Année politique Suisse 2000 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
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Medizinalpersonen
Mit einer von 105 Abgeordneten aus allen Parteien mitunterzeichneten Motion verlangte Hollenstein (gp, SG), Art. 321 Abs. 1 des Strafgesetzbuches sei so zu ändern, dass alle Angehörigen eines Gesundheitsberufes dem Berufsgeheimnis unterstellt sind. Die Motionärin argumentierte, Art. 321 StGB gehe von der Vorstellung aus, dass nur Ärzte sowie Hebammen und von ihnen überwachte und abhängige Hilfspersonen Zugang zu schützenswerten Patientendaten haben. Diese Annahme treffe heute aber nicht mehr zu, da die Aufgaben in der Gesundheitsversorgung in den letzten Jahren auf zahlreiche Berufsgruppen verteilt worden seien. Als Beispiele nannte sie Physiotherapeuten, Ernährungsberaterinnen und diplomierte Pflegende, die ihre Arbeit häufig nicht unter der direkten Kontrolle eines Arztes ausführen. Da sie nicht dem Berufsgeheimnis unterstellt seien, komme es immer wieder vor, dass ihnen die Ärzteschaft deswegen wichtige Informationen vorenthalte. Der Bundesrat machte geltend, der Schutz der Vertraulichkeit bei der Berufsausübung sei in Art. 35 des Datenschutzgesetzes umfassend geregelt, nicht allerdings das in Art. 321 StGB verankerte Zeugnisverweigerungsrecht. Dieses möchte der Bundesrat in der in Ausarbeitung befindlichen einheitlichen Strafprozessordnung gesamtschweizerisch regeln. Um hier nicht vorzugreifen, wurde auf seinen Antrag die Motion lediglich als Postulat überwiesen [26].
Der Nationalrat zeigte sich gewillt, zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen auch einschneidende Massnahmen zu ergreifen. In der Differenzbereinigung zur 1. Teilrevision des KVG fügte er die Bestimmung ein, dass der Bundesrat während einer Dauer von drei Jahren die Zulassung von Leistungserbringern im ambulanten Bereich (Ärzte und andere Therapeuten) zu Lasten der Krankenversicherung beschränken kann, wobei die Kantone sowie die Verbände der Leistungserbringer und der Versicherer vorher anzuhören sind. Der Rat trug damit dem Umstand Rechnung, dass die Ärztedichte in der Schweiz eine der höchsten der Welt ist und durch die Personenfreizügigkeit für EU-Bürger noch weiter zunehmen wird. Da sich der Gesundheitsmarkt nicht nach Angebot und Nachfrage richtet, resp. die Nachfrage angebotsinduziert ist, lösen mehr Leistungsanbieter fast automatisch mehr Leistungen aus, was zu höheren Kosten führt. Zulassungsbeschränkungen könnten hier regulierend wirken. Die konkrete Ausgestaltung blieb dem Bundesrat überlassen. Vergeblich versuchte eine Minderheit, darunter der Aargauer CVP-Vertreter und Leiter des Paraplegiker-Zentrums Nottwil (LU) Zäch und der Zürcher SVP-Nationalrat Bortoluzzi, die Massnahme abzuwenden. Der Rat stimmte der befristeten Zulassungsbeschränkung mit 124 zu 47 Stimmen zu. Entgegen einem bürgerlichen Minderheitsantrag nahm der Ständerat diese Bestimmung mit 27 zu 4 Stimmen ebenfalls an [27].
Bundesrätin Dreifuss machte sehr rasch Gebrauch von der neuen Kompetenz. Bereits im Juli kündigte sie an, sie wolle mit einer Verordnungsänderung den Kantonen baldmöglichst die Möglichkeit zu einer dreijährigen Zulassungsbeschränkung für Ärzte und andere Leistungserbringer im ambulanten Bereich (Apotheker und Physiotherapeuten) geben; bei genügender Versorgungsdichte könnte sogar ein Zulassungsstopp verfügt werden. Die zügige Umsetzung erfolgte in erster Linie aus Angst vor einer Ärzteschwemme aus dem EU-Raum. Die Schweiz kann nach Inkrafttreten der bilateralen Verträge einreisenden Medizinalpersonen aus der EU zwar die Eröffnung einer eigenen Praxis während zwei Jahren verbieten und während fünf weiteren Jahren eine Inländerbevorzugung geltend machen; dieser Abwehrmechanismus gilt aber nicht für die mehr als 2000 bereits heute in Schweizer Spitälern beschäftigten Ärzte und Ärztinnen aus EU-Staaten [28]. In der Vernehmlassung stiess die „Bedürfnisklausel“ jedoch auf breite Ablehnung. Insbesondere die Kantone wehrten sich dagegen, selber aktiv zu werden und verlangten eine Bundeskompetenz [29].
