Année politique Suisse 2001 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport
Suchtmittel
Im Rahmen der Revision des Betäubungsmittelgesetzes (siehe unten) soll ein verstärkter
Jugendschutzartikel ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden. Mit Gefängnis oder Busse wird bestraft, wer Jugendlichen unter 16 Jahren alkoholische Getränke oder andere Stoffe in einer Menge abgibt, welche die Gesundheit gefährden kann
[33].
Die Weltgesundheitsorganisation (WH0), die sich seit Jahren besonders stark für die Bekämpfung der Nikotinsucht einsetzt, erhob in einer Studie schwere Vorwürfe an die Adresse der Schweiz. Sie machte das massive
Lobbying der Tabakindustrie dafür verantwortlich, dass die Schweiz die tiefsten Tabaksteuern in Westeuropa aufweist und bisher nur verhältnismässig wenig für die Prävention ausgegebene hat. Das BAG wertete die Untersuchung als wichtige Unterstützung für die neu anlaufende Präventionskampagne des Bundes
[34].
Unter dem Motto „Rauchen schadet“ lancierte das BAG im Mai nach dem Vorbild der „Stop Aids“-Werbung eine breite Anti-Zigaretten-Kampagne, die das
Tabakpräventionsprogramm
2001-2005 propagandistisch begleiten wird
[35]. Mit anfänglich 6,3 Mio und schliesslich 10 Mio Fr. pro Jahr bis 2005 will der Bundesrat den Kampf gegen den Tabakkonsum verstärken. Ziel des BAG ist nicht eine rauchfreie Gesellschaft, sondern eine Senkung des Anteils der Raucher in der Bevölkerung (heute rund ein Drittel) auf das europäische Mittel (ca. 25%). Erwogen wird einerseits ein Abgabeverbot an Jugendliche unter 16 Jahren, eine Erhöhung des Zigarettenpreises auf das Niveau der EU (ca. Fr. 5.60 pro Päckchen) sowie die Beschränkung der Tabakwerbung auf die Verkaufsstellen
[36].
Während vor drei Jahren, als das EVED erstmals ankündigte, die Grenze für das Fahren in angetrunkenem Zustand (Fiaz) im
Strassenverkehrsgesetz auf 0,5 Promille senken zu wollen, vor allem die Wirte gegen diese Absicht Sturm liefen, machten sich nun im Parlament die Vertreter der Randregionen dagegen stark und verlangten, diese dürfe man nicht „austrocknen“. Der Nationalrat erklärte die Promillegrenze zum Politikum, weshalb sie nicht länger vom Bundesrat, sondern vom Parlament in einer Verordnung der eidgenössischen Räte festgelegt werden soll, eine Auffassung, der sich der Ständerat in der Differenzbereinigung anschloss. Bundesrat Leuenberger machte vergeblich geltend, die Promillegrenze sei das Resultat wissenschaftlicher Erkenntnisse, unter Umständen lebensentscheidend und gerade deshalb nicht politisch aushandelbar
[37].
Im März leitete der Bundesrat dem Parlament seine Botschaft zur
Revision des Betäubungsmittelgesetzes (BetmG) zu. In den grossen Linien entsprachen seine Vorschläge dem Vernehmlassungsentwurf aus dem Vorjahr. So sollen der
Cannabiskonsum und dessen Anbau zum Eigengebrauch
straffrei sowie Herstellung und Vertrieb von Cannabisprodukten für kommerzielle Zwecke nach dem Opportunitätsprinzip zugelassen, aber streng reglementiert werden (Verkauf nur an volljährige, in der Schweiz wohnhafte Personen, Verbot von Export und Import sowie Kontrolle der angebauten und gehandelten Mengen). Handel und Konsum von harten Drogen wie Heroin und Kokain bleiben weiter strafbar; der Bundesrat war allerdings der Auffassung, der Konsum solle, falls er nicht in der Öffentlichkeit stattfindet, gemäss dem Opportunitätsprinzip ebenfalls von der Strafverfolgung ausgenommen werden können, ebenso die sogenannten Vorbereitungshandlungen (Kauf und Besitz geringer Mengen zum Eigengebrauch). Die Vier-Säulen-Politik des Bundes (inkl. heroingestützte Therapie), bisher durch einen dringlichen Bundesbeschluss geregelt, wird in ordentliches Recht überführt
[38].
