Année politique Suisse 2000 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Krankenversicherung
Zusammen mit der Vereinigung der niederländischen Hausärzte konnte Bundesrätin Dreifuss Anfang September den Carl-Bertelsmann-Preis für vorbildliche Leistungen im Gesundheitswesen entgegen nehmen. Die deutsche Stiftung, die alljährlich innovative Konzepte für gesellschaftliche Probleme auszeichnet, erachtete das neue Schweizer KVG von 1996 als vorbildlich. Grundlage für den Entscheid der Jury bildete eine umfassende vergleichende Länderstudie zwischen den Gesundheitssystemen in Dänemark, Deutschland, Finnland, Grossbritannien, den Niederlanden, der Schweiz und den USA nach Kriterien wie Versorgungssicherheit, Steuerungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit. Am KVG lobte die Studie vor allem die Einführung von sozialverträglich ausgestalteten Wettbewerbselementen. Positiv hervorgehoben wurden auch die Integration von ambulantem und stationärem Sektor, das Dienstleistungsverständnis von Medizinalpersonen und Krankenkassen sowie das differenzierte Leistungsangebot [47].
Im Rahmen der Legislaturplanung 1999-2003 nahm der Nationalrat eine Richtlinienmotion an, die den Bundesrat beauftragen wollte, aufgrund der Erfahrungen mit dem neuen Krankenversicherungsgesetz (KVG) eine Wirkungsanalyse vorzulegen. Der Bericht sollte insbesondere Varianten für den zukünftigen Systemumbau resp. -ausbau enthalten (einschliesslich Modelle der Finanzierung des ambulanten und stationären Bereiches, der Prämienentlastung von privaten Haushalten sowie der Zukunft der obligatorischen Grund- und der freiwilligen Zusatzversicherungen). Der Nationalrat befand, die Ausführungen des Bundesrates zu den Legislaturzielen könne nicht befriedigen, da einerseits festgestellt werde, dass in den nächsten Jahren die Krankenversicherung die höchsten Kostensteigerungen von allen Sozialversicherungen aufweisen wird, andererseits grundsätzlich das bestehende System beibehalten werden solle. Der Bundesrat verwies auf bereits durchgeführte resp. in Ausarbeitung befindliche Evaluationen des KVG und beantragte Umwandlung der Motion in ein Postulat, unterlag jedoch mit 177 zu 2 Stimmen. Der Ständerat nahm den Vorstoss hingegen lediglich als Postulat an [48].
Mitte Jahr stellte das BSV drei weitere Studien im Rahmen des Programms Wirkungsanalyse des KVG vor. Eine erste Studie zeigte, dass das KVG bisher nicht wirksam zur Kostendämpfung beigetragen hat; die jährliche Zuwachsrate der Gesundheitskosten veränderte sich seit 1996 nicht signifikant im Vergleich zu den Jahren vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes. Zugenommen hat hingegen die Belastung der Privathaushalte. Die zweite Studie wies nach, dass eine höhere Ärzte- und Apothekendichte mit einem höheren Prämienniveau einhergeht. Am meisten zu Diskussionen Anlass gab die dritte Studie, welche den Risikoausgleich unter den Kassen als mangelhaft einschätzte. Die beiden gewählten Kriterien (Alter und Geschlecht) könnten höchstens fünf Prozent der Kostenunterschiede erklären. Wenn man das Kriterium einer Hospitalisierung im Vorjahr als zusätzlichen Faktor einbeziehen würde, könnte die Erklärungskraft auf über zehn Prozent gesteigert werden. Einzelne Krankenkassen und Parlamentarier hatten bereits 1998 eine Anpassung des Risikoausgleichs in diesem Sinn verlangt. Der Bundesrat hatte sie damals mit Hinweis auf die anstehende erste Teilrevision des KVG vertröstet, die Anregungen dort aber nicht aufgenommen [49].
Keine Chance hatte im Ständerat eine Standesinitiative des Kantons Genf, welche verlangte, die Krankenkassen seien zu verpflichten, gesamtschweizerisch einheitliche Kostenrechnungen vorzulegen, die insbesondere Auskunft geben sollten über die jährlichen Kosten je Kanton und Leistungserbringer sowie ihre Reserven pro Kanton und versicherte Person. Damit sollte insbesondere der Risikoausgleich transparenter gestaltet werden. Auf fast einstimmigen Antrag seiner Kommission gab der Rat dieser Initiative keine Folge [50].
