Année politique Suisse 2000 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
Behinderte
Der Bundesrat beschloss, der
Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“ sowie zwei parlamentarischen Vorstössen einen indirekten Gegenvorschlag
entgegen zu stellen. Das
neue Behindertengesetz, das Mitte Jahr in die Vernehmlassung ging, konkretisiert die von der revidierten Verfassung geforderte Beseitigung der Benachteiligungen im öffentlichen Leben. Da der einklagbare subjektive Anspruch auf Zugang zu den Rechten in den Bereichen öffentlicher Verkehr, Bauten, Fernsehen, Telefondienstleistungen, Bildung und Arbeit in einer ersten Konsultation von der Wirtschaft und den bürgerlichen Parteien wegen der unklaren Folgekosten abgelehnt worden war, stellte der Bundesrat je eine Variante mit und ohne diesen Rechtsanspruch zur Diskussion
[81]. Die Schaffung eines Gesetzes zur Gleichstellung von behinderten mit nicht behinderten Menschen wurde auf breiter Ebene begrüsst. Die SP und die Behindertenverbände erachteten allerdings die vorgeschlagenen Massnahmen als zu wenig weit gehend, da insbesondere die Bereiche Schule und Arbeit zu wenig konkret formuliert seien. Die bürgerlichen Parteien wiesen erneut auf finanziell unklaren Folgen für allfällige Um- oder Neubauten hin
[82].
Im Dezember verabschiedete der Bundesrat seine Botschaft zum
Gesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen behinderter Menschen. Es trägt den in der Vernehmlassung ausgedrückten Bedenken insofern Rechnung, als die Invaliden ein
Beschwerde- und Klagerecht erhalten. Die Behindertenverbände reagierten verhalten auf die bundesrätlichen Vorschläge. Das Gesetz gehe zwar in die richtige Richtung, aber es genüge noch nicht. Insbesondere die Bereiche Arbeit (lediglich Förderung der Anstellung von Behinderten in der Bundesverwaltung) und Schule (nur Aufforderung an die Kantone, behinderten Kindern und Jugendlichen eine den Bedürfnissen angepasste Grundschulung zu gewährleisten) seien praktisch ganz ausgeklammert geblieben. Als besonders störend empfanden die Behinderten, dass das Gesetz für die Anpassungen in den öffentlichen Bauten und im öffentlichen Verkehr eine
Übergangsfrist von 20 Jahren vorsieht, und dass der Abbau von Hürden nur zwingend vorgeschrieben wird, wenn der wirtschaftliche Aufwand vertretbar ist. Wegen dieser Mängel wollen die Verbände an ihrer Initiative festhalten
[83].
Die 15 wichtigsten
Organisationen der privaten Behindertenhilfe, zusammengeschlossen in der Dachorganisatoren-Konferenz DOK, legten Anfangs September einen
eigenen Gesetzesentwurf zur Gleichstellung der Invaliden vor. Ständerat Brändli (svp, GR) erklärte als Präsident der Pro Infirmis Schweiz, der Gesetzesentwurf des Bundesrates werde dem umfassenden Anspruch auf Gleichstellung in allen Lebensbereichen nicht gerecht. So seien die Bestimmungen, die den Zugang zu öffentlichen Gebäuden regelten, zum Teil weniger verbindlich gefasst als in kantonalen Baugesetzen. Auch seien keine Anreize und Lenkungsabgaben für die Eingliederung der Behinderten in die Privatwirtschaft vorgesehen. Die DOK verlangte, dass innert zehn Jahren alle von der Allgemeinheit genutzten Bauten und Anlagen, wie Verwaltungsgebäude, Spitäler, Kirchen, Kinos oder Restaurants, behindertengerecht ausgestattet und somit für alle zugänglich sind. Die DOK beharrte auf dem Prinzip eines subjektiven Rechtsanspruchs. Sie forderte zudem ein Verbandsbeschwerderecht und einen eidgenössischen Beauftragten für die Behindertengleichstellung
[84].
Der Ständerat lehnte eine 1996 vom Nationalrat genehmigte parlamentarische Initiative Suter (fdp, BE) ab, die den entsprechenden Artikel in der Bundesverfassung (Art. 8 Abs.2) griffiger formulieren und insbesondere einen
direkt einklagbaren Anspruch einführen wollte. Hingegen überwies er eine Motion Gross (sp, TG), die den Bundesrat auffordert, den Verfassungsartikel zügig in einem Gesetz umzusetzen
[85].
Im Vorjahr hatte der Nationalrat gegen den Willen des Bundesrates, der Überweisung in Postulatsform beantragt hatte, eine Motion seiner SGK zur Erstellung einer
Behindertenstatistik sowie eine Motion Borel (sp, NE) für einen erleichterten Zugang von Behinderten zur
Wohneigentumsförderung mit Mitteln der beruflichen Vorsorge angenommen. Der Ständerat folgte dem Bundesrat und nahm die beiden Vorstösse nur als Postulate an
[86].
[81] Presse vom 11.2. und 6.6.00. Siehe
SPJ 1999, S. 306. 81
[83]
BBl, 2001, S. 1715 ff.; Presse vom 12.12.00. Die Behindertenverbände reagierten empört auf die Ankündigung der SBB, in den Regionalzügen keine Rollstuhltransporte mehr anzubieten und die Anmeldefrist für Transporte von einer auf zwei Stunden auszudehnen (Presse vom 31.3.00;
Baz, 9.4.00;
NZZ, 13.4.00;
24h, 15.12.00). 83
[84] Presse vom 5.9.00. 84
[85]
AB NR, 2000, S. 269 f. Siehe
SPJ 1996, S. 288,
1998, S. 298 f. und
1999, S. 306. 85
[86]
AB SR, 2000, S. 108 f. Siehe
SPJ 1999, S. 305 f. 86
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