Année politique Suisse 2001 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Arbeitslosenversicherung
Ende Februar verabschiedete der Bundesrat seine Vorlage zur 3. Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) zuhanden des Parlaments. Ziel der Revision ist, die Finanzierung der ALV mittelfristig unter Annahme einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von 100 000 Personen zu sichern sowie weiterhin eine rasche und nachhaltige Wiedereingliederung der Arbeitslosen zu erreichen. Um die Schulden der ALV abzubauen, war mit dem Stabilisierungsprogramm von 1999 die Erhöhung des Beitragssatzes von 2,0 auf 3,0 Lohnprozente bis Ende 2003 verlängert und die (nicht versicherten) Einkommen zwischen 106 800 und 267 000 Fr. mit einem weiteren Lohnprozent belastet worden (Deplafonierung). Der Bundesrat beantragte nun eine generelle Rückführung auf zwei Lohnprozente, wollte aber die zusätzliche Beitragspflicht der Besserverdienenden („Solidaritätsprozent“) im Sinn einer konjunkturresistenten Finanzierung beibehalten. Gleichzeitig sah er Anpassungen bei der Arbeitslosenentschädigung vor. Einerseits sollte wegen des Freizügigkeitsabkommens mit der EU die Mindestbeitragszeit, die einen Entschädigungsanspruch auslöst, von sechs auf zwölf Monate erhöht, andererseits die Entschädigungsdauer von 520 auf 400 Tage gekürzt werden, wobei für ältere Arbeitnehmer (ab 55 Jahren) sowie IV- und UV-Rentner die heutige Dauer belassen wird, sofern sie 18 Beitragsmonate aufweisen. Die Sozialpartner liefen umgehend Sturm gegen die Vorlage. Nicht bestritten war die Erhöhung der Beitragszeit; die Arbeitgeber wehrten sich aber gegen die Beibehaltung der Deplafonierung, die sie als verkappte Reichtumssteuer werteten, die Gewerkschaften erachteten die Reduktion der Entschädigungsdauer als eindeutigen Sozialabbau. Allgemein akzeptiert wurde hingegen ein Systemwechsel bei der finanziellen Beteiligung der öffentlichen Hand: Bund und Kantone sollen sich künftig fest an den Kosten der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) und der arbeitsmarktlichen Massnahmen beteiligen; im Gegenzug wird auf die Finanzierungsbeiträge der Kantone in ausserordentlichen Situationen verzichtet. Neu definiert wurden auch die anrechenbaren Erziehungszeiten, da vermutet wurde, die 1995 eingeführte Regelung habe zu Missbräuchen geführt: neu muss jemand, der Ansprüche geltend macht, unmittelbar vor dem familiär bedingten Erwerbsunterbruch in der Schweiz oder in der EU gearbeitet haben, und die Erziehungsphase darf maximal drei Jahre dauern [33].
In der Sommersession folgte der Ständerat dem Bundesrat in den wesentlichen Punkten, verweigerte aber dem Solidaritätsbeitrag seine Zustimmung mit der Begründung, dass bei dessen Einführung versprochen worden sei, dass es sich lediglich um eine vorübergehende Massnahme handle. Mit Unterstützung der SP und von welschen Abgeordneten der FDP setzte sich Bundesrat Couchepin vergeblich dafür ein, das zusätzliche Lohnprozent weiterhin zu erheben, um gegen Konjunktureinbrüche gewappnet zu sein. Auf Antrag der Kommission wurde der Bundesrat aber verpflichtet, bei Erreichen eines Schuldenstandes des Ausgleichsfonds von 2,5% dem Parlament eine Beitragserhöhung vorzulegen. Nicht durchsetzen konnte sich ein Antrag aus der SP, älteren Arbeitslosen bereits ab 50 Jahren die verlängerte Bezugsdauer zu gewähren [34].
Der Nationalrat beriet die Revision in der Wintersession. Zwei Nichteintretens- resp. Rückweisungsanträge aus der SP-Fraktion wurden klar verworfen. Die grosse Kammer bemühte sich allerdings, die Vorlage sozialverträglicher zu gestalten. Gegen den Widerstand von FDP und SVP folgte sie beim Solidaritätsprozent mit 92 zu 59 Stimmen dem Bundesrat. Zudem fügte sie zwei Bestimmungen im Interesse der Randregionen und der älteren Arbeitnehmer ein. In Kantonen mit erhöhter Arbeitslosigkeit erteilte sie dem Bundesrat die Kompetenz, die Bezugsdauer für alle Versicherten vorübergehend auf 520 Tage zu erhöhen; zudem beschloss sie, dass über 55-jährige Arbeitlose auch nach ihrer Aussteuerung in arbeitsmarktliche Massnahmen aufzunehmen sind. Weitergehende Anträge (Gewährung von 520 Taggeldern ab Alter 50, 100% Lohnfortzahlung für Mitarbeiter von Firmen in Nachlasstundung) wurden hingegen abgelehnt. In der Gesamtabstimmung passierte das Gesetz mit 32 zu 22 Stimmen bei 72 Enthaltungen, ein deutliches Zeichen dafür, dass weder die Linke noch die Rechte mit dem Ergebnis zufrieden war. Zustimmung fand die Revision lediglich bei der CVP und den Liberalen [35].
 
[33] BBl, 2001, S. 2245 ff.; CHSS, 2001, S. 96 f.; Presse vom 29.2.01. Die ALV schloss 2000 mit einem Plus von 2,94 Mia Fr. ab (Presse vom 3.12.01). Zu den Erziehungszeiten vgl. SPJ 1999, S. 282. Für indirekte Diskriminierungen von Frauen, insbesondere Müttern in der ALV siehe Lit. Despland.33
[34] AB SR, 2001, S. 388 ff. und 391 ff.34
[35] AB NR, 2001, S. 1866 ff., 1878 ff. und 1906 ff. Einzelne Entscheide und Forderungen im NR wurden als Reaktion auf das Swissair-Debakel gewertet (Presse vom 7.11.01). Zur Swissair siehe oben, Teil I, 6b (Trafic aérien).35