Année politique Suisse 2002 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Sozialdemokratische Partei (SP)
Im Frühling trat der Tessiner Nationalrat und Kardiologe Franco Cavalli aus beruflichen Gründen nach zweieinhalb Jahren als Fraktionschef zurück. Zu seiner Nachfolgerin wählte die Fraktion die St. Gallerin Hildegard Fässler. Fässler ist seit 1997 Nationalrätin und seit 1999 Fraktions-Vizepräsidentin [3].
Am 30. September gab Bundesrätin Ruth Dreifuss ihre Demission auf Ende Jahr bekannt. Die Bundesversammlung wählte die Genfer Staatsrätin Micheline Calmy-Rey zu ihrer Nachfolgerin [4].
Um ihre Finanzen aufzubessern, führten die Sozialdemokraten Ende Februar einen Gala-Abend mit Kunstauktion durch. Die Einnahmen von über 100 000 Fr. übertrafen die Erwartungen und bildeten neben dem positiven Jahresabschluss 2001 einen willkommenen Zustupf im Hinblick auf die eidgenössischen Wahlen 2003 – im Jahr 2001 hatte die SP noch mit roten Zahlen gerechnet [5].
An ihrem Parteitag in Biel beschlossen die Sozialdemokraten die Ja-Parole zur Fristenregelung und die Nein-Parole zur Volksinitiative "für Mutter und Kind". Mit 108:95 Stimmen wiesen sie ein Diskussionspapier zur Wirtschaft, an dem die Berner Nationalräte Rudolf Strahm und Simonetta Sommaruga mitgearbeitet hatten, zurück. Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer (BL) beurteilte das Papier als zu vage; sie vermisste klare Stellungnahmen zur Deregulierung, Aussenwirtschaftspolitik und Umverteilung. Vertreter der Romandie und der Gewerkschaften hingegen taxierten das Papier als zu wirtschaftsliberal. Einstimmig forderten die Delegierten ferner den Bundesrat in einer Nahost-Resolution auf, sofort alle Rüstungsgeschäfte mit Israel zu suspendieren [6].
Auf Antrag der Geschäftsleitung lehnten die Sozialdemokraten nach engagierter Diskussion das Elektrizitätsmarktgesetz (EMG) mit 140:78 Stimmen ab; Gewerkschafter und Westschweizer Sozialdemokraten hatten einen Meinungsumschwung erkämpft, nachdem die Mehrheit der Fraktion im Dezember 2000 eine Liberalisierung des Strommarktes noch befürwortet hatte. Bei der Goldinitiative der SVP beschlossen die Delegierten ebenfalls die Nein-Parole; die Geschäftsleitung hatte ein doppeltes Ja für Initiative und Gegenvorschlag beantragt. Schliesslich verabschiedete die SP drei Resolutionen: Die erste forderte die Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission, welche die Beziehungen der Schweiz zum Apartheid-Regime in Südafrika unter freiem Zugang zu öffentlichen und privaten Archiven aufarbeiten soll; die zweite verlangte die Einführung einer nationalen Einheitskrankenkasse und die dritte die sofortige Entlastung von Familien bei den Krankenkassenprämien [7].
Anfang Juli verlangte die SP in ihrem Massnahmenpaket "Mit Kindern rechnen" eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Stärkung der Familien unter anderem durch einheitliche Kinderzulagen und den Abzug des Kindergelds nicht vom steuerbaren Einkommen, sondern direkt vom geschuldeten Steuerbetrag (wie dies in Baselland üblich ist) sowie ein familienfreundliches Lebensumfeld mit kinderfreundlicher Infrastruktur [8]. Ende Monat forderte sie mehr Anlegerschutz und Sicherheit auf den Finanzmärkten. Die Missbräuche der letzten Zeit hätten gezeigt, dass eine Börsenaufsicht, welche nach dem Selbstregulierungsprinzip funktioniere, nicht genüge; nötig sei eine staatliche Finanzmarktaufsicht, wie sie Frankreich, Deutschland und die USA kennen [9].
Die SP erhob beim Europäischen Patentamt Einspruch gegen die Patentierung eines Gens, welches eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Brustkrebs spielt. Gene könnten nicht erfunden, sondern nur entdeckt werden. Mit ihrem Einspruch beabsichtigte die SP auch, die Diskussion um die laufende Patentrechtsrevision zu lancieren [10].
