Année politique Suisse 2001 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
Was die beiden Parlamentskammern im Vorjahr vorgespurt hatten, setzte der Ständerat bei der Beratung der 2. Teilrevision des KVG um, indem er beschloss, den
Vertragszwang
zwischen den Kassen und den Leistungserbringern
im ambulanten Bereich grundsätzlich aufzuheben, sofern die medizinische Versorgung sichergestellt ist; der Bundesrat hatte dies lediglich für die über 65-jährigen Ärzte vorgeschlagen. Bundesrätin Dreifuss zeigte sich nicht überzeugt von der positiven Wirkung der Massnahme, die sie als Gefährdung der Solidarität in der Grundversicherung erachtet, da der
Verlust der freien Arztwahl zu mehr Zusatzversicherungen und somit zu einer Zweiklassenmedizin führen könne; sie vermochte sich mit ihren Argumenten aber nicht durchzusetzen. Am meisten zu Diskussionen Anlass gaben die Kriterien, nach denen die Auswahl jener Ärzte vorgenommen werden soll, die nach wie vor zu Lasten der Grundversicherung praktizieren dürfen. Man einigte sich schliesslich auf die Formulierung, diese müssten ihre Leistungen wirtschaftlich effizient und wissenschaftlich begründet anbieten. Da Konflikte zwischen den Kassen und der Ärzteschaft vorprogrammiert sind, will der Ständerat in diesen Fällen tripartite
Kommissionen (Kassen, Ärzte und Kantonsvertreter) zur Schlichtung einsetzen; er vehehlte aber nicht, dass ihm sein Modell noch nicht in allen Punkten ausgegoren scheint, weshalb er auf die Beratung durch den Nationalrat setzt, um die Kriterien stringenter zu formulieren
[15].
Gegen den Willen des Bundesrates, der vor den unabsehbaren Folgen eines derartigen Systemwechsels warnte, nahm der Nationalrat knapp eine Motion Sommaruga (sp, BE) an, die den Bundesrat verpflichten wollte, im KVG die obligatorische und flächendeckende Einführung des
Hausarztmodells (oder ähnlicher Strukturen wie HMO bzw. Ärztenetze) vorzusehen. Von der „Gatekeeper“-Funktion dieser ersten medizinischen Anlaufstelle versprach sich die Motionärin Einsparungen von 10-15% der Kosten in der Grundversicherung. Die Zustimmung zur Motion kam vor allem dank der Unterstützung durch die FDP zustande. Der Ständerat nahm den Vorstoss hingegen nur als Postulat an
[16].
Nach langen Vorarbeiten schienen sich die Tarifpartner (Konkordat der Krankenversicherer, FMH, Spitäler und Sozialversicherungen) auf ein
einheitliches Tarifssystem (
TarMed 01) zur Abgeltung der ärztlichen Leistungen einigen zu können, obgleich innerhalb der FMH nach wie vor starke Querelen in Gang waren. Insbesondere die Untervereinigung der invasis und operativ tätigen Ärzteschaft (FMS) befürchtete massive Einkommenseinbussen, da die Tarifrevision einerseits die diagnostische und beratende Funktion der Ärzte aufwerten, andererseits kostenneutral ausgestaltet sein soll. Die FMH zögerte deshalb ihre definitive Zustimmung zu den Detailbestimmungen immer wieder hinaus. Im Mai stimmte sie dem TarMed für den Bereich der obligatorischen Unfall-, Militär- und Invalidenversicherung zwar zu, verlangte aber für den Krankheitsbereich, der rund 95% aller Ausgaben betrifft, Zusatzverhandlungen. Am 30. August, dem allerletzten vom EDI fixierten Termin, unterschrieb die FMH das Vertragswerk. Das EDI bekundete wenig Begeisterung, da seiner Meinung nach die Frage der Kostenneutralität nur ungenügend transparent gemacht worden sei. Im Dezember stimmte auch die Ärztekammer grundsätzlich zu, beschloss aber, in den ersten Monaten von 2002 eine Urabstimmung unter den knapp 30 000 FMH-Mitgliedern durchzuführen. Die FMS drohte mit Austritt aus der Verbindung
[17].
Mit dem komfortablen Mehr von 109 zu 62 Stimmen – und im Einverständnis mit dem Bundesrat – gab der Nationalrat einer parlamentarischen Initiative Suter (fdp, BE) auch in der zweiten Phase Folge und unterstellte die
Assistenzärzte dem
Arbeitsgesetz, von dem sie bisher ausgenommen waren, da davon ausgegangen worden war, die Assistenzzeit in den Spitälern sei Teil der Ausbildung. Innerhalb von vier Jahren nach Inkrafttreten soll die wöchentliche Arbeitsbelastung auf maximal 50 Stunden gesenkt werden. Für diese Ausdehnung der Arbeitsgesetzgebung, die primär im Namen der Patientensicherheit erfolgte, stimmten geschlossen SP und Grüne, dagegen (aus finanziellen Gründen) eine Mehrheit von SVP und FDP sowie eine CVP-Minderheit
[18].