Im Vorjahr hatte der Nationalrat bei der Beratung der 1. Teilrevision des KVG mit deutlicher Mehrheit einen Antrag angenommen, der eine Aufhebung des Kontrahierungszwangs im ambulanten, tagesstationären und stationären Bereich verlangte, um den Krankenkassen die Möglichkeit zu geben, nicht mehr mit sämtlichen Leistungserbringern Verträge abschliessen zu müssen, sondern diese an Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitskriterien anbinden zu können. Der Ständerat hatte den Vorschlag, da seiner Ansicht nach zu wenig ausgereift, vorläufig abgelehnt. In der Differenzbereinigung entschied der Nationalrat nun, hier nicht weiter im Alleingang vorzuprellen. Um die Idee am Leben zu erhalten, beauftragte er aber den Bundesrat mit einer Motion, eine entsprechende Vorlage auszuarbeiten; mit 142 gegen 4 Stimmen setzte sich dieser zweite Anlauf ganz klar durch, worauf auch der Ständerat einschwenkte und die Motion diskussionslos annahm [30].
Der Bundesrat erarbeitete umgehend ein Vertragsmodell. Entgegen dem Auftrag der Motion sah er die Aufhebung des Kontrahierungszwangs allerdings vorderhand lediglich für den ambulanten Bereich vor. Demnach sollten sich die Versicherer darauf beschränken können, Tarifverträge nur noch mit ausgewählten Ärztinnen und Ärzten abzuschliessen. Andererseits hätten auch die Leistungserbringenden die Zusammenarbeit mit gewissen Versicherungen verweigern können. Diese Änderung hätte keinen Abbau der kassenpflichtigen Leistungen mit sich gebracht, für die Patienten aber die freie Arztwahl eingeschränkt. Die Kostenübernahme in Notfällen wäre bei allen Ärzten und Spitalambulatorien sichergestellt gewesen [31]. In der Vernehmlassung bildeten sich klare Fronten heraus. Während die Versicherer die Aufhebung des Kontrahierungszwangs als geeignetes Mittel zur Kostendämpfung erachteten, protestierten die FMH und die Patientenorganisationen gegen die Einschränkung der freien Arztwahl. Auch die SVP bezeichnete das Modell als untauglich, weil die Gefahr bestehe, dass nur noch die billigsten Leistungserbringer ausgewählt würden. Die SP brachte ebenfalls Vorbehalte an; ihrer Ansicht nach sollten Bedürfniskriterien und Zulassungsbedingungen Sache des Bundes und nicht der Krankenkassen sein. Von der Wirksamkeit der Massnahme überzeugt zeigten sich hingegen die FDP und die CVP sowie die Stiftung für Konsumentenschutz [32]. Angesichts des breiten Widerstands, der ein Referendum als sehr wahrscheinlich erscheinen liess, verzichtete der Bundesrat schliesslich darauf, den brisanten Vorschlag in die 2. Teilrevision des KVG aufzunehmen. Er schlug lediglich vor, den Kontrahierungszwang für jene Ärzte und Ärztinnen aufzuheben, die das 65. Altersjahr überschritten haben. Zudem möchte er die Krankenkassen verpflichten, gesamtschweizerisch alternative Versicherungsformen wie HMO- und Hausarztmodelle anzubieten [33].
Im Februar genehmigte die Schweizer Ärztekammer den neuen Arzttarif (TarMed). Anlässlich der Jahrestagung der Sanitätsdirektorenkonferenz (SDK) Ende Mai wurde ein Vorvertrag unterzeichnet. Damit einigten sich – nach jahrelangen, zähen Verhandlungen – die Verbindung der Schweizer Ärzte und Ärztinnen (FMH), das Konkordat der Krankenkassen (KSK), die Organisation der Schweizer Spitäler (H+) und die privaten Versicherer auf ein gesamtschweizerisch einheitliches Tarifmodell [34]. Obgleich dies nach einem Durchbruch in der sehr strittigen Ausmarchung aussah, wurde der Vertrag nicht dem EDI zugestellt. Hintergrund der Verzögerung war der nach wie vor innerhalb der FMH schwelende Konflikt zwischen Spezialärzten, die eine tarifäre Rückstufung ihrer vor allem technischer Leistungen nicht zu akzeptieren bereit sind, während die Allgemeinpraktiker darauf drängen, ihre umfassend beratende Tätigkeit besser honoriert zu sehen. Bundesrätin Dreifuss drohte erneut, die Tarifstruktur durch das BSV festlegen zu lassen, falls sich die Partner nicht innert nützlicher Frist einigen sollten [35]. Zum letztmöglichen Zeitpunkt wurde der neue Arzt- und Spitaltarif Ende Juni dem Bundesrat schliesslich doch noch eingereicht. Im September genehmigte der Bundesrat den neuen TarMed, doch erwies sich die Umsetzung weiterhin als harzig, weil eine Splittergruppe der FMH, in der sich 1998 die invasiv und operativ tätigen Spezialärzte zusammengeschlossen hatten, immer wieder Nachbesserungen verlangte [36].