Da mit dem Inkrafttreten der bilateralen Verträge mit der EU neue Personenkategorien dem KVG unterstellt werden, hatte der Bundesrat im Vorjahr dem Parlament beantragt, dass auch diesen und ihren Familienangehörigen Prämienverbilligungen ausgerichtet werden, wenn sie in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Die Räte hatten im Grundsatz zugestimmt, die vom Bundesrat vorgeschlagene Durchführung durch die Kantone hingegen abgelehnt. Ende Mai präsentierte die Regierung eine differenziertere Regelung. Für Versicherte mit einem aktuellen Anknüpfungspunkt an einen Kanton (z.B. Grenzgänger) ist ein kantonales Verfahren vorgesehen, bei dem der Bund zwei Drittel und die Kantone einen Drittel der Verbilligung übernehmen. Für Personen ohne bestehende Bindung an einen Kanton (z.B. in einem EU-Staat lebende Bezüger einer AHV Rente, die weiterhin in der Schweiz krankenversichert sind) schlug der Bundesrat ein Bundesverfahren sowohl für die Durchführung wie für die Übernahme der Kosten vor. Diese Anpassung an das Abkommen über die Personenfreizügigkeit wird zu jährlichen Mehrkosten von schätzungsweise 60-90 Mio Fr. führen. Die maximalen Kosten ergeben sich unter der Annahme, dass alle Versicherte mit Wohnsitz in einem EU-Staat sich der schweizerischen Krankenversicherung anschliessen. Da die Versicherungskonditionen in einzelnen Nachbarländern aber günstiger sind als in der Schweiz, ist anzunehmen, dass zahlreiche Personen in ihren Wohnsitzstaaten versichert bleiben wollen, weshalb die Kosten eher an der unteren Grenze liegen dürften [51]. Das Parlament brachte erneut Bedenken bezüglich der Durchführbarkeit des Vollzugs im Informations- und Kontrollbereich vor, akzeptierte aber schliesslich die bundesrätlichen Vorschläge oppositionslos [52]. Der Nationalrat nahm allerdings ein Postulat seiner SGK an, welches den Bundesrat bittet, zwei Jahre nach der Einführung der Prämienverbilligung für Personen in den EU-Staaten einen Bericht vorzulegen, der über die Auswirkungen dieser KVG-Revision Aufschluss gibt [53].
Im Nachgang an den Rückzug der Krankenkasse Visana aus der Grundversicherung in acht Kantonen hatten fünf Ostschweizer Kantone (Thurgau, beide Appenzell, Glarus und Graubünden) bei den eidgenössischen Räten je eine gleichlautende Standesinitiative eingereicht. Danach sollte der Versicherer bei einem Kassenwechsel eines Versicherten die anteiligen Reserven und die durch die abwandernden Personen nicht beanspruchten anteiligen Rückstellungen dem neuen Versicherer weitergeben – und zwar rückwirkend ab dem 1. Juli 1998. Das Konkordat der Krankenversicherer (KSK) sprach sich gegen die Initiativen aus, da sie zu enormen Zusatzkosten führen und kleinere Versicherungen benachteiligen würden [54]. Der Ständerat folgte einstimmig dieser Einschätzung, verwies auf die im Rahmen der 1. Teilrevision des KVG bereits gefassten Beschlüsse und gab den Standesinitiativen keine Folge [55].
Der Bundesrat verbot den Krankenkassen, ihren Versicherten im Gegenzug zu höheren Franchisen derart grosse Prämienrabatte zu gewähren, dass diese je nach Gesundheitszustand die gewählte Franchise mehr als nur aufwiegen können. Der Solidaritätsaspekt (Personen mit gesundheitlichen Problemen können von dieser Entlastung nicht profitieren) wurde mit dieser Weisung höher gewertet als der volkswirtschaftliche Nutzen (Personen mit hohen Franchisen beziehen erfahrungsgemäss weniger Leistungen). Von den Bundesratsparteien kritisierte einzig die SVP diesen Entscheid als „Staatsinterventionismus“ und verlangte, die Krankenkassen sollten frei über die Höhe der Prämienreduktionen bestimmen können [56].
