Année politique Suisse 2000 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Allgemeine Fragen
Im Rahmen der Legislaturplanung 1999-2003 wollte die vorberatende Kommission des Ständerates den Bundesrat mit einer Richtlinienmotion verpflichten, einen Bericht auszuarbeiten, in welchem er Modelle und Szenarien zur langfristigen Zukunftssicherung der Sozialwerke darlegt. Eine Vorgabe sollte dabei mindestens die Konstanthaltung der
Soziallastquote sein. Der Bundesrat wies auf bereits geleistete Vorarbeiten hin (Drei-Säulen-Bericht, Berichte IDA-FiSo 1 und 2) und beantragte erfolgreich Umwandlung in ein Postulat
[1].
In der Herbstsession konnte nach langen Vorarbeiten – die auslösende parlamentarische Initiative von alt Ständerätin Josi Meier (cvp, LU) war 1985 eingereicht worden – der
Allgemeine Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom Parlament verabschiedet werden. Der ATSG stärkt die Stellung der Versicherten in verschiedener Hinsicht.
Verfahren und Begriffe wurden
vereinheitlicht und Gerichtsentscheide ins Gesetz aufgenommen, was die Rechtssicherheit erhöht. Alle allgemein gültigen Bestimmungen sind im ATSG zusammengefasst, während die Besonderheiten der einzelnen Sozialversicherungszweige weiterhin in den Einzelgesetzen geregelt bleiben. Als wichtigste materielle Änderung bringt der ATSG in allen Sozialversicherungen ein vereinfachtes Einspracheverfahren. Allerdings umfasst das neue Regelwerk weder die berufliche Vorsorge noch die Zusatzversicherungen im Krankenversicherungsbereich
[2].
Wegen unklarer Formulierung gab der Nationalrat einer parlamentarische Initiative Jaquet (pda, VD), die unter anderem eine einheitliche
Anlaufstelle für Sozialversicherungsfragen verlangte, keine Folge, überwies jedoch einstimmig ein diesbezügliches Postulat seiner Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK)
[3].
Auf Antrag des Bundesrates fügte das Parlament in sämtlichen Sozialversicherungsgesetzen Bestimmungen über den
Datenschutz ein. Das Mitte 1993 in Kraft gesetzte Datenschutzgesetz, welches verlangt, dass in alle relevanten Einzelgesetze datenschutzrechtliche Regelungen aufgenommen werden, hätte den Gesetzgeber eigentlich verpflichtet, diese innerhalb von fünf Jahren zu verabschieden; die Frist war dann bis Ende 2000 verlängert worden
[4]. Da die Zeit nicht reichte, um im medizinischen Bereich alle notwendigen Abklärungen vorzunehmen, überwies der Nationalrat ein Postulat seiner Rechtskommission, welches den Bundesrat bittet, in Zusammenarbeit mit dem Datenschutzbeauftragten dem Parlament einen umfassenden, alle Sozialversicherungszweige umfassenden Bericht über
Regelungslücken im medizinischen Datenschutz vorzulegen
[5].
Im Vorjahr hatte die SGK des Nationalrates festgestellt, dass die Zahlungsausstände und Beitragsverluste bei den Sozialversicherungen infolge von Insolvenzen und Konkursen in den letzten Jahren stark zugenommen haben. Die von der SGK angehörten Sozialpartner hatten einhellig erklärt, die Anfang 1997 erfolgte Abschaffung des
Konkursprivilegs für Sozialversicherungen im Schuldenbetreibungs- und Konkursrecht sei mitverantwortlich für diese negative Entwicklung. Die Kommission hatte daraufhin eine parlamentarische Initiative eingereicht mit dem Ziel, rasch auf diese Änderung zurückzukommen und die Beiträge an die Sozialversicherungen wieder in die zweite Klasse der Gläubigerforderungen aufzunehmen. Im Einvernehmen mit dem Bundesrat stimmten beide Kammern dieser Wiederherstellung der alten Regelung zu
[6].