Luzern führte als erster Kanton die Kategorie des „Spitalarztes“ ein. Die fest angestellten Fachärzte mit FMH-Titel sollen einen Teil der noch in der Ausbildung befindlichen Assistenzärzte ersetzen. Durch die Verringerung der Ausbildungsplätze für angehende Spezialärzte und die Schaffung einer Alternative zur Praxistätigkeit will das neue Modell die Eröffnung neuer Praxen eindämmen und gleichzeitig das Problem der notorisch überlasteten Assistenzärzte entschärfen. Die Luzerner Gesundheitsdirektion geht davon aus, dass mit der festen Anstellung von fertig ausgebildeten Fachärzten die medizinische Qualität an den Spitälern gesteigert und die Kontinuität sichergestellt werden kann [37].
Eine Evaluation des Medizinstudiums an den Universitäten Basel, Bern, Genf, Lausanne und Zürich durch Experten aus den USA, Belgien und Deutschland fiel wenig schmeichelhaft aus. Die Fachleute monierten, die Ausbildung sei zu wenig praxisorientiert, die Studierenden seien überlastet und würden zu wenig begleitet [38].
Das Malaise im Pflegebereich weitete sich weiter aus. Geringe Löhne und drastische Sparmassnahmen führen zu Personalmangel, dieser wiederum zur Überforderung der Pflegenden und damit zur weiteren Abwanderung aus dem Beruf. Unter Federführung der Gewerkschaft VPOD wurde in vielen Kantonen gegen den Pflegenotstand demonstriert, teilweise sogar mit beschränkten Arbeitsniederlegungen [39]. In einer Einfachen Anfrage von Nationalrätin Hollenstein (gp, SG) auf den Missstand angesprochen, erklärte Bundesrätin Dreifuss, die tatsächlich unbefriedigende Situation sei nicht dem KVG anzulasten, weshalb es für den Bundesrat keine Möglichkeit zur direkten Intervention gebe. Die Kantone seien allein für die Sicherstellung der Pflegeleistungen zuständig. Der Bundesrat sei aber gewillt, alle ihm auf Verordnungsebene zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um gemeinsam mit den anderen Akteuren – Leistungserbringer, Gemeinwesen, Versicherer – die Qualität der erbrachten Leistungen sicherzustellen [40].
Im Herbst bot die Universität Basel erstmals ein dreijähriges Studium der Pflegewissenschaften an. Die Einrichtung höherer Ausbildungsgänge und Forschungsmöglichkeiten soll zu einer Überprüfbarkeit und Kontinuität im pflegerischen Wissen führen [41].
 
[26] AB NR, 2000, S. 1192.26
[27] AB NR, 2000, S. 62 ff., 351 ff. und 459; AB SR, 2000, S. 102 ff. und 226.27
[28] Presse vom 11.7. und 15.7.00. Siehe SPJ 1999, S. 249.28
[29] Bund, 8.8.00; TG, 20.9.00; NZZ, 18.11.00. In Genf ging die Ärzteschaft auf die Strasse, um gegen die Massnahme zu protestieren (TG, 30.8.00).29
[30] AB NR, 2000, S. 62 ff. (KVG-Revision) und 71 ff. (Motion); AB SR, 2000, S. 107. SPJ 1999, S. 248 f.30
[31] Presse vom 15.6., 16.6. und 14.7.00.31
[32] Presse vom 31.7.00.32
[33] BBl, 2000, S. 741 ff.; CHSS, 2000, S. 265 f.; Presse vom 19.9.00. Die im MediX-Verband zusammengeschlossenen Ärzte, die nach dem HMO- resp. dem Hausarztmodell praktizieren, hatten sich, anders als die FMH, für die Aufhebung des Vertragszwangs ausgesprochen (Presse vom 14.7.00).33
[34] Presse vom 3.2. und 27.5.00. Siehe SPJ 1999, S. 248.3
[35] Presse vom 23.3., 8.6. und 22.6.00. Die Chirurgen drohten sogar mit Operationsstopp: TA, 3.2., 22.3. und 23.3.00; TG, 23.6.00. Siehe dazu auch die Antwort des BR auf mehrere Interpellationen (AB NR, 2000, S. 847; AB SR, 2000, S. 304).35
[36] Presse vom 5.2. 1.7. und 19.9.00. Siehe SPJ 1999, S. 248.36
[37] Presse vom 19.12.00. Zur Situation der Assistenzärzte siehe SPJ 1999, S. 249.37
[38] BZ, 11.1.00; LT, 1.2.00.38
[39] TA, 4.4. und 30.9.00; CdT, 9.5.00; Presse vom 13.5.00; WoZ, 31.5.00; Lib., 9.6. und 30.9.00; LT, 6.10 und 10.10.00; TG, 14.11.00; Bund, 15.11. und 25.11.00; SHZ, 13.12.00.39
[40] AB NR, 2000, I, Beilagen, S. 254. In der Herbstsession reichte der Berner SVP-NR Joder, unterstützt von 64 Mitunterzeichnern von rechts bis links, eine Motion ein, die eine Aufwertung des Pflegeberufs verlangt (Geschäft Nr. 00.3521).40
[41] Bund, 10.1.00.41