Ende Oktober fassten die Sozialdemokraten die Nein-Parole zur Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes und zur Asylinitiative der SVP. Anschliessend verabschiedeten sie ihre Wahlplattform 2003 "Gleichheit, soziale Sicherheit und Lebensqualität für alle" und ein Migrationskonzept. Gegen den Willen der Geschäftsleitung, welche die Plattform im Juni unter dem Titel "Gerechtigkeit, Sicherheit und Lebensqualität für alle" der Öffentlichkeit präsentiert hatte, fanden mit Forderungen nach der 35-Stunden-Woche und einem Mindesteinkommen von 3000 Fr. radikalere Anträge Eingang; um das Thema öffentliche Sicherheit war im Sommer eine Polemik in der Boulevardpresse entstanden, so dass sich Parteileitung und Bundeshausfraktion zu einer Aussprache und zu anschliessenden Präzisierungen gezwungen sahen. Das Migrationskonzept hatte intern ebenfalls zu Diskussionen geführt: Abweichend von der bisherigen sozialdemokratischen Haltung, welche Personenfreizügigkeit für alle Migrantinnen und Migranten verlangt hatte, sah das Konzept neu eine Begrenzung der Einwanderung aus Ländern ausserhalb des EU-Raums vor. Unternehmen, die Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Ländern anstellen wollten, sollten bestimmte gesetzliche Vorgaben, wie branchenübliche Löhne oder Sprachkurse während der Arbeitszeit, erfüllen. Schliesslich beschlossen die Delegierten, eine Volksinitiative für eine materielle Steuerharmonisierung zu lancieren [11].
An ihrer Delegiertenversammlung vom Dezember fassten die Sozialdemokraten die Parolen für die Volksabstimmung vom 9. Februar 2003: Nein zur Reform der Volksrechte, welche unter anderem die Einführung einer Einheitsinitiative vorsieht (wobei die SP mit der ihrer Ansicht nach zu hohen Unterschriftenzahl nicht einverstanden war) und Ja zur Anpassung der kantonalen Beiträge für die innerkantonalen Spitalbehandlungen. Nach einer angeregten Diskussion über die von der Leitung der Post im Oktober angekündigte Reorganisation und Reduktion der Briefzentren verabschiedeten die Sozialdemokraten eine Resolution "für einen guten Service public", welche vom Bundesrat den Verzicht auf die geplante Absenkung der Monopolgrenze bei der Briefpost verlangt. Hauptereignis des Parteitags bildete jedoch der Auftritt der wenige Tage zuvor zur Bundesrätin gewählten Micheline Calmy-Rey [12].
In den kantonalen Parlamentswahlen konnte die SP die Zahl ihrer Mandate halten. Den Gewinnen in Ob- und Nidwalden (2 resp. 1) standen drei Verluste in Glarus gegenüber. In den Regierungsratswahlen eroberte sie in Glarus einen zweiten Sitz auf Kosten der SVP. Im Jura stellte sie erstmals zusammen mit den Christlichsozialen die Mehrheit, nachdem die beiden Parteien der FDP und der CVP je ein Mandat abjagen konnten. In der Waadt mussten die Liberalen den Sozialdemokraten den vor vier Jahren abgenommenen Sitz wieder überlassen, allerdings wurde Staatsrätin Francine Jeanprêtre zugunsten ihrer Parteikollegin Anne-Catherine Lyon abgewählt. Die Stadt Winterthur erhielt mit Ernst Wohlwend erstmals einen sozialdemokratischen Stadtpräsidenten.
 
[3] Presse vom 18.4., 11.5. und 25.5.02.
[4] Siehe dazu oben, Teil I, 1c (Regierung).
[5] Gala-Abend: Presse vom 22.2. und 25.2.02. Jahresabschluss: LT und TA, 2.3.02. Vgl. SPJ 2001, S. 296.
[6] LT und NZZ, 5.4.02; Presse vom 8.4.02.
[7] NZZ, 20.6.02; Presse vom 24.6.02; vgl. auch SPJ 2000, S. 137 f. und 2001, S. 297.
[8] Presse vom 6.7.02.
[9] Presse vom 30.7.02.
[10] Presse vom 7.8.02.
[11] Presse vom 1.6., 5.6. (Sicherheit), 26.6. (Wahlplattform) und 21.10.02. Migrationspapier: TA, 11.2.02; WoZ, 28.2.02; Bund, 16.3.02; BZ, 26.6.02. Zur Steuerharmonisierung siehe auch SPJ 2001, S. 109.
[12] Presse vom 26.10. (Briefzentren) und 9.12.02.