Année politique Suisse 2001 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV)
Im Rahmen der Behandlung der 11. AHV-Revision (siehe unten) überwies der Nationalrat zwei Vorstösse seiner SGK. Ein Postulat lud den Bundesrat ein, einen Bericht auszuarbeiten, der die kurz- (2010), mittel- (2015) und langfristigen (2050) Perspektiven der Alterssicherung in der Schweiz darlegt. Da der Bundesrat bereits Vorarbeiten in diese Richtung unternommen hat, war er bereit, den Vorstoss entgegen zu nehmen. Anders verhielt es sich mit einer von der Kommission einstimmig verabschiedeten Motion, die vom Bundesrat verlangte, die Mittel zur Erhebung der für die künftige Führung und Ausrichtung der Sozialversicherungen unerlässlichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und demographischen Daten bereit zu stellen. Der Bundesrat teilte zwar grundsätzlich die Ansicht, dass die statistische Datenlage zur Altersvorsorge zurzeit nicht ausreicht und deshalb ausgebaut werden sollte, verwies aber auf die fehlenden Ressourcen, weshalb er Überweisung als Postulat beantragte. Da die Kommission an einem verbindlichen Auftrag festhielt, lenkte Bundesrätin Dreifuss mit Seitenblick auf kommende Budgetdebatten ein, worauf die Motion oppositionslos angenommen wurde [7].
Das Seco liess erstmals eine „Generationenrechnung“ über Anwartschaften und Lasten des Sozialstaates erstellen. Diese kam zum Ergebnis, dass für die kommenden Jahrzehnte eine „Nachhaltigkeitslücke“ besteht, die aber – insbesondere verglichen mit dem europäischen Ausland – durch die laufende Defizitreduktion und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer relativ leicht zu schliessen ist. Der Autor der Studie kam zum Schluss, dass die in der 11. AHV-Revision vorgesehene Anhebung des Frauenrentenalters und die Änderungen bei der Witwenrente kaum Einfluss auf die Nachhaltigkeitsbilanz haben, wohl aber die Anhebung der Mehrwertsteuer [8].
Zu Beginn des Berichtsjahres wurde das Rentenalter der Frauen von 62 auf 63 Jahre erhöht, wobei die Frauen die Möglichkeit erhielten, ihre Rente mit einer 3,4%-igen Kürzung ab Alter 62 zu beziehen. Ca. 9400 Frauen machten davon Gebrauch. Die Männer konnten erstmals ihre Rente um zwei Jahre früher beantragen, jedoch mit einer Kürzung von 6,8% pro Vorbezugsjahr. Rund 2800 Männer entschlossen sich, mit 64 Jahren in Pension zu gehen, etwa 1700 mit 63 Jahren [9].
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11. AHV-Revision
In einer Sondersession im Mai behandelte der Nationalrat nach intensiven Vorarbeiten der zuständigen Kommission die beiden Vorlagen zur 11. AHV-Revision, welche die finanzielle Konsolidierung für das nächste Jahrzehnt sicherstellen sollen. Die erste Vorlage betraf die Finanzierung über zusätzliche Mehrwertsteuerprozente, die zweite die eigentlichen Gesetzesänderungen. Zu Beginn der Diskussionen wurden vier Rückweisungsanträge aus dem bürgerlichen Lager sowie von Zisyadis (pda, VD) mit deutlichem Mehr abgelehnt; Eintreten wurde mit 151 zu 28 resp. mit 177 zu 5 Stimmen beschlossen. Die weitgehende Aufhebung des Freibetrages für erwerbstätige Altersrentner sowie der von zwei auf drei Jahre verlangsamte Teuerungsaugleich auf den laufenden Renten (unter Beibehaltung des Mischindexes) passierten ohne nennenswerte Opposition. Angesichts der offenen Referendumsdrohung aus Gewerbekreisen hatte die von Bundesrat und Kommission beantragte Erhöhung des Beitragssatzes der Selbständigerwerbenden von 7,8 auf 8,1% keine Chancen. Mehrheitlich zugestimmt wurde der Festsetzung des ordentlichen Rentenalters auf 65 Jahre für Männer und Frauen; Anträge der Linken für die Beibehaltung des geltenden Rechts (für die Frauen) sowie für eine Ruhestandsrente ab Alter 62 für alle oder ab Alter 60 bei 40 vollständigen Beitragsjahren scheiterten deutlich.