Der
Ständerat behandelte die Vorlage in der Wintersession. Die Verankerung des Vier-Säulen-Modells mit der kontrollierten Heroinabgabe war nicht bestritten. Den Hauptdiskussionspunkt bildete der künftige Umgang mit Cannabis. Befürworter und Gegner einer Entkriminalisierung waren quer durch alle Parteien zu finden. Erkennbar war der traditionelle drogenpolitische Graben zwischen fortschrittlicher
Deutschschweiz und bremsender
Romandie. Gegnerische Wortführer waren Studer (sp, NE), Langenberger (fdp, VD) und Epiney (cvp, VS), die monierten, der Cannabiskonsum dürfe nicht gesellschaftsfähig werden. Aus der Deutschschweiz erhielten sie die Unterstützung der SVP. Die Ratsmehrheit machte für ihre Zustimmung die gesellschaftliche Realität, die geringe Schädlichkeit von Cannabis im Vergleich zu Tabak und Alkohol sowie die Stärkung des Jugendschutzes geltend. Mit 32 zu 8 Stimmen wurde die Strafbefreiung von Konsum und Anbau zum Eigenbedarf schliesslich gutgeheissen, die Alterslimite allerdings auf 18 Jahre hinaufgesetzt; der Bundesrat hatte 16 Jahre vorgeschlagen. Gar oppositionslos passierte die Zulassung eines streng kontrollierten Anbaus zu kommerziellen Zwecken. Zurückhaltender als die Regierung zeigte sich die kleine Kammer beim Konsum von
harten Drogen: dieser soll
in allen Fällen strafbar bleiben, eine Aufweichung beim privaten Konsum nach dem Opportunitätsprinzip schien dem Ständerat nicht angebracht. Das revidierte Gesetz wurde einstimmig verabschiedet
[39].
Da dies der Rechtssprechung des Eidg. Versicherungsgerichts widersprechen würde, lehnte der Ständerat eine Motion der SGK des Nationalrates ab, die den Bundesrat beauftragen wollte, weiterhin
Institutionen der privaten Drogenrehabilitation mit Mitteln der IV zu unterstützen. Weil viele dieser Einrichtungen durch die Praxisänderung des BSV in eine schwierige finanzielle Situation geraten sind, überwies er den Vorstoss jedoch in der Postulatsform mit der Bitte, Hand für Übergangslösungen zu bieten; Bundesrätin Dreifuss verwies auf bereits unternommene Anstrengungen und versicherte, dass alles getan werde, um den Betrieb dieser Institutionen sicherzustellen
[40].
Im Sommer öffnete in Genf der
erste Fixerraum der Romandie seine Tore. Genf ist auch der erste – und bisher einzige – welsche Kanton, der sich an den Programmen mit der ärztlich verschriebenen Abgabe von Heroin beteiligt
[41].
[33] Siehe dazu auch die Antwort des BR auf eine Einfache Anfrage Studer (evp, AG) in
AB NR, 2001, III, Beilagen, S. 53 f.33
[34]
Lit. Lee / Gantz;
LT, 11.1.01 (Auszüge aus dem WHO-Bericht); Presse vom 12.1.01;
TA, 6.2.01;
Ww, 15.2.01. Die Tabakindustrie setzt in der Schweiz jährlich rund 100 Mio Fr. für Promotion und Werbung ein; für die Präventionskampagnen des Bundes standen bis 2000 lediglich 2,5 Mio Fr. zur Verfügung.34
[35] Presse vom 10.5.01. Der Verband Schweizer Werbung, dessen Präsident StR Schmid (cvp, AI) ist, unterstützte die Kampagne ausdrücklich nicht, bestritt aber, Druck auf einzelne Werbefirmen ausgeübt zu haben, damit sich diese nicht daran beteiligen.35
[36]
Spectra, Nr. 27, Juli 2001; Presse vom 6.6.01. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR zu einer Einfachen Anfrage Widmer (sp, LU) in
AB NR, 2001, I, Beilagen, S. 131 f. Der NR lehnte eine pa.Iv. Grobet (–, GE) für einschneidende Massnahmen gegen den Tabakkonsum mit 93:64 Stimmen ab (
AB NR, 2001, S. 1096 ff.).36
[37]
AB NR, 2001, S. 902 ff.;
AB SR, 2001, S. 564 ff. Zur Revision des Strassenverkehrsgesetzes siehe oben, Teil I, 6b (Trafic routier). Zu Bestrebungen, den privaten TV-Sendern Alkoholwerbung zu gestatten, siehe unten, Teil I, 8c (Radio und Fernsehen).37
[38]
BBl, 2001, S. 3715 ff.; Presse vom 10.3.01. Siehe
SPJ 2000, S. 209 f. Eine Umfrage der Schweiz. Fachstelle für Alkohol- und Drogenprobleme ergab, dass ein Viertel der Jugendlichen regelmässig Cannabis raucht – ohne sozial abzustürzen. In der Gesamtgesellschaft hat die Bereitschaft, Cannabis als „normales“ Genussmittel anzusehen, stark zugenommen (Presse vom 16.2.01).38
[39]
AB SR, 2001, S. 971 ff.39
[40]
AB SR, 2001, S. 209. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR zu zwei Interpellationen Rossini (sp, VS) und Ménétray-Savary (gp, VD) in
AB NR, 2001, III, Beilagen, S. 460 ff. und IV, Beilagen, S. 409 ff. sowie
CHSS, 2001, S. 336 ff.40
[41] Presse vom 23.5.01.41
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