Année politique Suisse 2000 : Allgemeine Chronik
Überblick
Das auch in einer längerfristigen Perspektive gesehen wichtigste Ereignis des politischen Jahres 2000 war die Zustimmung des Volkes zu den sieben bilateralen sektoriellen Abkommen mit der Europäischen Union am 21. Mai. Diese Volksabstimmung war nötig geworden, nachdem die Schweizer Demokraten und die Lega dei Ticinesi zu Jahresbeginn das Referendum eingereicht hatten. Die Beteiligung fiel mit 48% zwar überdurchschnittlich aus, blieb aber deutlich unter den bei anderen wichtigen aussenpolitischen Entscheidungen (UNO, EWR) erreichten Werten. Die als Gesamtpaket vorgelegten Verträge mit der EU wurden im Verhältnis zwei zu eins gutgeheissen. Nur gerade im Tessin, das sich vor allem vor einer uneingeschränkten Öffnung des Arbeitsmarkts fürchtete, und im Kanton Schwyz resultierten Nein-Mehrheiten. Im Vergleich zur EWR-Abstimmung von 1992 stieg der Ja-Anteil in der Deutschschweiz um rund 20 Prozentpunkte, während er in der französischsprachigen Schweiz mit knapp 80% etwa gleich blieb. Die Auseinandersetzung im Vorfeld der Abstimmung hatte bei weitem nicht die Intensität der Kampagne vor dem EWR-Entscheid erreicht. Mitverantwortlich dafür war zweifellos auch der Verzicht des wichtigsten Protagonisten der Integrationsgegner, SVP-Nationalrat Blocher, auf ein Engagement gegen die Abkommen. Blocher hatte sich zwar im Parlament gegen die Verträge ausgesprochen. Von einer aktiven Beteiligung an der Abstimmungskampagne sah er aber mit den Argumenten ab, dass er dem Bundesrat nicht zutraue, in Neuverhandlungen mehr herauszuholen, und dass eine Ratifizierung die Neutralität und Unabhängigkeit der Schweiz nicht gefährden würde. Günstig für die klare Zustimmung zu den Verträgen hatte sich zweifellos auch ausgewirkt, dass von Seiten der Befürworter – im Gegensatz zur seinerzeitigen EWR-Kampagne – auf jeglichen Konnex mit einem späteren EU-Beitritt verzichtet wurde. Dies erlaubte es auch einer starken Minderheit der Beitrittsgegner, der Vorlage zuzustimmen.
Die sieben bilateralen Abkommen, welche bis zu Ende des Berichtsjahres noch nicht von allen EU-Staaten ratifiziert worden waren, werden das Verhältnis der Schweiz zur EU normalisieren. Darüber hinaus werden sie es der Schweiz ermöglichen, in wichtigen Bereichen, wie etwa der Freizügigkeit im Personenverkehr, Erfahrungen mit den EU-Prinzipien zu sammeln. Diese Erfahrungen könnten mithelfen, bei den Bürgerinnen und Bürgern Ängste vor den Folgen eines EU-Beitritts abzubauen. Auf der anderen Seite liessen die Interessenvertreter der Wirtschaft auch erkennen, dass mit diesen bilateralen Abkommen wesentliche Standortnachteile der Schweizer Wirtschaft behoben worden sind, und deshalb für sie die Beitrittsfrage an Aktualität verloren hat. Diese abwartende Haltung setzte sich ebenfalls im Parlament anlässlich der Behandlung einer Volksinitiative für die sofortige Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen durch. Das Parlament lehnte nicht nur diese Initiative ab, sondern verzichtete auch auf die vom Bundesrat und der politischen Linken im Sinne eines indirekten Gegenvorschlags gewünschte Festschreibung des grundsätzlichen Ziels eines EU-Beitritts.
Neben der Gutheissung der bilateralen Verträge mit der EU nahmen die Bürgerinnen und Bürger im Berichtsjahr in Volksabstimmungen weitere wichtige Weichenstellungen für die schweizerische Politik vor. Mit einer Ausnahme (zwei Vorlagen zur Energiepolitik) folgten sie dabei den Empfehlungen und Beschlüssen des Bundesrats und der Parlamentsmehrheit. Zu erheblichen Problemen beim Vollzug des bilateralen Abkommens mit der EU über die Personenfreizügigkeit hätte die Zustimmung zu einer Volksinitiative für einen maximalen Anteil der Ausländer an der Wohnbevölkerung von 18% geführt. Aber auch dieser fünfte Vorstoss (seit 1970) für eine Reduktion oder Begrenzung des Ausländeranteils fand bei den Stimmberechtigten keine Mehrheit.
