Année politique Suisse 2000 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
 
Kirchen
Trotz massiver Kritik in den letzten Jahren hielt das Bundesgericht an der seit 1878 bestehenden Regelung fest, wonach auch juristische Personen Kirchensteuer bezahlen müssen, wenn ihr Wohnsitzkanton (alle Kantone ausser Basel-Stadt, Aargau, Waadt, Genf, Appenzell-Ausserrhoden und Schaffhausen) es so bestimmt. Die Lausanner Richter wiesen damit die Beschwerde eines Thurgauer Unternehmens ab, das argumentierte, angesichts der veränderten Aufgaben der Kirchen, die in den letzten zwanzig Jahren insbesondere ihr Engagement im Sozialbereich an den Staat abgetreten hätten, sei es an der Zeit, die juristischen Personen aus der Kirchensteuerpflicht zu entlassen, da die dahinter stehenden natürlichen Personen durch die Belastung der Geschäftsergebnisse mit der Kirchensteuer in ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit verletzt würden. Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab, da sich im Kirchenrecht der Kantone in der letzten Zeit kaum etwas verändert habe; auch die neue Bundesverfassung und die diesbezüglichen parlamentarischen Materialien seien nicht dazu angetan, eine Praxisänderung herbeizuführen. Es stehe den Kantonen frei, ihre diesbezüglichen Regelungen zu revidieren, doch sei es nach wie vor nicht Sache des Bundesgerichtes, dies als Verfassungsrichter für die Kantone zu tun [53].
In der Bundesverfassung von 1874 fanden aufgrund des Kulturkampfs gegen Rom drei Verfassungsartikel mit deutlich anti-katholischer Stossrichtung Eingang: das bereits in der Verfassung von 1848 verankerte Jesuitenverbot, das Verbot, neue Klöster zu errichten, sowie der sogenannte „Bistumsartikel“, der die Neugründung bzw. die Gebietsveränderung von Bistümern von einer Bewilligung des Bundes abhängig macht. Der Bistumsartikel wurde nur ein einziges Mal angewendet (1876) und betraf nicht diejenigen, gegen die er eigentlich gerichtet war: Als sich die Christkatholiken aus Protest gegen das im ersten Vatikanischen Konzil beschlossene Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes von Rom trennten und ein eigenes Bistum errichten wollten, mussten sie beim Bund um Genehmigung nachsuchen; das Verfahren war in ihrem Fall reine Formalität. 1964 beantragte eine Motion im Nationalrat, die drei „Kulturkampfartikel“ abzuschaffen. Der Rat war bereit, alle drei antikatholischen Bestimmungen zu streichen. Auf Antrag des Bundesrates, der das „Fuder nicht überladen“ wollte, fielen dann aber 1973 in der Volksabstimmung nur der Jesuiten- und der Klosterartikel. Der Bistumsartikel sollte mit dem Verfassungsentwurf von 1978 verschwinden, doch gedieh dieser nicht zur Abstimmungsreife. 1994 unternahm der Aargauer CVP-Ständerat Huber mit einer parlamentarischen Initiative einen neuen Vorstoss. Diesem wurde 1995 vom Plenum Folge gegeben, die Arbeiten aber im Hinblick auf die Totalrevision der Bundesverfassung sistiert [54].
In den parlamentarischen Diskussionen um diese Revision beantragte der Bundesrat erneut erfolgreich, den Bistumsartikel auszuklammern, um das Gesamtwerk nicht durch eine Debatte mit ungewissem Ausgang zu gefährden [55]. Nach einer kontroversen Vernehmlassung verzichtete der Ständerat auf die gesetzgeberische Umsetzung der parlamentarischen Initiative Huber und beauftragte den Bundesrat mit einer Motion, sein Anliegen durch eine Vorlage zu ersetzen, die den Bistumsartikel im Sinn einer generellen Bestimmung über das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften revidieren sollte [56]. Dieses zögerliche Verhalten genügte nun dem Nationalrat nicht mehr. Mit Zustimmung des Bundesrates gab er einer parlamentarischen Initiative seiner Staatspolitischen Kommission Folge, die eine ersatzlose Streichung des Bistumsartikels verlangte. Hauptargument war, dass Art. 72 Abs. 3 BV die Religionsfreiheit beschränkt, die römisch-katholische Kirche diskriminiert und dem Völkerrecht widerspricht. Die ständerätliche Motion lehnte er hingegen mit 150 zu 6 Stimmen deutlich ab. Er folgte damit dem Bundesrat, der die Befürchtung äusserte, ein umfassender Religionsartikel würde an zu vielen offenen Fragen (neue weltanschauliche Gruppierungen, konfessionelle Privatschulen, Kantonshoheit im Kultusbereich) scheitern resp. über Jahre hinaus mit emotionalen Argumenten die eigentlich unbestrittene Forderung nach der Aufhebung des Bistumsartikels blockieren [57]. Der Ständerat schloss sich bei der parlamentarischen Initiative einstimmig der grossen Kammer an [58].
