Année politique Suisse 2000 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen / Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV)
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Rentenalterinitiativen
Im Nachgang zur 10. AHV-Revision, wo im Gegenzug zum Rentensplitting sowie den Betreuungs- und Erziehungsgutschriften das ordentliche Rentenalter der Frauen von 62 auf 64 Jahre angehoben worden war, hatten einerseits der Schweizerische Kaufmännische Verein (SKV) und die Angestelltenverbände, andererseits die Grüne Partei je eine Volksinitiative mit dem Ziel eingereicht, diese Erhöhung rückgängig zu machen resp. sowohl Frauen wie Männern das flexible Rentenalter ab 62 Jahren ohne finanzielle Einbusse zu ermöglichen. Bundesrat und Parlament hatten 1998 sowohl die Initiative „für eine Flexibilisierung der AHV – gegen die Erhöhung des Rentenalters der Frauen“ (SKV und Angestelltenverbände) wie auch jene der Grünen („für ein flexibles Rentenalter ab 62 für Frau und Mann“) ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung empfohlen [27].
In den Wochen vor der Volksabstimmung über diese beiden Initiativen, welche am 26. November stattfand, wurde mit den gleichen Argumenten wie schon im Parlament gefochten. Das bürgerliche Komitee gegen die AHV-Initiativen, dem 156 eidgenössische Parlamentarierinnen und Parlamentarier angehörten, warnte vor den „verheerenden finanziellen Folgen für die Zukunft dieses Sozialwerks“. Die Befürworter erklärten dagegen, die von den Bürgerlichen beschworenen Katastrophenszenarien seien auf dem Hintergrund der Konjunkturflaute der letzten Jahre zu sehen; der wirtschaftliche Wiederaufschwung habe bereits im Vorjahr zu einem bedeutend besseren Rechnungsabschluss geführt als erwartet, und für das laufende Jahr seien bereits wieder schwarze Zahlen absehbar. Eine flexible Ruhestandsrente ab 62 Jahren entspreche den Realitäten des Arbeitsmarktes, da heute jede 5. Person über 60 freiwillig oder gezwungenermassen aus dem Erwerbsleben ausscheidet; es sei ein Akt der Solidarität der Einkommensstärkeren und Gesunden mit den Schlechtergestellten und könne finanziell verkraftet werden [28].
Angesichts der geschlossenen bürgerlichen Opposition erreichten die beiden Initiativen mit 39,5% (SKV) resp. 46,0% (GP) Ja-Stimmen einen Achtungserfolg. Die Initiative der GP wurde von sämtlichen Kantonen der Romandie und dem Tessin angenommen, bei jener des SKV stellte sich der Kanton Wallis auf die ablehnende Seite der Deutschschweiz. Das relativ knappe Nein der Initiative der GP werteten sowohl die Gewinner als auch die Verlierer als Signal für eine Flexibilisierung des Rentenalters. Allerdings waren sich die Kontrahenten weiterhin nicht einig über den Weg: die bürgerlichen Parteien verlangten nach wie vor eine kostenneutrale Lösung, das links-grüne Lager eine sozialverträgliche. Der Bundesrat zeigte sich besorgt über den erneut zu Tage getretenen „Röstigraben“ in sozialpolitischen Fragen [29].
Volksinitiative „für eine Flexibilisierung der AHV – gegen die Erhöhung des Rentenalters der Frauen“
Abstimmung vom 26. November 2000

Beteiligung: 41,7%
Ja: 756 337 (39,5%) / 6 Stände
Nein: 1 159 794 (60,5%) / 14 6/2 Stände

Parolen:
Ja: SP, EVP, CSP, GP, Lega; SGB, CNG, VSA.
Nein: FDP, CVP, SVP, LP, SD, EDU, FPS, KVP; Economiesuisse, SGV, SBV.
Die Vox-Analyse dieses Urnengangs zeigte ein altbekanntes Muster. Eine Mehrheit der Befragten hätte sich zwar gerne für eine Flexibilisierung des Rentenalters ausgesprochen und die Erhöhung des Rentenalters der Frauen rückgängig gemacht, lehnte die Initiativen jedoch ab, weil die Kostenfrage ungelöst schien. Unklar blieb auch nach dieser Untersuchung, weshalb die Flexibilisierungsinitiative des Kaufmännischen Vereins mit 39,5% Ja klar schlechter abschnitt als jene der Grünen mit 46% Zustimmung. Es wurde vermutet, dass letztlich der eindeutigere Titel den Ausschlag gegeben hatte, resp. der Vorschlag der Grünen, auch nur eine vorgezogene Teilrente beziehen zu können. Insgesamt nahmen Stimmende aus der lateinischen Schweiz sowie Bürgerinnen und Bürger mit einer links-grünen politischen Ausrichtung die Initiativen deutlich an. Deutschschweizer und Bürgerliche, Rechtskonservative sowie Stimmende ohne Parteiaffinität verwarfen sie hingegen. Personen im Rentenalter lehnten sie überdurchschnittlich ab [30].
Volksinitiative „für ein flexibles Rentenalter ab 62 für Frau und Mann“
Abstimmung vom 26. November 2000

Beteiligung: 42,0%
Ja: 885 772 (46,0%) / 7 Stände
Nein:1 038 985 (54,0%) 13 6/2 Stände

Parolen:
Ja: SP, EVP, CSP, GP, Lega; SGB, CNG, VSA.
Nein: FDP, CVP, SVP, LP, SD, EDU, FPS, KVP; Economiesuisse, SGV, SBV.
 
[27] SPJ 1998, S. 258. 27
[28] Presse vom 16.5. und 26.9.-25.11.00. Nach Ansicht von BR Dreifuss waren in diesem Zahlenstreit die Annahmen der Gegner zu pessimistisch, weil sie die Sparanstrengungen der 11. AHV-Revision nicht berücksichtigten, jene der Befürworter jedoch insofern zu optimistisch, als sie auf der momentanen konjunkturellen Erholung basierten sowie auf Sparmassnahmen, die das Parlament noch gar nicht beschlossen habe (Presse vom 18.10.00). 28
[29] BBl, 2001, S. 1141 ff.; Presse vom 27.11.00. 29
[30] Sidler, Andreas et al., Analyse der eidg. Abstimmung vom 26. November 2000, VOX Nr. 72, Zürich 2001. 30