Befindet der Bundesrat aufgrund eines Rekurses über Tarife oder kantonale Spitallisten, kann sein Entscheid nicht ans Eidgenössische Versicherungsgericht (EVK) weiter gezogen werden. Dieses trat in einem neuen Grundsatzentscheid nicht auf eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Schweizer Paraplegiker-Zentrums Nottwil (LU) ein, das keinen Eingang in die Zürcher Spitalliste gefunden hatte und dagegen vergeblich beim Bundesrat interveniert hatte. Das EVG kam zum Schluss, der bundesrätliche Entscheid sei auf Grund der einschlägigen Verfahrensnormen (KVG und Bundesrechtspflegegesetz) abschliessend. Damit sei die Zuständigkeit einer Gerichtsinstanz auch nicht auf dem Umweg über eine verfassungskonforme Gesetzesauslegung oder Lückenfüllung zu begründen [57]. Genau dies fanden aber mehrere Parlamentarier völlig unbefriedigend, da das für Beschwerden zuständige EJPD für deren Behandlung oft sehr lange braucht und zudem, da mit der Gesundheitspolitik wenig vertraut, Entscheide fällt, die nur schwierig nachvollziehbar sind. Im Vorjahr hatte das EJPD der Beschwerde von Privatspitälern in den Kantonen St. Gallen und Basel-Stadt stattgegeben, denen die Kantonsregierung wegen nicht ausgewiesenen Bedarfs die Aufnahme in die Spitalliste verweigert hatte. Der Entscheid war kritisiert worden, weil er die Bemühungen des EDI für eine konsequente Spitalplanung unterlaufe [58]. Im Berichtsjahr nahm der Ständerat eine Empfehlung Plattner (sp, BS) an, die den BR bittet, diesbezüglich koordinierter vorzugehen [59]. Weitergehende Forderungen wurden im Nationalrat gestellt. Mit einer parlamentarischen Initiative wollte Vallender (fdp, AR) erreichen, dass Rekurse im Krankenversicherungsbereich ganz den Gerichten (kantonales Schiedsgericht, eidg. Versicherungsgericht) übertragen werden. Da die Initiative ausformuliert war und in den Details nicht den Vorstellungen des Nationalrates entsprach, wurde dem Vorstoss keine Folge gegeben. Weil der Rat die grundsätzlichen Bedenken der Initiantin aber durchaus teilte, überwies er ein Postulat seiner SGK, mit welchem er den Bundesrat auffordert, die Einsetzung einer unabhängigen Rekurskommission zu prüfen [60].
Im Vorjahr hatte es der Ständerat abgelehnt, die Asylsuchenden vom Risikoausgleich zwischen den Krankenkassen auszunehmen; mit einer Motion hatte er den Bundesrat verpflichtet, andere Lösungen für das tatsächlich bestehende Problem auszuarbeiten. Der Nationalrat übernahm diese beiden Beschlüsse diskussionslos [61] Die drei grossen Kassen, mit denen die meisten Kantone Rahmenverträge für Asylbewerber abgeschlossen hatten (Helsana, CSS und Concordia), kündigten die Verträge vorsorglich. Als Kompromisslösung schlugen die Versicherer vor, Bund und Kantone sollten einen Teil der Defizite übernehmen (rund 40 Mio Fr.), die den Kassen aus den Rahmenverträgen entstehen, was die kantonalen Gesundheits- und Sozialdirektoren jedoch rundweg ablehnten. Das BSV und das Bundesamt für Flüchtlinge regten ihrerseits an, die freie Arztwahl der Flüchtlinge einzuschränken, um so Kosten zu sparen [62].