Die Wirtschaft boomte wie seit langem nicht mehr. Das reale Wachstum des BIP nahm gegenüber dem Vorjahr noch zu und erreichte 3,4%. Die Zahl der Beschäftigten stieg nicht nur im Dienstleistungsbereich, sondern auch im Industriesektor an, und die Arbeitslosenquote sank gegen Jahresende unter 2%. Die gute Wirtschaftslage wirkte sich auch auf die Steuereinnahmen aus. Anstelle des budgetierten Fehlbetrags von 1,8 Mia Fr. schloss die Staatsrechnung des Bundes für das Jahr 2000 mit einem Überschuss von 4,6 Mia Fr. ab. Während die Vorarbeiten für einen neuen Finanzausgleich weitergeführt wurden, legte das Volk sein Veto zu einer ökologischen Steuerreform ein. Am 24. September verwarfen die Stimmberechtigten mit einer Nein-Mehrheit von rund 55% einen Verfassungsartikel, der die heutigen Lohnabgaben zur Finanzierung der Sozialwerke teilweise durch eine Steuer auf nicht erneuerbaren Energieträgern ersetzen wollte.
Am 26. November entschieden die Stimmberechtigten über zwei Volksinitiativen für ein flexibles Rentenalter ab 62 Jahren ohne Rentenkürzungen. Die beiden Initiativen waren vom Schweizerischen Kaufmännischen Verein und von der Grünen Partei als Reaktion auf die Anhebung des ordentlichen Rentenalters der Frauen von 62 auf 64 Jahre im Rahmen der 10. AHV-Revision eingereicht worden. Keines der beiden Volksbegehren fand eine Mehrheit. Dasjenige der Grünen erzielte mit einem Ja-Stimmenanteil von 46,0% immerhin einen Achtungserfolg; es wurde zudem von sämtlichen Kantonen der Romandie und dem Tessin angenommen. Sowohl die Gewinner als auch die Verlierer werteten das Ergebnis als Signal für eine Flexibilisierung des Rentenalters. Allerdings waren sich die Kontrahenten weiterhin nicht einig über den Weg: die bürgerlichen Parteien verlangten nach wie vor eine kostenneutrale Lösung, das links-grüne Lager ein Modell ohne Rentenkürzungen. Der Bundesrat hatte in seiner im Februar veröffentlichten Botschaft zur 11. AHV-Revision einen Mittelweg vorgeschlagen: mit den rund 400 Mio Fr. Einsparungen infolge der Angleichung des ordentlichen Frauenrentenalters an dasjenige der Männer (65) sollen die Kürzungssätze beim vorzeitigem Rentenbezug für Personen mit niedrigem Einkommen gemildert werden.
Im Oktober gab Bundespräsident Adolf Ogi seinen Rücktritt aus der Regierung auf Ende Jahr bekannt. Für seine spontane und volksnahe Art und sein Kommunikationstalent, aber auch für sein Wirken um eine Verbesserung des Bildes der Schweiz im Ausland wurde er in Rückblicken allgemein gelobt. Die Wahl eines Nachfolgers bot die Gelegenheit zu einem erneuten Versuch, die seit 1959 bestehende Konkordanzregierung (charakterisiert durch den Einbezug aller grossen Parteien in die Regierungsverantwortung) aus den Angeln zu heben. Nachdem 1999 die SVP erfolglos versucht hatte, die beiden anderen bürgerlichen Bundesratsparteien vom Vorteil einer rein bürgerlichen Exekutive ohne SP-Beteiligung zu überzeugen, war diesmal die Linke an der Reihe. Die Grünen nominierten ihre Fraktionschefin als Gegenkandidatin, und die SP bemühte sich, die FDP und die CVP von der Opportunität eines Hinauswurfs der SVP aus der Regierung zu überzeugen. Ihr Angebot, zu diesem Zweck eine freisinnige Kandidatur zu unterstützen, fand lediglich bei einigen Freisinnigen aus der Westschweiz Resonanz. Die Fraktionen der FDP und der CVP waren hingegen nicht interessiert. Sie machten jedoch von Anfang an klar, dass sie niemanden in den Bundesrat wählen würden, der in der Aussenpolitik die integrationsfeindliche Linie von Nationalrat Blocher und seiner Zürcher SVP vertritt. Gemäss diesem Kriterium waren die beiden offiziellen Kandidaten der SVP, die Zürcher Regierungsrätin Rita Fuhrer und der Thurgauer Regierungsrat Roland Eberle, für die FDP und die CVP durchaus akzeptabel. Gewählt wurde am 6. Dezember von der Vereinigten Bundesversammlung allerdings nicht Fuhrer oder Eberle, sondern der von seiner Kantonalsektion aufgestellte Berner SVP-Ständerat Samuel Schmid. Die Führungsspitze der SVP gab sich zwar etwas verärgert über das Scheitern ihrer beiden offiziellen Kandidaturen, sie erklärte aber, auch mit Schmid, der von Ogi das VBS übernahm, als SVP-Vertreter im Bundesrat leben zu können.
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H.H.