Année politique Suisse 2000 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
print
Allgemeine Fragen
Die 1997 zum zweiten Mal vom Bundesamt für Statistik durchgeführte Schweizerische Gesundheitsbefragung zeigte erneut das Bild einer sich grossmehrheitlich gesund fühlenden Bevölkerung. Verglichen mit 1992 konnten jedoch bedeutende Veränderungen ausgemacht werden. Verbessert haben sich das Ernährungsbewusstein und der Umgang mit Alkohol. Risikoreicheres Verhalten wurde hingegen beim Tabak- und Medikamentenkonsum sowie beim Mangel an körperlichen Aktivitäten festgestellt [1].
Eine vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Basel durchgeführte Studie in der Schweiz, in Frankreich und Österreich belegte, dass rund 6% der Todesfälle in diesen Ländern auf die Luftverschmutzung durch atmosphärische Schadstoffe zurückzuführen sind, wobei die Hälfte auf den motorisierten Strassenverkehr entfällt. Die Forschungsarbeit war Teil eines Auftrags der europäischen Abteilung der Weltgesundheitsorganisation WHO, die damit eine neue Verkehrpolitik in Europa initiieren möchte [2].
Aus den Mitteln des 1998 auf allen Krankenkassenprämien eingeführten „Gesundheitsrappens“ startete die Stiftung für Gesundheitsförderung unter dem Titel „Feel your power“ ihre erste Kampagne, die sich über fünf Jahre erstreckt. Hauptanliegen ist die Stressbewältigung, unter der vor allem die 30- bis 44Jährigen – und im besonderen die Frauen mit Doppelbelastung Beruf und Familie leiden. In Inseraten, TV-Spots und im Internet soll diesem Personenkreis gesunde Ernährung und genügend Bewegung schmackhaft gemacht werden [3].
In der ersten Jahreshälfte diskutierte der Bundesrat mehrmals die heikle Frage der Sterbehilfe bei unheilbar kranken Personen. Er befürwortete eine gesetzliche Regelung der heute weitgehend akzeptierten passiven und indirekten aktiven Sterbehilfe; nicht gerüttelt werden soll hingegen an den Strafbestimmungen über die direkte aktive Hilfe zum Suizid, wie sie etwa Sterbehilfeorganisationen anbieten. Seiner Auffassung nach sind als Alternative die Möglichkeiten der Palliativmedizin (Linderung von Leiden mit allen verfügbaren Mitteln) besser auszuschöpfen und die Ausbildung der Medizinalpersonen in diesem Bereich zu forcieren. Konkrete Vorschläge machte der Bundesrat aber keine. Er beantragte dem Parlament, das Problem der Sterbehilfe in allgemeiner Weise zu diskutieren und das weitere Vorgehen festzulegen [4].
Eine Motion Rossini (sp, VS), die eine bessere finanzielle Abgeltung der medizinischen, psychologischen, spirituellen und sozialen Palliativbehandlung durch die Krankenkassen verlangte, wurde auf Antrag des Bundesrates lediglich als Postulat angenommen. Dieser stellte sich auf den Standpunkt, der Umfang der Leistungspflicht sei im KVG grundsätzlich ausreichend umschrieben, weshalb sich kein neuer Gesetzesartikel aufdränge [5].
