Année politique Suisse 2002 : Parteien, Verbände und Interessengruppen
Verbände und übrige Interessenorganisationen
Aus Sorge um das Image der Schweiz im Ausland engagierte sich Economiesuisse stark für ein Ja zum UNO-Beitritt der Schweiz. – Der Bauernverband machte mit dezentralen Demonstrationen auf die schwierige wirtschaftliche Lage der Bauern aufmerksam. – Der SGB war beim Kampf gegen die Liberalisierung des Elektrizitätsmarktes siegreich, erlitt aber mit seiner Volksinitiative für die 36-Stunden-Woche eine klare Abfuhr. – Die beiden grössten Verbände des SGB, der SMUV und die GBI, beschlossen eine Fusion.
 
Für die Parolen der Spitzenverbände zu den eidgenössischen Volksabstimmungen siehe die Tabelle parolen_2002.pdf.
 
Unternehmer
Obwohl keine direkten wirtschaftlichen Interessen bei dieser Abstimmung involviert waren, engagierte sich der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse stark zugunsten eines UNO-Beitritts der Schweiz. Er erachtete einen allfälligen negativen Ausgang der Volksabstimmung vom 3. März für derart verheerend für das Image der Schweiz und ihrer Wirtschaft, dass er bereit war, den Grossteil der Kosten der Werbekampagne zu übernehmen. Als von bloss geringer Bedeutung für das Image der Schweiz schätzte Economiesuisse hingegen einen ablehnenden Volksentscheid zur Gründung einer Solidaritätsstiftung ein; im Gegensatz zur Bankiervereinigung gab sie die Stimme frei und sah auch von Beiträgen an die Werbekampagne ab [1]. Während Economiesuisse bei der UNO-Abstimmung (und auch bei der gleichzeitig erfolgten Ablehnung der Volksinitiative des SGB für eine Arbeitszeitverkürzung) zu den Siegern gehörte, musste sie bei der Volksabstimmung über die von den Gewerkschaften bekämpfte Elektrizitätsmarktliberalisierung, wo sie sich ebenfalls an vorderster Front eingesetzt hatte, eine herbe Niederlage einstecken [2].
 
Landwirtschaft
Auf den 31. August trat der Direktor (Generalsekretär) des Schweizerischen Bauernverbandes (SBV), Melchior Ehrler, nach vierzehn Jahren von seinem Posten zurück. Der für Reformen offene Aargauer CVP-Nationalrat, hatte sich im Verband und im Parlament insbesondere auch für die Anerkennung des Konzepts der multifunktionalen Rolle der schweizerischen Landwirtschaft stark gemacht. Er schied zwar ohne Konflikte aus dem SBV, gemäss seinen Angaben hatte allerdings seine Vermittlerfunktion im heterogenen Dachverband zu Abnutzungserscheinungen geführt [3]. Auf Vorschlag des Vorstandes wählte die Landwirtschaftskammer am 23. September den Freiburger Jacques Bourgeois zu seinem Nachfolger. Der 44-jährige Bourgeois war seit vier Jahren Vizedirektor und gehört für die FDP dem Freiburger Kantonsparlament an [4].
Die sich weiter verschlechternde wirtschaftliche Lage der Bauern und namentlich die im Rahmen der Umstrukturierung der Milchverarbeitungsindustrie angekündigten neuen Milchpreissenkungen verstärkten die Unrast unter den Bauern. Nicht zuletzt, um den auf Blockaden und andere Kampfformen setzenden oppositionellen Bauernorganisationen (Uniterre in der Romandie und Bäuerliches Zentrum Schweiz in der Deutschschweiz) den Wind aus den Segeln zu nehmen, führte der SBV im Spätsommer an fünf Orten (Morges/VD, Beromünster/LU, Sissach/BL, Fehraltorf/ZH und Grauholz/BE) dezentrale Kundgebungen durch. Auf eine zentrale Manifestation wurde bewusst verzichtet, weil man eine Wiederholung der Ausschreitungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei, wie sie sich 1996 bei der letzten Grosskundgebung des SBV in Bern abgespielt hatten, vermeiden wollte. Die Demonstrationen standen unter dem Motto „Bauernfamilien wegliberalisieren? – Nein!“ und wiesen zwischen 500 (Sissach) und 5000 (Grauholz) Teilnehmer auf; zu Ausschreitungen kam es nicht [5].
 