Der Nationalrat lehnte mit 72 zu 61 Stimmen eine Standesinitiative des Kantons Aargau ab, welche die
Unentgeltlichkeit von Beschwerdeverfahren im Sozialversicherungsbereich aufheben wollte. Der Kanton Aargau hatte damit der steigenden Flut von Rekursen begegnen wollen. Der Rat folgte aber der Argumentation seiner Kommission, wonach Rechtsuchende gerade im Bereich der Kranken-, Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung besonders verletzlich sind und deshalb eines besonderen Schutzes bedürfen
[7].
Zur Legislaturplanung 1999-2003 reichte die vorberatende Kommission des Nationalrates eine Richtlinienmotion ein, in der sie verlangte, der Bundesrat solle den eidgenössischen Räten einen Bericht vorlegen, der die sozialen und ökonomischen Auswirkungen verschiedener
Modelle eines existenzsichernden Grundeinkommens (negative Einkommenssteuer, garantiertes Minimaleinkommen, existenzsichernde Ergänzungsleistungen usw.) darlegt und aufzeigt, inwieweit sie geeignet sind, den wachsenden Disparitäten in der Gesellschaft entgegen zu wirken. Der Bundesrat beantragte, die Motion abzulehnen. Er machte geltend, er sei bereits mehrmals gebeten worden, mögliche Formen eines garantierten Mindesteinkommens zu prüfen und sei dabei immer wieder zum Schluss gelangt, die angeregten Modelle könnten die tatsächlich existierenden Probleme gewisser Bevölkerungsgruppen nicht lösen, resp. würden negative Anreize für die Arbeitsmotivation bewirken. Im Einverständnis mit der Kommission wurde der Vorstoss ganz knapp (mit 91 zu 90 Stimmen) wenigstens als Postulat überwiesen
[8].
In seiner Botschaft zur 11. AHV-Revision (siehe unten) präsentierte der Bundesrat die
Perspektiven der Sozialversicherungen bis ins Jahr 2025. Der Bedarf aller Sozialwerke, auch jener, die nicht zumindest teilweise über Bundesmittel finanziert werden, steigt von heute 83 Mia Fr. pro Jahr auf 129 Mia Fr. Knapp die Hälfte davon kann durch das Wirtschaftswachstum und die damit verbundenen Mehreinnahmen aufgefangen werden. Es bleibt aber ein
Zusatzbedarf von 26 Mia Fr., was 8,9 Mehrwertsteuerprozentpunkten entspricht. Allein die AHV wird 2025 fast doppelt so viel kosten wie heute; ihr Mehrbedarf steigt bis 2010 um 1,2 Mehrwertsteuer-Äquivalente, und zwischen 2010 und 2025, wenn die „Babyboom-Generation“ ins Rentenalter kommt, um weitere 3,1%. Neben der AHV tragen vor allem die Gesundheitskosten zum steigenden Finanzierungsbedarf bei. Der Bundesrat geht davon aus, dass sie bis 2003 2% pro Jahr zunehmen werden. Danach prognostiziert er eine jährliche Erhöhung um 1,2% bis 2010 und anschliessend um 0,5%. An einer Medienkonferenz machte BSV-Direktor Piller klar, dass die Zukunft des Sozialstaates nicht von den publizierten Zahlen abhängt, sondern von politischen Entscheiden
[9].
Der Nationalrat überwies im Rahmen der Legislaturplanung 1999-2003 eine Richtlinienmotion, welche den Bundesrat beauftragen wollte, einen Bericht vorzulegen, in dem die kurz- (2010), mittel- (2015) und langfristigen (2050) Perspektiven der Alterssicherung in der Schweiz dargelegt werden. Dieser Bericht sollte
zukunftsfähige Modelle der Alterssicherung mit Vor- und Nachteilen aufzeigen, einschliesslich möglicher Finanzierungsvarianten. Der Bundesrat verwies darauf, dass er im Anschluss an die Verabschiedung der Botschaft zur 11. AHV-Revision das EDI beauftragt habe, ein Forschungsprogramm vorzubereiten, um Grundlagen für die 12. AHV-Revision zu erarbeiten (siehe unten). Er vertrat die Ansicht, die mit dem Forschungsprogramm anvisierte Zeitperspektive bis ins Jahr 2025 sei realistisch. Für die Jahrzehnte danach seien zwar Trends erkennbar (beispielsweise beim Alterslastquotienten), doch seien gerade in wirtschaftlicher Hinsicht viele unvorhersehbare Entwicklungen möglich, weshalb es nicht sinnvoll wäre, personelle und finanzielle Ressourcen in die Erforschung von Hypothesen einzubinden. Aus diesem Grund beantragte er Umwandlung der Motion in ein Postulat, scheiterte aber mit 170 zu 3 Stimmen klar. Der Ständerat zeigte mehr Verständnis für die Einwände des Bundesrates und begnügte sich mit einem Postulat
[10].