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Krankenkasseninitiative
Obschon sich die Spirale der Gesundheitskosten wegen der nichteinkommensabhängigen Prämien vor allem für die weniger bemittelten Versicherten weiter dreht, will der Bundesrat das heutige Krankenversicherungssystem nicht umkrempeln. Seine bereits im Vorjahr angekündigten Absage an die Volksinitiative der SP „Gesundheit muss bezahlbar bleiben“ („Gesundheitsinitiative“) begründete er in seiner diesbezüglichen Botschaft ans Parlament.Die Initiative, möchte von den starren Kopfprämien, die einzigartig in Europa sind, abkommen und verlangt eine Mischfinanzierung über Mehrwertsteuerprozente sowie über einkommens- und vermögensabhängige Prämien. Zur besseren Kostenkontrolle schlägt sie weiter die Verschiebung von Kompetenzen von den Kantonen auf den Bund vor, so etwa bei der Spitalplanung, der Festsetzung von Preisen und Tarifen sowie bei der Zulassung von Leistungserbringern. Aus Sicht des Bundesrates ist die Initiative jedoch mit einer ganzen Reihe von Mängeln behaftet. Die neue Finanzierung bereite nicht nur enorme Schwierigkeiten bei der Umsetzung, sie setze auch falsche Anreize. Durch den Wegfall von Franchise und Selbstbeteiligung würde das Kostenbewusstsein der Patienten vermindert. Ein Wettbewerb unter den Krankenkassen über die Prämien wäre nicht mehr möglich. Der soziale Ausgleich sei zudem über den Ausbau der bedarfsgerechten individuellen Prämienverbilligungen besser zu erreichen.
In dieser Botschaft präsentierte der Bundesrat erstmals eine Gesamtschau der sozialen Krankenversicherung und zog eine Bilanz zu den drei Hauptzielen des neuen KVG (Verstärkung der Solidarität, Eindämmung der Kosten und Sicherstellung einer qualitativ hochstehenden Versorgung). Er kam dabei zum Schluss, dass das KVG einen vorzüglichen und umfassenden Versicherungsschutz bei gesamthaft betrachtet tragbaren Prämien garantiert. Dass gewisse Ziele noch nicht optimal erfüllt werden konnten, sei nicht dem geltenden System, sondern vor allem den Kantonen anzulasten. Mängel ortete er namentlich bei der je nach Kanton unterschiedlichen Ausrichtung der Prämienverbilligungen an Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen. Verbesserungen können nach Auffassung des Bundesrates mit Teilrevisionen des KVG sowie mit dem Neuen Finanzausgleich zwischen dem Bund und den Kantonen erreicht werden [63].
Erwartungsgemäss fand die SP-Initiative bei der bürgerlichen Mehrheit im Nationalrat keine Unterstützung. SP-Fraktionschef Cavalli (TI) legte einleitend dar, dass es eine Illusion sei zu glauben, ein vom Angebot bestimmter Markt könne die Kosten nach wettbewerbspolitischen Grundsätzen regeln. Die Abkehr von den Kopfprämien würde zur grössten finanziellen Entlastung führen, die man in der Schweiz je für Familien mit mittleren Einkommen vorgeschlagen habe. Die Sprecher von FDP, CVP, SVP und LP widersprachen dem und rechneten vor, dass eine Verlagerung auf die Mehrwertsteuer keineswegs sozial sei. Im Gegenteil: Eine – gemäss Initiativtext nach oben offene – Erhöhung dieser Konsumsteuer treffe am härtesten junge Familien. Man gaukle einen Sinkflug der Prämien vor, tatsächlich aber würde der Bevölkerung das Geld via indirekte Steuern aus der Tasche gezogen, warnte der Aargauer CVP-Vertreter Zäch. Ins gleiche Horn stiess der Zürcher Freisinnige Gutzwiller. Nicht zentralistische Planwirtschaft führe zur Genesung des Krankenversicherungssystems, sondern die konsequente Umsetzung wettbewerblicher Anreize. Als prioritär erachtete er die umfassende Reform der Spitalfinanzierung, die Aufhebung des Vertragszwangs zwischen Kassen und Leistungsanbietern und eine wirkungsorientierte Überprüfung der Grundversicherungsleistungen. Die Initiative wurde mit 91 gegen 55 Stimmen deutlich abgelehnt. Ein Antrag des Tessiner CVP-Vertreters Robbiani, die Vorlage zwecks Ausarbeitung eines indirekten Gegenvorschlags an die Kommission zurückzuweisen, der die Unterstützung von Bundesrätin Dreifuss fand, wurde ebenfalls – wenn auch bedeutend knapper – mit 79 zu 62 Stimmen verworfen [64].
