Integrationsorganisationen, die ein eigentliches, im EDI anzusiedelndes Bundesamt für Integration verlangte, siehe Presse vom 5.2.99.17
[18] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1224 f.18
[19] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1339 ff. Die deutliche Stellungnahme des BR änderte nichts an der Tatsache, dass die Städte Luzern und Rorschach (SG) in der Primarschule entsprechend dem Stand der Deutschkenntnisse getrennte Schulklassen einführten (TA, 5.6.99; SGT, 9.6.99; NLZ, 8.7.99). Der Regierungsrat des Kantons Bern lehnte getrennte Klassen in jedem Fall ab; auch der Grosse Rat verwarf ein entsprechendes Ansinnen eines Vertreters der SD mit 99 zu 62 Stimmen (Bund, 26.5. und 1.7.99).19
[20] Presse vom 24.8.99.20
[21] NZZ, 10.3.99. Der Kanton Zürich hat zur Integration ausländischer Kinder bereits 1996 ein spezielles Programm gestartet, das auf flexible Varianten der inneren Differenzierung setzt, die sich durch Unterricht in Niveaugruppen und eine höhere Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Stufen auszeichnet (NZZ, 21.8.99).21
[22] BaZ, 31.5.99. Mit einem Postulat verlangte die SP-Fraktion, der Bund solle die Kantone bei der Einschulung von Flüchtlingskindern durch die Schaffung mobiler pädagogischer Teams unterstützen. Der BR verwies auf die Kompetenzen der Kantone in diesem Bereich und beantragte erfolgreich Ablehnung des Vorstosses (Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2194 f.). Siehe dazu auch eine Interpellation Weber (sp, AG): ibid., S. 2220.22
[23] BaZ und Bund, 18.8.99.23
[24] NZZ und TA, 9.9.99.24
[25] BaZ, 11.9.99.25
[26] Presse vom 30.9.99; NZZ, 1.10.99.26