Gemäss
OECD und
Weltbank ist die Schweiz mit dem heutigen Konzept von obligatorischer Vorsorge in Verbindung mit freiwilliger privater Ersparnisbildung sowie mit den bereits getroffenen Vorkehren zu deren Absicherung gut gerüstet, um den Herausforderungen der demographischen Alterung der Gesellschaft zu begegnen. Insbesondere die
Mischfinanzierung der Alterssicherung (Umlageverfahren in der AHV / Kapitaldeckungsverfahren in der beruflichen Vorsorge), gepaart mit dem Instrument der Ergänzungsleistungen, bildet nach Ansicht der beiden Wirtschaftsorganisationen ein geradezu ideales Modell zur Bekämpfung der Altersarmut, ohne dass dabei der Generationenvertrag und die öffentliche Hand über Gebühr belastet werden
[11].
An einem Sonderparteitag verlangte die
SVP eine
radikale Neuausrichtung in der Sozialpolitik. Die Finanzierung der Sozialwerke müsse ohne neue Steuern und mit tieferen Lohnprozenten sichergestellt werden. Langfristig will die SVP die Sozialausgaben auf das Niveau von 1990 senken. Dabei sollen auch die
Erhöhung des Rentenalters auf 68 Jahre und das
Kapitaldeckungsverfahren für die AHV geprüft werden. Das Thesenpapier wurde von den Delegierten einstimmig angenommen
[12]. Nachdem diese Vorschläge auch innerhalb der Klientel der SVP Bestürzung ausgelöst hatten, präsentierte die Partei im Mai neue Vorschläge zur Sicherung der staatlichen Sozialwerke (AHV/IV/EO und Arbeitslosenversicherung). Durch Sparanstrengungen soll die AHV ohne Rentenkürzungen und ohne Steuererhöhungen auskommen. Mit Ausnahme der vollständigen Überführung des überschüssigen Nationalbankgoldes in den AHV-Fonds (siehe unten) brachten die neuen Thesen nichts, was nicht schon vom Bundesrat mit der 11. AHV-Initiative vorgeschlagen wird (Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre, Angleichung der Witwen- an die Witwerrente, Teuerungsanpassung nur alle drei Jahre). In der IV ortete die SVP ein grosses Missbrauchspotential und verlangte eine Untersuchung. Bei den Arbeitslosen will die Partei Leistungen abbauen, beispielsweise durch eine Karenzfrist von 30 Tagen vor Bezug eines Taggeldes
[13].
Bei Erträgen von insgesamt 37,561 Mia Fr. und Aufwendungen von 37,120 Mia Fr. schloss die Rechnung von
AHV/IV und EO für das Jahr 2000 mit einem
Überschuss von 441 Mio Fr. ab. Das Budget hatte einen Fehlbetrag von 1,15 Mia ausgewiesen; im Vorjahr hatte das Defizit 766 Mio Fr. betragen. Die Einnahmen der
AHV wuchsen gegenüber dem Vorjahr um 5,8% auf 28,79 Mia Fr., die Ausgaben beliefen sich auf 27,72 Mia Fr. Daraus resultierte ein
Überschuss von 1,07 Mia Fr. Im Vorjahr hatte die AHV noch ein Defizit von 179 Mio Fr. hinnehmen müssen. Das gute Ergebnis wurde der positiven wirtschaftlichen Entwicklung zugeschrieben, die sowohl bei den Beiträgen wie bei den Erträgen aus der Mehrwertsteuer (1,836 Mia Fr.) zu in diesem Ausmass nicht erwarteten Mehreinnahmen führte. Mit 22,72 Mia Fr. entsprach das Vermögen der AHV 82% einer Jahresausgabe (1999: 79%). Die
IV blieb demgegenüber auch im Jahr 2000 defizitär. Ihr Fehlbetrag erhöhte sich gegenüber dem Vorjahr gar von 799 Mio Fr. auf