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Erste Teilrevision des KVG
Bei der gegenüber dem Ständerat strittigen Frage des „tiers garant“ oder „tiers „payant“ schloss sich der Nationalrat der kleinen Kammer an. Damit bleibt es dabei, dass die Versicherten grundsätzlich Schuldner der Leistungserbringer bleiben und die Vergütung bei den Krankenkassen einfordern müssen. Für die übrigen nach den Beratungen des Vorjahres noch verbliebenen Differenzen (Zulassungsbeschränkungen für ambulante Leistungserbringer, Befreiung einzelner Präventionsmassnahmen von der Franchise) siehe oben, Teil I, 7b (Prävention und Medizinalpersonen) [65].
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Zweite Teilrevision des KVG
Im September leitete der Bundesrat dem Parlament seine Botschaft zu dieser zweiten Teilrevision zu. Sie betrifft in erster Linie die Spitalfinanzierung und eine geringfügige Lockerung des Kontrahierungszwangs (siehe oben, Teil I, 7b, Spitäler und Medizinalpersonen). Als Beitrag zur Kostendämpfung will der Bundesrat sämtliche Krankenkassen verpflichten, alternative Versicherungsmodelle (HMO, Hausarztmodell) anzubieten. Das Konkordat der Krankenkassen bezweifelte die Umsetzbarkeit dieses Vorschlags; insbesondere kleinere Kassen in abgelegenen Gebieten könnten kaum die dafür notwendige Infrastruktur zur Verfügung stellen [66]. Auf Widerstand stiess auch die neu vorgesehene Bestimmung, wonach künftig die Gemeinden die von ihren Einwohnern den Krankenkassen geschuldeten Prämien vorstrecken und nachher selber versuchen sollen, das Geld einzutreiben. Dagegen protestierte die Städteinitiative „Ja zur sozialen Sicherung“ mit dem Hinweis auf den unverhältnismässigen administrativen Aufwand, umso mehr, die Prämien der Bezügerinnen und Bezüger von Sozialhilfeleistungen in den meisten Fällen direkt von den Sozialdiensten der Gemeinde bezahlt werden, um Leistungsverweigerungen der Kassen zu vermeiden [67].
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Erweiterung des Grundkatalogs im KVG
Zusammen mit elf anderen Behandlungen und Untersuchungen wurden Mitte Jahr die Kosten für die Heroinabgabe in den Katalog der von den Krankenkassen zu bezahlenden Pflichtleistungen aufgenommen. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich das Volk in der Abstimmung vom Juni 1999 explizit für die ärztliche Verschreibung von Heroin ausgesprochen hat. Die Neuregelung umfasst alle medizinischen Leistungen, die in Zusammenhang mit der Abgabe von Heroin sowie dem bereits heute kassenpflichtigen Methadon resp. Buprenorphin (wie Methadon ein Ersatzstoff, jedoch mit kleinerem Suchtpotential) anfallen. Alle weiteren Begleitmassnahmen wie soziale Hilfe, Wohnungs- oder Arbeitsvermittlung sind davon getrennt und verursachen den Krankenkassen keine zusätzlichen Kosten [68]. Diese Ausdehnung des Leistungskatalogs rief umgehend die SVP auf den Plan. Sie erklärte, wenn Bundesrätin Dreifuss weiterhin einer derart „kostentreibende“ Politik nachgehe, müsse man sich überlegen, dem EDI das Dossier zu entziehen und es entweder dem EJPD resp. dem Gesamtbundesrat oder dem Parlament zuzuweisen [69]. Für ihre Entscheide fand Dreifuss hingegen die Unterstützung der restlichen Bundesratsparteien. Bei den traditionellen Von-Wattenwyl-Gesprächen im November wurde sie aber aufgefordert, zukünftig die politischen Konsultationen zu intensivieren, wenn es um Leistungen von grösserer Tragweite geht. Dabei wurde insbesondere an Präparate oder Behandlungen gedacht, die einen Wertestreit auslösen oder einen grösseren Kostenschub zur Folge haben könnten [70].