Nach den Medikamenten nahm der Preisüberwacher die Tarife der rund 3500
Zahnärzte unter die Lupe. Er verlangte eine Offenlegung, wogegen sich die Schweizerische Zahnärztegesellschaft (SSO) vehement wehrte. Die Preisüberwachung war durch eine internationale Studie hellhörig geworden, die aufzeigte, dass in der Schweiz Zahnbehandlungen bis zu viermal teurer sind als in Deutschland. Stossend sei auch der Umstand, dass die SUVA von den Privatpatienten quersubventioniert wird, da der Sozialversicherungstarif lediglich 60% des durchschnittlichen Normaltarifs beträgt
[19].
Einstimmig verabschiedete der Ständerat eine Motion Wicki (cvp, LU), welche verlangt, dass der Bundesrat die qualifizierten
psychologischen Berufe auf eidgenössischer Ebene adäquat und transparent regelt. Wicki machte geltend, die psychische Gesundheit sei ein zu schützendes Gut, weshalb es anerkannte Qualitätsnormen brauche, um Missbräuchen und Schädigungen entgegenzuwirken. Bundesrätin Dreifuss verwies auf bereits laufende gesetzgeberische Arbeiten und war bereit, die Motion entgegen zu nehmen. Der Nationalrat überwies sowohl diese wie auch eine analoge Motion Triponez (fdp, BE)
[20].
Mit einer Motion forderte der Berner SVP-Nationalrat Joder, durch eine Teilrevision des KVG die
Krankenpflege als eigenständige Leistung zu definieren und die Spitäler und Heime zu verpflichten, den Nachweis einer quantitativ und qualitativ genügenden Pflege zu erbringen. Joder reagierte so auf das in den letzten Jahren immer offensichtlicher gewordene Malaise im Pflegebereich und auf den Umstand, dass schweizweit 1300 bis 2000 qualifizierte Pflegestellen unbesetzt sind. Mit dieser Anerkennung soll der Berufsstand wieder attraktiver gemacht werden. Gegen den Willen des Bundesrates, der auf die kantonalen Prärogativen im Bereich der Pflege verwies, wurde der Vorstoss mit 91 zu 59 Stimmen in der verbindlichen Form angenommen
[21].
[15]
AB SR, 2001, S. 628 ff, 650 ff, und 804 ff. Wie in der Antwort auf eine Interpellation Rossini (sp, VS) ausgeführt, setzte das EDI eine Arbeitsgruppe mit dem Auftrag ein, genaue Zahlen zur Ärztedichte in der Schweiz zu eruieren und Vergleiche mit den Nachbarländern anzustellen (
AB NR, 2001, III, Beilagen, S. 457 f.). Siehe dazu auch: Gilliand, Pierre, „Perspektiven der künftigen Entwicklung der Zahl der Ärzte in der Schweiz“, in
CHSS, 2001, S. 150 ff.15
[16]
AB NR, 2001, S. 492 ff.;
AB SR, 2001, S. 675.16
[17] Weissenburger, Andreas, „Der neue Arzttarif TARMED“, in
CHSS, 2001, S. 61 f.; Presse vom 7.5., 31.8., 4.9. und 14.12.01. Siehe dazu auch zwei Interpellationen Guisan (fdp, VD) und Leuthard (cvp, AG) im NR (
AB NR, 2001, S. 665 ff.). Vgl.
SPJ 2000, S. 202. In Beantwortung einer Einfachen Anfrage Berberat (sp, NE) bekräftigte der BR erneut seine Entschlossenheit, im Fall eines Scheiterns von TarMed von Amtes wegen eine Tarifstruktur zu verordnen (
AB NR, 2001, IV, Beilagen, S. 180).17
[18]
AB NR, 2001, S. 835 ff. Vgl.
SPJ 1999, S. 249. Zu Lösungen auf kantonaler Ebene siehe
TG, 20.6.01.18
[19]
TA, 23.7. und 4.12.01;
NZZ, 8.8.01.19
[20]
AB SR, 2001, S. 111 f.;
AB NR, 2001, S. 1536 f.20
[21]
AB NR, 2001, S. 1645 ff. Siehe dazu auch eine Interpellation Hollenstein (gp, SG) in
AB NR, 2001, 1651 ff. und III, Beilagen, S. 334 f. Vgl.
SPJ 2000, S. 203. Der Schweizerische Spitalverband H+ stelle sich als Arbeitgeber hinter die Forderungen des Spitalpersonals und verlangte mehr Mittel und mehr qualifizierte Mitarbeitende (
NZZ, 21.6.01). Mitte November fanden in der ganzen Schweiz Kundgebungen des Pflegepersonals statt, an denen insgesamt rund 15 000 Personen teilnahmen (Presse vom 15.11.01).21
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