Angesichts der zunehmenden Digitalisierung verschiedenster Lebensbereiche ist die vernetzte und flächendeckende Einführung von elektronischen Patientendossiers in naher Zukunft absehbar. Um die Chancen und Risiken von computerbasierten Patientenkarteien abzuwägen, gab der Schweizerische Wissenschafts- und Technologierat eine Studie in Auftrag. Für deren Autoren liegen die Vorteile digitalisierter Krankengeschichten auf der Hand. Wenn an einem einzigen Ort alle relevanten medizinischen Informationen zu einem Patienten gespeichert sind, kann ein behandelnder Arzt schnell und einfach auf diese zugreifen; gerade bei Notfällen oder Allergien gegen bestimmte Wirkstoffe kann dies unter Umständen lebensrettend sein. Computerbasierte Patientendossiers weisen aber auch eine Reihe von grundsätzlichen Gefahren auf, insbesondere jene des „gläsernen Patienten“. Dem Datenschutz kommt deshalb nach Meinung der Autoren zentrale Bedeutung zu. Massnahmen, um Unbefugten (etwa Versicherern oder Arbeitgebern) den Zugriff auf die Personendaten zu verunmöglichen, seien unerlässlich. Auch Ärzte und andere Medizinalpersonen sollten nur in jene Informationen Einblick nehmen können, die für die jeweilige Behandlung beziehungsweise Betreuung des Patienten oder der Patientin notwendig sind. Zudem sei das Einverständnis der Betroffenen zwingend. Bei der Präsentation der Studie verwies der eidgenössische Datenschutzbeauftragte darauf, dass Datenbanken mit individuellen medizinischen Informationen laut Datenschutzgesetz einer eigenen gesetzlichen Grundlage bedürften, die erst noch zu schaffen wäre [6]. Diese Feststellung nahm der Nationalrat zum Anlass, den Bundesrat mit einem Postulat seiner Rechtskommission einzuladen, in Zusammenarbeit mit dem Datenschutzbeauftragten dem Parlament einen umfassenden, alle Sozialversicherungsbereiche beleuchtenden Bericht über Regelungslücken im medizinischen Datenschutz vorzulegen [7].
In den letzten Jahren waren in der Presse immer wieder Berichte erschienen über die Zwangssterilisation geistig behinderter Menschen nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland und in anderen europäischen Ländern seither, sondern auch in der Schweiz. Nationalrätin von Felten (gp, BS) hatte kurz vor ihrem Ausscheiden aus dem Parlament eine parlamentarische Initiative eingereicht, welche für Personen, die gegen ihren Willen oder unter psychischem Druck sterilisiert worden sind, eine angemessene Entschädigung verlangt. Auf Antrag der Rechtskommission wurde der Initiative einstimmig Folge gegeben. Die Kommission will zudem prüfen, ob und unter welchen Voraussetzungen Sterilisationen ohne Einwilligung der Betroffenen rechtmässig sind [8].
Ausgehend von Vergleichszahlen aus den USA schätzte das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV), dass in den Akutspitälern der Schweiz jährlich bis zu 3000 Todesfälle die Folge von medizinischen Fehlleistungen sind. Diese Zahlenextrapolation blieb von der Ärzteschaft nicht unwidersprochen, die höchstens 250 Fälle pro Jahr gelten lassen wollte [9]. Der Berner SP-Nationalrat und Anästhesiearzt Günter hatte bereits 1998 mit einer Motion die Einsetzung einer Spezialkommission für die Erfassung von medizinischen Zwischenfällen gefordert; auf Antrag des Bundesrates, der mögliche Massnahmen näher prüfen wollte, war der Vorstoss lediglich als Postulat angenommen worden. Günter doppelte umgehend nach und verlangte mit einer weiteren Motion zumindest eine Sammelstelle für Gutachten zu medizinischen Kunstfehlern. Der Bundesrat erachtete den Auftrag von 1998 als ausreichend und beantragte erfolgreich Ablehnung. Unterstützung fand er dabei bei Günters Waadtländer Arztkollegen Guisan (fdp), der vor einer in Emotionalität ausartenden Debatte über Ärztefehler warnte [10].
In einer Motion verlangte der Tessiner SP-Nationalrat und Onkologe Cavalli, der Bund solle die Informationssysteme zur Erfassung der zur Morbidität bei Krebs verfügbaren Daten finanziell unterstützen. Der Bundesrat anerkannte, dass es sinnvoll wäre, ein zentrales Krebsregister zu führen, insbesondere um die Wirksamkeit von Prävention und Therapien besser abschätzen zu können. Er erklärte sich deshalb bereit zu prüfen, wie der Ausbau der bestehenden Krebsregister zu einer gesamtschweizerischen Statistik am kostengünstigsten organisiert und finanziert werden kann. Auf seinen Antrag wurde die Motion als Postulat überwiesen [11].