Nicht behandelt werden konnten im Berichtsjahr zwei Postulate, welche die paradoxe Situation thematisierten, dass die Krankenkassen heute die Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch übernehmen, jene für die Prävention aber nicht. Nationalrätin Dormann (cvp, LU) wollte den Bundesrat verpflichten, ärztlich verordnete Verhütungsmittel in den Grundleistungskatalog aufzunehmen, Nationalrätin Maury Pasquier (sp, GE) erhob die gleiche Forderung für die freiwillige Sterilisation. Beide Parlamentarierinnen stellten fest, dass – abgesehen von ethischen Überlegungen – Präventionsanstrengungen die Krankenversicherung letztlich weniger kosten als die Abdeckung eines Schwangerschaftsabbruchs resp. einer Geburt, ganz zu schweigen von den sozialen Kosten einer nicht gewollten oder nicht verantwortbaren Schwangerschaft. Obgleich der Bundesrat bereit war, beide Postulate entgegen zu nehmen, wurden sie von Abgeordneten der SVP bekämpft – jenes von Dormann von Haller (BE), jenes von Maury Pasquier von Bortoluzzi (ZH) – und damit vorderhand einem Beschluss des Rates entzogen [71]. Noch weniger Erfolg hatte eine Motion Maury Pasquier zur Rückerstattung der Leistungen von Podologen für die Fusspflege bei Diabetikern. Bundesrat Dreifuss erklärte, ihr Departement habe diese Frage bereits geprüft und negativ entschieden, da diese Dienstleistung vom Pflegepersonal in Spitälern und Heimen sowie den Spitex-Diensten angeboten werde; ein Grundsatz des KVG sei es, keine neuen Berufsgruppen zur sozialen Krankenversicherung zuzulassen, wenn eine Leistung schon von einer anderen anerkannten Berufsgruppe erbracht wird. Die Motion wurde mit 62 zu 41 Stimmen abgelehnt [72]. Ebenfalls verworfen wurde eine Motion Gysin (sp, BS), die verlangte, die Krankentransporte sollten vollumfänglich (und nicht wie heute in der Regel zu 50%) von der Grundversicherung übernommen werden. Gysin dachte dabei vor allem an schwerst kranke Langzeitpatienten, die mehrmals wöchentlich eine nicht zu Hause durchführbare Behandlung (Bestrahlung, Dialyse usw.) benötigen. Bundesrätin Dreifuss erinnerte daran, dass diese Frage bei der Einführung des neuen KVG geprüft worden sei, angesichts der schwierigen Überprüfbarkeit aber nicht Eingang ins Gesetz gefunden habe [73].
In Erwartung des Inkrafttretens des Bundesgesetzes über die künstliche Fortpflanzung auf den 1.1.2001 stellte sich auch die Frage, ob die Befruchtung im Reagenzglas, die pro Zyklus zwischen 5000 und 8000 Fr. kostet, kassenpflichtig werden soll. Die eidgenössische Leistungskommission, die zuhanden des EDI Empfehlungen für die Kassenpflicht von Medikamenten und Behandlungen abgibt, entscheid im Grundsatz bereits, dass die In-vitro-Fertilisation darunter fallen soll, konnte sich aber noch nicht über das Ausmass und die Bedingungen einigen [74].
 
[47] Böcken, Jan e.a. (Hg.), Reformen im Gesundheitswesen, Ergebnisse der internationalen Recherche, Gütersloh (D) 2000; CHSS, 2000, S. 286 f.; Presse vom 7.9.00. 47
[48] AB NR, 2000, S. 803 ff.; AB SR, 2000, S. 655. 48
[49] Presse vom 17.6.00; NZZ, 21.7.00. Siehe SPJ 1998, S. 265. Die Studie zum Risikoausgleich regte an, ein über Steuern finanzierter Hochrisikopool solle die Kosten für die zwei oder vier Prozent teuersten Versicherten übernehmen (CHSS, 2000, S. 149 ff.). Eine Motion des 1999 nicht wiedergewählten Berner SVP-Nationalrats und Interessenvertreters der Krankenkasse „Visana“, Rychen, neben den Faktoren Alter und Geschlecht seien auch die Gesundheitskosten der Versicherten in den letzten zwei Jahren für den Risikoausgleich zu berücksichtigen, wurde auf Antrag des Bundesrates nur als Postulat angenommen (AB NR, 2000, S. 370. Siehe SPJ 1999, S. 277 f.). Zum Funktionieren des Risikoausgleichs siehe auch die Antwort des BR auf eine Interpellation der SVP-Fraktion in AB NR, 2000, S. 1608. 49