Die eigentliche „Pièce de résistance“ der Vorlage bildete die Flexibilisierung des Altersrücktritts. Das Anliegen wurde an sich klar bejaht, jedoch führten die Modalitäten zu einer intensiven Debatte. Über die Vorschläge des Bundesrates hinausgehend, der für eine soziale Abfederung lediglich die durch die Heraufsetzung des Frauenrentenalters eingesparten 400 Mio Fr. einsetzen wollte, hatte sich in der Kommission eine knappe Mehrheit aus SP-Vertretern, SVP-Abgeordneten aus ländlichen Gebieten sowie welschen Bürgerlichen für 800 Mio Fr. eingesetzt. Mit Stichentscheid des Präsidenten folgte die grosse Kammer aber dem Antrag der Regierung. Die beschlossenen Kürzungssätze (11,3 bis 16,5% bei drei Vorbezugsjahren) wurden für die unteren Einkommen etwas sozialverträglicher ausgestaltet als nach den Vorgaben des Bundesrates, der lineare Kürzungen vorgeschlagen hatte. Eine wichtige Abweichung wurde bei den Renten für Witwen mit Kindern vorgenommen. Der Bundesrat wollte zeitlich unbeschränkte Renten nur noch gewähren, wenn die Frau beim 18. Geburtstag des jüngsten Kindes 50 Jahre oder älter ist; der Nationalrat senkte diese Alterslimite auf 45 Jahre. Kinderlose Witwen gehen künftig leer aus, erhalten aber eine einmalige Entschädigung. Ein im Plenum eingebrachter Einzelantrag Meier-Schatz (cvp, SG) auf Abschaffung der Kinderrente für AHV-Bezüger wurde knapp angenommen.
Zur künftigen Finanzierung soll dem Gesetzgeber gemäss Vorschlag des Bundesrates die Kompetenz erteilt werden, die Mehrwertsteuer um maximal 1,5 Prozentpunkte zugunsten der AHV zu erhöhen, wenn dies zur Sicherstellung ihres finanziellen Gleichgewichts notwendig wird. Der Nationalrat stimmte im Grundsatz zu, bekräftigte allerdings mit dem deutlichen Mehr von 144 zu 39 Stimmen erneut seine (vom Bundesrat vehement bestrittene) Absicht, den Ertrag der für die AHV erhobenen Mehrwertsteuerprozente (inkl. Demographieprozent) vollumfänglich in den AHV-Fonds und nicht teilweise in die allgemeine Bundeskasse zur Finanzierung des Bundesanteils an die AHV zu leiten. Zustimmung fand der vom Bundesrat in einer Zusatzbotschaft präsentierte Vorschlag, die Erträge aus den von der Nationalbank nicht mehr benötigten Währungsreserven an die AHV zu überweisen, soweit sie nicht durch Verfassung oder Gesetz für einen anderen Empfänger (Kantone, Solidaritätsstiftung) bestimmt sind.
Die Anhebung der Mehrwertsteuersätze wurde mit 120 zu 44 Stimmen angenommen, die Änderungen des AHV-Gesetzes hingegen lediglich mit 62 zu 60 Stimmen bei 63 Enthaltungen, ein Ergebnis, das die allgemeine Unzufriedenheit klar signalisierte. Die Ja-Stimmen kamen von der geschlossen auftretenden CVP, die Nein-Stimmen von den Grünen und der SP, welche monierten, diese Revision erfolge fast ausschliesslich auf Kosten der Frauen. Die Enthaltungen stammten in erster Linie von der FDP und der SVP, denen die Konsolidierungsbemühungen zu wenig weit gingen [10].
 
[7] AB NR, 2001, S. 481 ff.7
[8] Lit. Jiri; Presse vom 2.6.01. Zu einem ähnlichen Bericht des BFS siehe oben, Teil I, 7a (Bevölkerungsentwicklung).8
[9] CHSS, 2002, S. 104. Zu der in Zusammenhang mit der bei der 10. AHV-Revision vorgenommenen Erhöhung des Frauenrentenalters eingereichten Volksinitiative „Für eine gesicherte AHV – Energie statt Arbeit besteuern“ siehe oben, Teil I, 6d (Politique énergétique).9
[10] AB NR, 2001, S. 380 ff., 412 ff., 422 ff., 426 ff., 443 ff. und 469 ff.; Presse vom 11.1. und 7.4. (Kommission), 2.5. (Sozialpartner), 8.–10.5. (Plenum) und 12.5.01 (Quiproquo um Pattsituation bei der Abstimmung über die Flexibilisierung). Für die finanziellen Auswirkungen der Beschlüsse siehe CHSS, 2001, S. 137. Die dritte Vorlage betraf die Finanzierung der IV; auf Beschluss des Rates wurde sie im Rahmen der 4. IV-Revision behandelt. Vgl. SPJ 2000, S. 219 (Allokation der Mehrwertsteuerprozente) und 222 f. Für die Verwendung der freiwerdenden Goldreserven siehe oben, Teil I, 1a (Grundsatzfragen).10