Année politique Suisse 1999 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Flüchtlingspolitik
Im Vorjahr hatte das Parlament sowohl das
totalrevidierte Asylgesetz verabschiedet als auch Teile davon durch einen
dringlichen Bundesbeschluss bereits auf den 1. Juli 1998 in Kraft gesetzt. Gegen beide Vorlagen war noch vor Ende Jahr vor allem von Flüchtlingshilfswerken erfolgreich das
Referendum ergriffen worden. Die Opposition richtete sich in erster Linie gegen den dringlichen Bundesbeschluss mit seinen verschärften Massnahmen gegenüber den „Papierlosen“ und den „Illegalen“. Gegen das Gesetz als solches war – da es die „Missbrauchsbestimmungen“ ebenfalls enthält – zwar ebenfalls das Referendum ergriffen worden, doch war dabei dessen Errungenschaft, die Einführung eines Status für Gewaltflüchtlinge zu deren vorläufiger Aufnahme gewürdigt und deshalb von den Flüchtlingsorganisationen Stimmfreigabe beschlossen worden
[36].
Die konkrete Ausgestaltung des Gesetzes in den Verordnungen führte aber wieder zu einem Umdenken. Besonders ins Gewicht fielen für die Hilfswerke die in der Praxis vorgesehenen Verschärfungen des Asylrechts, welche über die Missbrauchsmassnahmen hinausgehen. Bisher war es so, dass sich die bei der Befragung eines Asylbewerbers anwesenden Vertreter eines Hilfswerks vorher mit dem Dossier des Betroffenen vertraut machen konnten. Neu ist eine vorgängige Akteneinsicht nicht mehr vorgesehen. Die Hilfswerke erachteten damit ihre im Gesetz verankerte Aufgabe, als Beobachter eine faire Befragung zu garantieren, grundsätzlich in Frage gestellt. Zudem lehnten sie auch die vorgesehene „Drittstaatenregelung“ ab, welche ihnen wie eine Vorwegnahme der neuesten SVP-Forderungen erschien (siehe oben). Nach altem Recht wurde ein Aufenthalt in einem „sicheren“ Drittstaat – und dazu zählen alle Nachbarländer der Schweiz – bis zu einer Dauer von 20 Tagen zugelassen, ohne dass ein Asylsuchender deswegen vom Verfahren in der Schweiz ausgeschlossen wurde. Nach neuem Verordnungsrecht muss nun diese Durchreise „ohne Verzug“ stattfinden, was je nach Distanz zu tolerierten Aufenthaltszeiten von weniger als 24 Stunden führen kann; eine Beschwerdemöglichkeit gegen die Wegweisung in den EU-Staat, von dem aus die Einreise erfolgte, wurde ebenfalls nicht mehr erwähnt. Die Vertreter der Hilfswerke kritisierten, selbst die EU habe nicht gewagt, so weit zu gehen; gegen Entscheide aufgrund der Dubliner Konvention (Erstasylabkommen) gebe es nach wie vor eine Rekursmöglichkeit. Die Schweiz dagegen wolle eine derartige Verschärfung ohne jede Diskussion im Parlament auf dem Verordnungsweg einführen.
Aus diesen Gründen
beschlossen die Hilfswerke, das neue Asylgesetz ebenfalls aktiv zu bekämpfen
[37]. Auch die
SP und der
Schweizerische
Gewerkschaftsbund, welche die Referenden nur sehr zurückhaltend unterstützt hatten, gaben nun klar die Nein-Parole zu beiden Vorlagen aus
[38]. Ihnen schlossen sich die beiden grossen
Landeskirchen an. Sie vertraten die Ansicht, Gesetz und Verordnungsentwürfe zeugten von einem Geist der Abschreckung, der angesichts der Flüchtlingsnot in Europa der humanitären Schweiz unwürdig sei und tatsächlich Verfolgten den Zugang zum Asylverfahren massiv erschwere
[39]. Das
Ja-Komitee, dem rund 80 bürgerliche Mitglieder der eidgenössischen Räte angehörten, unterstrich demgegenüber die
Verbesserungen bei der Schutzgewährung für Gewaltflüchtlinge sowie die verstärkte
Rückkehrhilfe [40]. Angesichts der Tatsache, dass mit der Mutterschaftsversicherung ein weitaus umstritteneres Thema im Vordergrund stand, verlief die
Abstimmungskampagne eher ruhig [41].
Der Urnengang vom 13. Juni war ein klarer Erfolg für die Landesregierung und die Parlamentsmehrheit.
Beide Vorlagen wurden mit über 70% der Stimmen angenommen, die dringlichen Massnahmen sogar noch etwas deutlicher als das eigentliche Bundesgesetz. Alle Kantone hiessen beide Vorlagen gut, die
Deutschschweiz allerdings weit stärker als die Romandie. Am höchsten war die Zustimmung in den Kantonen Thurgau, St. Gallen und Zug, am schwächsten im Kanton Jura, der aber auch noch klar über 50% Ja-Stimmen einlegte. Entsprechend erfreut zeigte sich Bundesrätin Metzler am Abend des Abstimmungssonntags. Sie wertete das Ergebnis als
Bekenntnis der Bevölkerung zu einem „Mittelweg“ in der Asylpolitik – „grosszügige Schutzgewährung für Menschen in Not bei gleichzeitiger Bekämpfung der gängisten Missbräuche“ – und als Zeichen der Offenheit und des Konsenses. Ähnlich sahen dies CVP und FDP, welche das doppelte Ja als Signal dafür werteten, die humanitäre Tradition der Schweiz aufrecht zu erhalten und möglichst viel Hilfe vor Ort zu leisten, im Inland aber klare Grenzen zu setzen. Die enttäuschte SP nahm sich vor, inskünftig in erster Linie eine pragmatische Asyldebatte zu führen
[42].
