Année politique Suisse 1999 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen / Kirchen
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Vereinnahmende Bewegungen
Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates stellte einen Bericht zur Sektenproblematik in der Schweiz vor. Dieser verlangt vom Bundesrat, in diesem Bereich endlich eine unmissverständliche politische Haltung zum Ausdruck zu bringen, eine gesamtschweizerische und konfessionell unabhängige Informations- und Beratungsstelle einzurichten sowie mit Informationskampagnen über die vereinnahmenden Tendenzen solcher Gruppierungen aufzuklären. Nach Ansicht der Kommission lässt sich das Desinteresse der Behörden nicht länger mit dem Verweis auf die Religionsfreiheit rechtfertigen. Der Staat sei hier sehr wohl gefordert, denn die Indoktrinierung durch derartige Bewegungen stelle ein gesellschaftliches Problem dar, dem nicht einfach mit Gleichgültigkeit begegnet werden könne, vor allem da die Schweiz neben England und den Niederlanden das Land sei, in dem proportional zur Bevölkerung am meisten vereinnahmende Bewegungen bestehen.
Gravierende Gesetzeslücken machte die GPK nicht aus, meinte aber, es könnten beim Konsumentenschutz (Täuschung und Übervorteilung), der kantonalen Gesundheitsgesetze (Schutz vor dubiosen Heilverfahren) sowie beim Kinderschutz (wenn die Eltern in Sekten aktiv sind) noch Handlungsmöglichkeiten bestehen; insbesondere dachte die Kommission an gesetzliche Leitplanken, wie sie bei Kleinkrediten oder beim Leasinggeschäft angewendet werden.
Die GPK befasste sich bei ihrer Untersuchung bewusst nicht mit einzelnen Gruppen, sondern mit den Methoden der Vereinnahmung, der Abhängigkeit der Anhänger, den totalitären Strukturen sowie den finanziellen, arbeitsrechtlichen, sozialen und seelischen Schäden, die Anhänger von vereinnahmenden Bewegungen erleiden können. Namentlich nannte die Kommission die geistige Entmündigung und die Entfremdung von den Familien. Die GPK erhofft sich von ihrer Arbeit vor allem auch einen Aufklärungseffekt. Wie Kommissionspräsident Tschäppät (sp, BE) bei der Präsentation des Berichtes ausführte, soll der Bundesrat mit einer offenen Informationspolitik über Sekten ein klares Signal in der Bevölkerung setzen, den Betroffenen Mut geben, sich öffentlich zu äussern und damit entscheidend zur Prävention beitragen. Gerade in diesem Graubereich zwischen persönlicher Freiheit und Gesetzesverletzung sei eine klare Haltung des Staates von grosser Bedeutung [33].
An der Universität Lausanne wurde Ende Jahr ein „Observatoire des religions“ eröffnet, welches sich vor allem mit der Erfassung von Sektenaktivitäten in der Schweiz beschäftigen wird. Die Idee für dieses Institut geht auf den kollektiven Selbstmord von Anhängern des sogenannten „Sonnentemplerordens“ 1994 und 1995 zurück. Damals hatte alt Nationalrat Zisyadis (pda, VD) vergeblich die Schaffung eines Bundesamtes für Religionsfragen verlangt [34].
Die gegen die Aktivitäten von „Scientology“ zielende, 1998 erlassene neue Regelung im Übertretungsstrafrecht des Kantons Basel-Stadt, wonach es auf öffentlichem Grund verboten ist, Passanten unlauter anzuwerben, hielt vor Bundesgericht stand. Ob „Scientology“ als Religionsgemeinschaft zu betrachten ist, wurde von den Lausanner Richtern allerdings nicht abschliessend beurteilt [35].
 
[33] BBl, 1999, S. 9884 ff.; Presse vom 3.7.99.33
[34] 24h und Lib., 10.12.99. Vgl. SPJ 1995, S. 298 und 1997, S. 331.34
[35] Presse vom 1.7.99; NZZ, 5.1.99. Siehe SPJ 1997, S. 331 f.35