820 Mio Fr. Die Gesamtschuld der IV beträgt 2,305 Mia Fr.
[14].
[1]
AB SR, 2000, S. 379. Zu der seit 1998 wieder sinkenden Soziallast- und Sozialleistungsquote, die stark auf konjunkturelle Schwankungen reagiert, siehe
CHSS, 2001, S. 313 ff. Für weitere Forderungen nach einer Senkung der Staats- und Steuerquote siehe oben, Teil I, 5 (Direkte Steuern.1
[2]
AB SR, 2000, S. 171 ff., 513 f. und 723;
AB NR, 2000, S. 649 ff., 967 f. und 1210. Siehe
SPJ 1999, S. 265.2
[3]
AB NR, 2000, S. 837.3
[4]
BBl, 2000, S. 255 ff.;
AB SR, 2000, S. 191 ff., 386 f. und 478;
AB NR, 2000, S. 639 ff. und 852 f.4
[5]
AB NR, 2000, S. 649. Siehe oben, Teil I, 7b (Allgemeine Fragen).5
[6]
AB NR, 1999, S. 2430 ff. und 2000, S. 368 und 464;
AB SR, 2000, S. 110 und 229.6
[7]
AB NR, 2000, S. 1315 ff. Zu der von den GPK beider Räte verlangten Entlastung des Bundesgerichtes und des Eidg. Versicherungsgerichtes siehe oben, Teil I, 1c (Gerichte).7
[8]
AB NR, 2000, S. 803 ff. Die interkantonale Sozialdirektorenkonferenz empfahl den Kantonen, die Gewährung eines sozialen Existenzminimums gesetzlich zu verankern (
CHSS, 2000, S. 335 ff.).8
[9]
BBl, 2000, S. 1869 ff.; Presse vom 5.2.00. Zu den Perspektiven der Sozialpolitik an der Schwelle des 21. Jahrhunderts führte der BR im April eine Aussprache durch (
CHSS, 2000, S. 300 ff.). Das vom EDI vorbereitete Aussprachepapier ist im Volltext auf der Homepage des BSV zugänglich: www.bsv.admin.ch. Für eine Übersicht über die im Bereich der Sozialversicherungen geplanten Revisionen siehe
CHSS, 2000, S. 306 ff.9
[10]
AB NR, 2000, S. 803 ff.;
AB SR, 2000, S. 655. 10
[11]
Lit. OECD; Queisser, Monika / Vittas, Dimitri, „Das schweizerische Vorsorgesystem aus der Sicht der Weltbank: Triumph des gesunden Menschenverstands?“, in
CHSS, 2000, S. 195 ff. 11
[12] Presse vom 6.3.-10.3.00. Bundespräsident Ogi distanzierte sich vehement von diesen Beschlüssen seiner Partei und meinte, es gehe nicht an, das Solidaritätswerk der AHV mutwillig zu zerstören (
NZZ, 7.3.00); im gleichen Sinn äusserten sich auch die SVP-Kantonalsektionen GR und BE (
BüZ und
NZZ, 8.3.00). Siehe zu diesen Diskussionen auch
CHSS, 2000, S. 108 ff. (Schwerpunktthema „Neoliberalismus und Sozialstaat“). 12
[13] Presse vom 9.5.00. 13
[14] Presse vom 17.3.01. Zur generellen Trendumkehr bei den Sozialversicherungsfinanzen siehe
CHSS, 2000, S. 215 ff. Vgl.
SPJ 1999, S. 269. 14
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