Asylgesetzrevision
Abstimmung vom 13. Juni 1999
Beteiligung: 45,6%
Ja: 1 443 137 (70,6%)
Nein: 601 389 (29,4%)
Parolen:
– Ja: CVP, FDP, SVP, EVP (*2), FPS, LdU, LP; Vorort, Arbeitgeber, SGV, CNG, VSA, SBV.
– Nein: SP, GP, PdA, EDU; SGB, Schweiz. Bischofskonferenz, Evang. Kirchenbund; Flüchtlingshilfswerke, Jugendverbände.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Dringlicher Bundesbeschluss über Massnahmen im Asylbereich
Abstimmung vom 13. Juni 1999
Beteiligung: 45,6%
Ja: 1 447 984 (70,8%)
Nein: 595 908 (29,2%)
Parolen:
– Ja: CVP, FDP, SVP, LdU (1*), LP, FPS, SD; Vorort, Arbeitgeber, SGV, VSA, SBV.
– Nein: SP, GP, EVP, PdA, EDU; SGB, CNG, Schweiz. Bischofskonferenz, Evang. Kirchenbund; Flüchtlingshilfswerke, Jugendverbände.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die
Vox-Analyse dieser Abstimmung zeigte, dass die beiden Vorlagen von allen sozialen Gruppen gutgeheissen wurden. Allerdings kam auch hier einmal mehr ein deutlicher
Unterschied nach Sprachregionen zum Tragen. Die Annahmerate lag in der Romandie um rund 20% tiefer als in der Deutschschweiz. Der Tessin positionierte sich in der Mitte. Die Unterschiede zwischen Stadt und (stärker zustimmendem) Land bestanden, waren letztlich aber irrelevant. Beim
Einfluss der politischen Faktoren konnten hingegen bedeutende Abweichungen vom Durchschnitt festgestellt werden. So bejahten nur 40 bis 45% der Personen, die der SP nahe stehen, eine Verschärfung der Asylpolitik. Bei den Sympathisanten der Grünen fiel dieser Anteil sogar auf einen Drittel. Die Parteien in der Mitte und am rechten Flügel verzeichneten eine noch grössere Gefolgschaft bei ihren Anhängern: 71% (CVP) bis 94% (SVP) folgten hier den Parteiparolen; die FDP lag mit mehr als 86% näher bei der SVP als bei der CVP
[43].
Seit 1992 entscheidet die
Asylrekurskommission (ARK) über Beschwerden abgewiesener Asylsuchender. Nachdem sie in den ersten Jahren der Kritik aus dem linken Lager ausgesetzt war, geriet sie – nach einigen Jahren der relativen Ruhe – nun plötzlich ins
Kreuzfeuer der bürgerlichen Kreise. Bereits im Oktober des Vorjahres hatte FDP-Präsident Steinegger moniert, gewisse Entscheidungen der ARK seien „schlicht und einfach unverständlich“, weshalb er den Bundesrat auffordere, mit Weisungen auf das Gremium Einfluss zu nehmen. Unterstützt von 82 Mitunterzeichnern doppelte Nationalrat Fehr (svp, ZH) mit einer Interpellation nach, in der er die „unverantwortlichen Entscheide“ der ARK anprangerte. Seiner Ansicht nach leistet die „large und realitätsfremde“ Praxis der ARK dem Asylmissbrauch Vorschub, da damit signalisiert werde, dass man in der Schweiz mit einer Kaskade von Einsprachen ein Asylverfahren beliebig in die Länge ziehen könne. Der Bundesrat wies in seiner Antwort darauf hin, dass die ARK nur die Aufgaben wahrnimmt, welche ihr im Bundesbeschluss von 1990 über das Asylverfahren zugeteilt wurden. Er sah deshalb keine Veranlassung für Massnahmen, soweit ihm solche aufgrund der Gewaltenteilung und seiner ausschliesslich administrativen Aufsichtskompetenz überhaupt zur Verfügung stünden, insbesondere auch, weil in den letzten Jahren die ARK rund 90% der Wegweisungsentscheide des BFF stützte
[44].
[36] Siehe
SPJ 1998, S. 285 f. Wäre das Gesetz angenommen, der dringliche Bundesbeschluss aber verworfen worden, so hätten die verschärften Massnahmen wieder aus dem Gesetz gestrichen werden müssen.36
[37] Presse vom 7.4.99.37
[38] Presse vom 26.4.99. Der CNG blieb dagegen bei seiner Haltung, nur den dringlichen Bundesbeschluss abzulehnen.38
[39] Presse vom 11.5.99.39
[40] Presse vom 28.4.99.40
[41] Presse vom 25.4. bis 12.6.99.41
[42]
BBl, 1999, S. 7293 ff.; Presse vom 14.6.99.42
[43] Hanspeter Kriesi et al.,
Analyse der eidg. Abstimmung vom 13. Juni 1999, VOX Nr. 68, Genève 1999.43
[44]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1381 ff. und 2500 f.;
TA, 9.4.99. Siehe
SPJ 1998, S. 287. Im Berichtsjahr hiess die ARK 7,4% der Beschwerden gut; in dieser Zahl nicht enthalten sind Teilgutheissungen und Kassationen (Presse vom 28.4.00). Zusammen mit dem totalrevidierten Asylgesetz trat am 1. Oktober auch die neue ARK-Verordnung in Kraft, welche bestimmt, dass alle Urteile materieller Natur nur noch von einem dreiköpfigen Richtergremium gefällt werden dürfen; damit entfallen die oft kritisierten einzelrichterlichen Entscheide (
NZZ, 12.8.99).44
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