Mangels verfassungsrechtlicher Grundlage lehnte der Ständerat eine vom Nationalrat im Vorjahr angenommene Motion Jaquet (pda, VD) ab, die eine Definition der Patientenrechte und deren einheitliche Umsetzung in den Kantonen verlangte, obgleich er das Anliegen als durchaus berechtigt erachtete. Bundesrätin Dreifuss versprach, zu dieser Frage einen Bericht erstellen zu lassen. Für ein koordiniertes Vorgehen möchte sie in erster Linie auf die interkantonale Zusammenarbeit setzen [12].
Der Nationalrat überwies ein Postulat Genner (gp, ZH), das den Bundesrat bittet, ein Konzept vorzulegen, in dem er aufzeigt, wie ein umfassendes Beratungsangebot für Fragen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit bereitgestellt werden kann. Genner machte geltend, die mit dem Gesetz von 1981 über die Schwangerschaftsberatungsstellen geschaffenen kantonalen Institutionen seien häufig den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen (Veränderungen in den psychosozialen Bedürfnissen der Paare, Aidsprävention, Zustrom von Migrantinnen aus anderen Kulturkreisen) nicht mehr gewachsen und müssten neu ausgerichtet werden [13].
 
[1] Presse vom 1.7.00. Siehe SPJ 1996, S. 235.1
[2] Lib., 29.9.00.2
[3] NZZ, 29.3.00. Weitere Informationen unter www. FeelYourPower.ch. Zu den volkswirtschaftlichen Kosten von Stress am Arbeitsplatz, die auf über 4 Mia Fr. pro Jahr geschätzt werden, siehe Presse vom 13.9.00.3
[4] Presse vom 27.1. und 6.7.00; BaZ, 4.8.00. Siehe SPJ 1999, S. 243 f. NR Cavalli (sp, TI) reichte eine pa.Iv. für eine Aufhebung der Strafbestimmungen zur aktiven Sterbehilfe ein (Geschäft 00.441; LT, 5.10.00). Kontroverse Reaktionen löste der Entscheid der Stadtzürcher Regierung aus, ab 2001 in den städtischen Alters- und Pflegeheimen die auf aktive Sterbehilfe ausgerichteten Handlungen von Sterbehilfeorganisationen zuzulassen (Presse vom 27.10.00; NZZ, 23.12.00; NLZ, 28.12.00). Zur Bedeutung, die der BR der Palliativmedizin beimisst, siehe auch AB NR, 2000, I, Beilagen, S. 260 f.4
[5] AB NR, 2000, S. 1192.5
[6] Anne Eckhardt (Leit.), Computerbasierte Patientendossiers – Chancen und Risiken, Bern 2000; Presse vom 11.5.00; SHZ, 24.5.00. Siehe auch die Ausführungen des BR in AB NR, 2000, S. 844 und 1605. Vgl. SPJ 1997, S. 242 f.6
[7] AB NR, 2000, S. 649. Zum Datenschutz im Sozialversicherungsbereich siehe unten, Teil I, 7c (Allgemeine Fragen).7
[8] AB NR, 2000, S. 438. Die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften, deren Richtlinien von 1981 derartige Eingriffe als unzulässig bezeichnet, hielt es für angezeigt, ihre Praxis zu überdenken. Danach soll eine Sterilisation auch dann möglich sein, wenn eine Person deren Tragweite nicht ganz versteht. Die SAMW begründete ihre neuen Richtlinien mit dem Recht auf gelebte Sexualität. Der Eingriff soll dann erlaubt sein, wenn alle reversiblen Formen der Schwangerschaftsverhütung nicht möglich sind (Presse vom 25.2.00; TA, 7.3.00; BaZ, 25.3.00; Bund, 5.6.00; WoZ, 17.8.00).8
[9] SGT, 4.4.00; Presse vom 23.9.00; NLZ, 18.12.00. Eine an mehreren Universitätsspitälern durchgeführte Studie zeigte, dass 11,6% der Patienten sich im Spital einen Infekt zuziehen, der nichts mit ihrer eigentlichen Krankheit zu tun hat. Damit liegt die Schweiz im europäischen Durchschnitt (NZZ, 24.6.00).9
[10] AB NR, 2000, S. 374 ff. Siehe SPJ 1998, S. 236.10
[11] AB NR, 2000, S. 376.11
[12] AB SR, 2000, S. 622. Siehe SPJ 1999, S. 244.12
[13] AB NR, 2000, S. 1602.13