Année politique Suisse 2000 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
Jenische
Am 1. Dezember publizierte die Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (Bergier-Kommission) einen
Bericht zur Haltung der Schweiz gegenüber den Roma, Sinti und Jenischen zur Zeit des Nationalsozialismus. Der Bericht konstatierte eingangs eine absolut desolate Quellenlage in diesem Bereich. Da es keine Flüchtlingskategorie „Zigeuner“ gab und die Fahrenden sich oftmals weder vom Namen noch von der Konfession her von anderen Europäern unterscheiden, konnten die Historiker nicht feststellen, ob und wie viele der abgewiesenen oder aufgenommenen Flüchtlinge aus dieser Bevölkerungsgruppe stammten. Anhand von Einzelschicksalen stellten die Autoren deshalb die Kriegsjahre in den Zusammenhang der schweizerischen Zigeunerpolitik im 20. Jahrhundert, die ganz auf
Abwehr und
Disziplinierung ausgerichtet war. So war bereits 1906 eine Grenzsperre gegenüber ausländischen Fahrenden eingeführt worden, die erst 1972 aufgehoben wurde. Die inländischen Zigeuner (Jenische) wurden mit allen Mitteln zur Sesshaftigkeit gedrängt und sozialfürsorgerischen Massnahmen unterstellt. Angesichts dieser Haltung ist es nicht verwunderlich, dass die Schweiz ihre auf Abschottung bedachte Politik weiter anwendete, selbst als sie ab 1940 Kenntnis von der Verschleppung von Fahrenden und ab 1942 über Massenmorde durch die Nationalsozialisten hatte. In einer Stellungnahme zu der Publikation der Bergier-Kommission sprach der Bundesrat den Betroffenen sein tiefes Mitgefühl aus. Gleichzeitig erinnerte er an die Anstrengungen zur Entschädigung von Opfern „einer ungerechten und grausamen Politik“, zur Aufarbeitung des Verhältnisses zu den Fahrenden, beispielsweise mit der Studie über die „Aktion Kinder der Landstrasse“ sowie an die eingeleiteten Bestrebungen, „um die Lage der Fahrenden zu verbessern und ihre kulturelle Identität zu fördern“
[42].
Ob der Bundesrat tatsächlich sein Verhältnis zu den Fahrenden aufgearbeitet hat, wurde kurz darauf bezweifelt. Er schob nämlich die Jenischen vor, um sich einer Ratifizierung des ILO-Abkommens 169 zu widersetzen. Dieses „Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern“ gilt nach Aussagen der Gesellschaft für bedrohte Völker als das weitreichendste und umfassendste internationale Abkommen zur Sicherung indigener Rechte. Die Konvention, die seit ihrem Inkrafttreten im Jahr 1991 von 14 Staaten unterzeichnet wurde, regelt nicht nur die Rechte und Pflichten zwischen Staaten und ihrer eigenen Urbevölkerung, sondern soll auch dazu beitragen, dass ein international geltender Normenkatalog geschaffen wird. Auch Staaten ohne eigene Urbevölkerung sind aufgerufen, das Übereinkommen zu ratifizieren, um die Einhaltung der Normen zu kontrollieren und gegebenenfalls Druck auf fehlbare Regierungen auszuüben.
Aus Anlass einer Motion Gysin (sp, BS), die eine Ratifizierung des Übereinkommens verlangte und in der Frühjahrssession vom Nationalrat (wenn auch nur als Postulat) überwiesen wurde, bat der Bundesrat das Seco, das federführend für die ILO-Abkommen ist, um einen Bericht. Dieser kam zum Schluss, die Konvention sollte
nicht ratifiziert werden, da ihr Wirkungsbereich unklar gefasst sei, weshalb nicht mit absoluter Sicherheit zu bestimmen sei, ob das Abkommen nach einer Ratifizierung nicht auch auf die Fahrenden anwendbar wäre. Da das Übereinkommen nicht nur die Gleichstellung der Indigenen in der Arbeitswelt verankert, sondern auch Grundrechte festlegt, wie das Recht auf ein eigenes Territorium, eine eigene Sprache, Lebensweise und Kultur, könnte eine Geltendmachung dieser Rechte durch die Jenischen für die Schweiz ungeahnte Konsequenzen in den Bereichen Raumplanung, Erziehung, Rechtsorganisation und Arbeitsbedingungen haben
[43]. Mit der Begründung, diese Argumentation zeuge von einer völligen Unkenntnis der Fahrenden in der Schweiz, reichte die
aussenpolitische Kommission des Nationalrates in der Wintersession eine weitere Motion ein, mit welcher sie den Bundesrat beauftragen will, die nötigen Schritte für eine Ratifikation des Übereinkommens in die Wege zu leiten
[44].
[42]
Lit. Unabhängige; Presse vom 2.12.00. Siehe
SPJ 1998, S. 290 f. 42
[43]
AB NR, 2000, S. 449. 43
[44] Geschäft 00.3604;
Bund, 18.12.00.44
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