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Muslime
Das in der Stadt Bern im Vorjahr gutgeheissene muslimische Bestattungsfeld auf einem bis anhin rein christlichen Friedhof konnte im Januar seiner Bestimmung übergeben werden [59].
Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) rief zu mehr Toleranz gegenüber der muslimischen Bevölkerung auf, die mit 200 000 Personen eine der wichtigsten Religionsgemeinschaften der Schweiz ist. Insbesondere wurden die Medien kritisiert, die im Zusammenhang mit Gewalttaten fast immer die Zugehörigkeit zum Islam betonten, während bei Christen die Konfession meistens nicht erwähnt werde. Muslime seien wie Christen keine einheitliche ethnische Gruppe, weshalb Verallgemeinerungen nicht angebracht seien. Die EKR befand, der Entscheid muslimischer Frauen zum Tragen des Kopftuches in der Öffentlichkeit müsse respektiert werden und dürfe nicht zu einer Diskriminierung führen; allerdings sprach sie sich auch dafür aus, dass Frauen in symbolischen Rollen, beispielsweise als Lehrerinnen an konfessionell neutralen Schulen, darauf verzichten sollten, herausragende Zeichen religiöser Zugehörigkeit zu tragen. Kritisiert wurde von der ERK die restriktive Handhabung der Arbeitsbewilligung für muslimische Seelsorger. Die Schweiz verlangt von den islamischen Vorbetern den Nachweis einer theologischen Ausbildung sowie eine Zustimmung des Entsendungslandes. Damit soll verhindert werden, dass fundamentalistische und möglicherweise radikale Splittergruppen in der Schweiz aktiv werden können. Die ERK möchte hier eine liberalere Haltung, besteht aber dennoch darauf, dass sich die muslimischen Seelsorger der Integration ihrer Gläubigen verpflichten [60].
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Vereinnahmende Bewegungen
Entgegen dem Bericht der Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Nationalrates vom Vorjahr, sieht der Bundesrat keinen Anlass, eine schweizerische „Sektenpolitik“ zu definieren. In seiner Stellungnahme attestierte der Bundesrat der GPK, ein gesellschaftlich bedeutendes Thema aufgegriffen zu haben. Der Ruf nach staatlichen Eingriffen zum Schutz der Betroffenen und ihrer Angehörigen sei zwar verständlich, doch sei das Staatswesen an die Grenzen der Rechtsordnung gebunden. Der Bundesrat müsse die Glaubens- und Gewissensfreiheit respektieren und der föderalistischen Struktur der Schweiz, welche die Kultushoheit den Kantonen überantwortet, Rechnung tragen. Er nehme gegenüber Sekten und vereinnahmenden Bewegungen seit Jahren eine klare Haltung ein, doch sei es nicht seine Aufgabe, eine spezielle Sektenpolitik zu formulieren. Die Staatsschutzorgane dürften nur dann aktiv werden, wenn konkrete Anzeichen einer Gefährdung der inneren Sicherheit gegeben seien, es sich um rassistische Aktivitäten oder organisierte Kriminalität handle resp. ein ausländisches Verbot der Organisation vorliege. Der Präsident der GPK, der Berner SP-Nationalrat Tschäppat, bezeichnete die Stellungnahme des Bundesrates als „peinlich“. Es gehe nicht um die Glaubens- und Religionsfreiheit, sondern um den Missbrauch von abhängigen Mitgliedern in vereinnahmenden Gruppierungen. Die Haltung der Landesregierung sei auch im europäischen Umfeld unverständlich. Frankreich, Deutschland, Österreich und Belgien hätten in der Sektenfrage Massnahmen ergriffen, obgleich auch diese Länder sich der Glaubensfreiheit verpflichtet fühlten [61].