[50] AB SR, 2000, S. 880. 50
[51] BBl, 2000, S. 4083 ff. 51
[52] AB SR, 2000, S. 514 ff., 589 und 720; AB NR, 2000, S. 968 ff. und 1207. 52
[53] AB NR, 2000, S. 974. 53
[54] Presse vom 10.3.00. Zum „Visana-Entscheid“ und den gesetzgeberischen Konsequenzen siehe SPJ 1998, S. 267 f. und 1999, S. 277. 54
[55] AB SR, 2000, S. 879 f. 55
[56] CHSS, 2000, S. 82 ff.; Presse vom 24.2. und 14.9.00. 56
[57] NZZ, 18.7.00. 57
[58] SPJ 1999, S. 247. 58
[59] AB SR, 2000, S. 48 ff. 59
[60] AB NR, 2000, S. 832 f. 60
[61] AB NR, 2000, S. 364. Siehe SPJ 1999, S. 274.61
[62] LT, 14.10.00. 62
[63] BBl, 2000, S. 4267 ff.; Presse vom 2.6.00. Mit diesem Entscheid desavouierte der BR Kollegin Dreifuss, welche im Vorjahr vor der Presse die Auffassung vertreten hatte, die Kopfprämien seien sozialpolitisch an ihre Limiten gelangt (SPJ 1999, S. 275). Zum Umstand, dass die KK-Prämien den Mittelstand weiterhin überproportional belasten, siehe a.a.O., S. 274. 63
[64] AB NR, 2000, S. 1501 ff., 1507 ff. und 1547 ff. Zu weiteren Volksinitiativen im Bereich Gesundheitspolitik siehe oben, Teil I, 7b (Spitäler und Medikamente). 64
[65] AB NR, 2000, S. 62 ff.; CHSS, 2000, S. 158 ff. (Übersicht über die Teilrevision). Siehe SPJ 1999, S. 277. 65
[66] BBl, 2001, S. 741 ff.; Presse vom 19.9.00. 66
[67] BZ, 6.12.00. Das KSK schätzte, dass bei den Kassen Betreibungen von rund 300 Mio Fr. für ausstehende Prämienzählungen offen sind (BZ, 28.8.00). 67
[68] Presse vom 11.7. und 16.9.00. Das BSV nahm an, dass die zwölf neuen Leistungen weniger als ein halbes Prozent Prämienanstieg bewirken werden, die Heroinabgabe gar nur Promille. Siehe SPJ 1999, S. 256 ff. NR Heim (cvp, SO) reichte eine von 70 Parlamentariern aus CVP, FDP und SVP mitunterzeichnete Motion auf Rückgängigmachung des Heroinentscheids ein (Geschäft 00.3459). Die Krankenkassen kündigten ebenfalls an, sie würden alle rechtlichen und politischen Mittel ausschöpfen, um die Kassenpflicht der Heroinabgabe abzuwenden (Bund, 4.8.00). 68
[69] Presse vom 11.7. und 18.7.00; AZ, 4.10.00. Eine Motion Bortoluzzi (svp, ZH) aus dem Jahr 1998, in welcher er u.a. eine Einschränkung des Grundversicherungspakets verlangte, wurde vom NR in der Frühjahrssession mit 71:67 Stimmen verworfen (AB NR, 2000, S. 371 ff.). Die Überweisung eines Postulats der FDP-Fraktion zur Überprüfung des Grundleistungskatalogs scheiterte vorderhand am Widerstand von NR Gross (sp, TG): a.a.O., S. 451. Gegen den Willen des BR, der für Abschreibung plädierte, wurde mit 91:39 Stimmen ein Postulat Guisan (fdp, VD) angenommen, das den BR auffordert abzuklären, wie vielversprechende neueste Medikamente, die noch nicht kassenzulässig sind, abgegolten werden können (a.a.O., S. 368 f.). 69
[70] Presse vom 11.11.00. Da Heroin für seine Kassenzulässigkeit vom IKS anerkannt werden muss, was sich im Berichtsjahr verzögerte, rechnet das BSV erst für 2002 mit der Vergütung durch die Krankenkassen (Presse vom 16.9.00). 70
[71] AB NR, 2000, S. 1197 f. 71
[72] AB NR, 2000, S. 374. 72
[73] AB NR, 2000, S. 370 f. 73
[74] TA, 20.7.00; Bund, 29.12.00. 74