Année politique Suisse 2001 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit / Kollektive Arbeitsbeziehungen
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Gesamtarbeitsverträge
Eine im Auftrag des BFS erstellte Analyse der wichtigsten Gesamtarbeitsverträge (GAV) wies nach, dass die Verhandlungen über die Mindestlöhne vor allem für unqualifizierte Arbeitnehmende Wirkung zeigen. Zwischen 1999 und 2001 stiegen so die gesamtarbeitsvertraglichen Mindestlöhne der unqualifizierten Arbeitnehmer mit durchschnittlich 7% deutlich stärker als jene von qualifizierten (+2,9%) und höher qualifizierten Angestellten (+3,0%). Unqualifizierte Arbeitnehmende mit Einzelverträgen verdienen oft weniger als den gesamtarbeitsvertraglichen Mindestlohn; dies trifft vor allem auf Wirtschaftsbranchen zu, die nur schwach von GAV abgedeckt sind. 2001 waren in der Schweizer Privatwirtschaft 34% aller Arbeitnehmenden gesamtarbeitsvertraglich ausgehandelten Mindestlöhnen unterstellt. Die am stärksten abgedeckten Branchen, die auch aufgrund der gesamten Beschäftigungszahl bedeutend sind, waren das Gastgewerbe (89%), das Baugewerbe (70%), das Kreditgewerbe (61%) und der Detailhandel (40%) [26].
Angesichts der guten Baukonjunktur starteten die Arbeitnehmerverbände des Baugewerbes mit Rückenwind in die Verhandlungen für einen neuen Landesmantelvertrag. Sie verlangten die 37,5-Stunden-Woche, 250 Fr. mehr Lohn und eine allgemeine Pensionierung mit 60 Jahren [27]. In der Frage des Rentenalters zeigten sich die Arbeitgeber entgegenkommend, nicht aber beim Lohn und der Arbeitszeit. Für ihre Haltung machten sie Kostensteigerungen aus früheren Lohnanpassungen sowie die harte Konkurrenz geltend. Die Gewerkschaften reagierten darauf mit einem nationalen Protesttag am 19. November, an dem rund 7000 Bauarbeiter teilnahmen [28].
Die Sozialpartner im Gastgewerbe einigten sich auf einen neuen GAV für die rund 225 000 Beschäftigten. Hauptpunkt war die teilweise substantielle Erhöhung der Mindestlöhne, die in der Regel nicht mehr unter 3000 Fr. liegen dürfen. Allerdings erreichten die Arbeitgeber, dass in wirtschaftlich schwachen Regionen – wozu sämtliche Regionen gehören, die unter das Bundesgesetz über die Investitionshilfe in Berggebieten fallen – die Mindestlöhne um 10% unterschritten werden dürfen. Die Löhne für Hilfskräfte können in den ersten sechs Monaten der Anstellung um 10% (ab 2002) resp. um 5% (ab 2003) unter den vertraglichen Mindestlöhnen liegen [29].
Erstmals kam es in der Reinigungsbranche zu einem GAV. Er sieht vor, dass alle Angestellten einen 13. Monatslohn und Nettolöhne von mindestens 3000 Fr. erhalten; über 50-jährigen Vollzeitbeschäftigten wird zudem eine fünfte Ferienwoche gewährt. Die Branche machte die Unterzeichnung allerdings davon abhängig, dass der GAV vom Bundesrat für allgemeinverbindlich erklärt wird, um nicht die Konkurrenzfähigkeit von Billigfirmen zu verstärken [30].
Anders als im Vorjahr bei der SBB ging die Aushandlung des ersten GAV für die rund 50 000 Mitarbeitenden der Post, die ab 2002 obligationenrechtlich angestellt sind, nicht so schlank über die Bühne. Während die christliche Gewerkschaft Transfair der Regelung deutlich zustimmte, meldeten die Westschweizer und Tessiner Sektionen der Gewerkschaft Kommunikation Widerstand an. Dank grosszügiger Ferienregelung und einer Garantie der bisherigen Löhne bis 2004 stimmte aber doch eine Mehrheit dem GAV zu [31].
Die Gewerkschaft SMUV warf der Maschinenindustrie eine „Verluderung der Sitten“ vor, weil bei Massenentlassungen die Pflicht zur Information und Konsultation der Arbeitnehmenden weitgehend ausgehöhlt werde. In rund 30 Abbaufällen des laufenden Jahres sei das im OR und im GAV vorgesehene Konsultationsverfahren missachtet worden. Die Gewerkschaft verlangte deshalb eine verschärfte Informations- und Offenlegungspflicht im OR und im GAV [32].
 
[26] Presse vom 27.3.02. 26
[27] Presse vom 15.5.01. 27
[28] TA, 30.5., 15.8. und 20.11.01. 28
[29] TA, 30.5. und 19.6.01; NZZ, 24.8.01. Die beiden Grossbetriebe des Detailhandels (Coop und Migros), die in den letzten Jahren besonders ins Visier der Gewerkschaften geraten waren, verpflichteten sich, keine Bruttolöhne unter 3000 Fr. mehr auszurichten; die Gewerkschaften blieben bei ihrer Forderung, dass im gesamten Detailhandel die Nettolöhne auf dieses Niveau angehoben werden müssen (SHZ, 2.8.01). 29
[30] NLZ, 6.1.01. 30
[31] TA, 4.9.01; TG, 11.10.01. Die Direktion der SBB erklärte, die Einführung der im GAV festgehaltenen 39-Stunden-Woche habe sich nicht bewährt, sondern zu einer massiven Ausdehnung der Überzeit geführt: LT, 17.12.01. Siehe SPJ 2000, S. 190 f. 31
[32] Presse vom 24.11.01. 32