Anders als im Vorjahr Basel-Stadt, erreichte die Stadt Zürich im Kampf gegen die als unlauter eingestuften Werbemethoden von „Scientology“ vor Bundesgericht nur einen Teilerfolg. Im Gegensatz zum Basler Fall, wo sich die Scientologen auf die Religionsfreiheit berufen hatten, machten sie nun die Gewerbefreiheit geltend, um weiterhin in der Öffentlichkeit Propagandamaterial für ihre Kurse verteilen zu dürfen. Die Lausanner Richter befanden, Zürich könne die Verteilung von Werbeprospekten zwar gewissen Bedingungen unterstellen, nicht aber generell verbieten [62]. Im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich, wo die Aktivitäten von „Scientology“ wegen nachweislicher Unterwanderung von Behörden und Gesellschaft seit mehreren Jahren vom Staatsschutz eng überwacht werden, kam das Bundesamt für Polizei zum zweiten Mal nach 1998 zum Schluss, es dränge sich keine besondere Beobachtung im Hinblick auf die innere Sicherheit des Staates auf [63].
 
[53] Presse vom 12.8.00. Ausführliche Darstellung in: in Schweizerisches Jahrbuch für Kirchenrecht, 2000, S. 111-120.53
[54] SPJ 1995, S. 298.54
[55] SPJ, 1998, S. 329 .55
[56] SPJ 1999, S. 333 f.56
[57] BBl, 2000, S. 4038 ff. (Bericht SPK) und 5581 ff. (Stellungnahme des BR); AB NR, 2000, S. 1030 ff. und 1615 (pa.Iv.) sowie 1041 (Motion); Presse vom 28.9.00; NZZ, 2.10.00. Vgl. SPJ 1999, S. 330. Vor der Debatte im NR warnten besorgte Katholiken, unter ihnen der von Rom verfemte Theologe Hans Küng und der St- Galler Politologe Alois Riklin sowie der Staats- und Verfassungsrechtler Alfred Kölz vor einem unbedachten Vorgehen in dieser Materie: sie machten auf den wenig bedachten Aspekt des ungesicherten ortskirchlichen Bischofswahlrecht bei der Errichtung neuer Bistümer aufmerksam, welches es ermöglichen würde, dass die römische Hierarchie ohne demokratische und ortskirchliche Legitimation nach Gutdünken Entscheide in Bistumsfragen vornehmen könnte, wie sie beispielsweise bei der Einsetzung des dem „Opus Dei“ nahestehenden Bischof Haas in Chur erfolgt waren, die zu einer tiefen Spaltung der katholischen Kirche in der Schweiz geführt hatte (TA, 22.9.00).57
[58] Amt. Bull. SR, 2000, S. 752 ff. 944. Siehe dazu auch: (K)Ein Koch-buch. Anregungen und Rezepte für eine Kirche der Hoffnung. Festschrift zum 50. Geburtstag von Bischof Dr. Kurt Koch, Freiburg 2000 (mehrere Artikel zum Bistumsartikel).58
[59] Bund, 15.1.00. Vgl. SPJ 1999, S. 334.59
[60] Presse vom 19.1.00. Vgl. SPJ 1997, S. 331.60
[61] Presse vom 30.6.00. Diese Haltung des BR wurde auch von der „Infosekta“, einer privaten Dokumentationsstelle, die seit rund zehn Jahren vereinnahmende Gruppierungen beobachtet, als das Phänomen über Gebühr verharmlosend scharf kritisiert. Siehe dazu Lit. Infosekta sowie Lit. Pahud de Mortanges. Vgl. SPJ 1999, S. 334 f.61
[62] LT, 1.7.00. Siehe dazu die ausführliche Darstellung in: Schweizerisches Jahrbuch für Kirchenrecht, 2000, S. 120-124. Vgl. SPJ 1999, S. 335. Überraschend erteilte der Zürcher Bildungsrat der Scientology-Privatschule Ziel (Zentrum für individuelles und effektives Lernen) eine generelle Bewilligung zum Führen einer Schule für Kinder und Jugendliche, obgleich das Bundesgericht 1997 die aus Scientologen zusammengesetzte Trägerschaft als nicht vertrauenswürdig bezeichnet hatte (TA, 24.6.00).62
[63] Presse vom 16.12.00.63