Arbeitnehmer
In seinem Kampf gegen die Privatisierung und Liberalisierung bisher vom Staat oder seinen Betrieben erbrachter Leistungen konnten der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) und seine Unterorganisationen im Berichtsjahr mehrere Erfolge erzielen. So lehnte auf nationaler Ebene das Volk das von den Gewerkschaften mit einem Referendum bekämpfte neue Elektrizitätsmarktgesetz ab. Im weiteren reichte die Gewerkschaft Kommunikation die vom SGB und der Stiftung für Konsumentenschutz unterstützte Volksinitiative für die Erhaltung von flächendeckenden Postdienstleistungen ein. Eine deutliche Niederlage erlitt der SGB hingegen bei seiner Volksinitiative für die 36-Stunden-Woche. Nur gerade 25% der Stimmenden unterstützten in der Volksabstimmung vom 3. März diesen Vorschlag. Gemäss einer repräsentativen Befragung wurde er sogar von einer Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder und -sympathisanten abgelehnt. Erfolglos blieb der SGB auch in der Volksabstimmung über die von ihm mit dem Referendum bekämpfte Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes [6].
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Organisation und Mitgliederbewegung
Der Mitgliederbestand des SGB nahm im Berichtsjahr wieder leicht zu: er stieg um 511 auf 384 690 Personen. Zu diesem Zuwachs beigetragen hat ausschliesslich der Beitritt von drei neuen Verbänden mit insgesamt rund 6000 Mitgliedern. Es handelte sich dabei um den Berufsverband Soziale Arbeit, den Bühnenkünstlerverband sowie die rund 3200 Mitglieder starke Gewerkschaft des Kabinenpersonals der Fluggesellschaften (kapers), welche sich als assoziiertes Mitglied dem SGB anschloss. Von den bisherigen SGB-Organisationen verzeichneten insbesondere die Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI), welche im Berichtsjahr unter anderem mit Streiks für einen neuen GAV gekämpft hatte, und die vor einigen Jahren vom SMUV und der GBI für den Dienstleistungssektor gegründete Unia Mitgliederzuwächse. Einbussen erlitten namentlich der Bankpersonalverband und die traditionelle Dienstleistungsgewerkschaft VHTL, welche bestandesmässig von der auf 17 642 Personen angewachsenen Unia überholt wurde [7].
Am 14. Dezember schlossen sich der Christlichnationale Gewerkschaftsbund (CNG) und die Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände (VSA) zum neuen gewerkschaftlichen Dachverband Travail.Suisse zusammen. Zum neuen Präsidenten der rund 150 000 Mitglieder aufweisenden Organisation wurde einstimmig der bisherige CNG-Präsident und Nationalrat Hugo Fasel (FR) von der unabhängigen Christlichsozialen Partei gewählt [8]. An ihren ausserordentlichen Kongressen am 7. September fällten die Delegierten der beiden grössten Einzelgewerkschaften des SGB, des SMUV und der GBI, einen Grundsatzentscheid für eine Fusion, an welcher auch die Dienstleistungsgewerkschaft Unia beteiligt sein soll. Die Vereinigung soll im Jahr 2004 stattfinden und vier Jahre später abgeschlossen sein. Opposition gegen die Fusion der von ihrer Tradition und Mentalität her verschiedenen Organisationen gab es nur wenig; die Skepsis gegen einen Zusammenschluss, welche noch im Jahr 2000 in beiden Verbänden bestanden hatte, war weitgehend verschwunden. Im SMUV fiel der Entscheid mit 159:9 Stimmen bei 17 Enthaltungen, bei der GBI mit 184:11 bei 8 Enthaltungen. Die Verbandsleitungen beschlossen später, dass die neue Gewerkschaft den Namen der 1996 von ihnen gemeinsam gegründeten Dienstleistungsgewerkschaft Unia übernehmen soll [9].
 
Andere Interessenorganisationen
Ein Jahr nach ihrem erfolglosen Kampf gegen die Militärgesetzrevisionen (Bewaffnung bei friedenserhaltenden Auslandmissionen und Ausbildungszusammenarbeit mit anderen Armeen) erlitt die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS) eine weitere Niederlage in einer Volksabstimmung. Am 3. März stimmte das Volk mit einer 55%-Mehrheit dem vor allem von der AUNS und der SVP bekämpften UNO-Beitritt zu. Das Engagement gegen den UNO-Beitritt brachte der AUNS auch kein weiteres Wachstum; ihr Bestand an Mitgliedern und zahlenden Sympathisanten stagnierte bei gut 40 000 [10].
Die Schweizerische Gesellschaft für Umweltschutz taufte sich in „equiterre“ um [11].
 
Weiterführende Literatur
Fischer, Alex, „Wirtschaftsbranche, Gewerkschaftsstärke und Interessengegensätze der Arbeitgeber: Der Fall der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit“, in Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 2002, Nr. 3/4, S. 85-100.
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H.H.
 
[1] BaZ, 18.2.02 (UNO-Kampagne); BZ, 26.4.02 (Solidaritätsstiftung). Zur Solidaritätsstiftung, welche ursprünglich von Economiesuisse unterstützt worden war, siehe oben, Teil I, 1a (Grundsatzfragen).
[2] Siehe dazu oben, Teil I, 6a (Politique énergétique).
[3] NZZ, 3.5.02; BaZ, 4.5.02. Zu Ehrlers Tätigkeit und der Entwicklung des SBV siehe auch Bund, 18.5.02 und TA, 22.5.02.
[4] NZZ, 10.9., 23.9. und 23.9.02; BaZ, 24.9.02. Vgl. auch das Interview mit Bourgeois in Bund, 28.9.02.
[5] NZZ, 10.8.02; LT und TA, 23.8.02; TG, 24.8.02 (Morges); NLZ, 26.8.02 (Beromünster); BaZ, 31.8.02 (Sissach); SGT, 2.9.02 (Fehraltorf); Bund, 2.9.02 (Grauholz). Zu den Ausschreitungen von 1996 in Bern siehe SPJ 1996, S. 25.
[6] Vgl. dazu die einzelnen Sachkapitel (Teil I, 6a, 6b, 7a und 7c).
[7] NZZ, 16.12.02 (kapers) und 3.4.03 (Mitgliederzahlen).
[8] NZZ, 7.5., 29.6., 14.12. und 16.12.02; BaZ, 16.12.02. Der VSA war mit dem Ende 2000 erfolgten Austritt seiner mitgliederstärksten Unterorganisation, dem Schweizerischen Kaufmännischen Verband, stark geschwächt worden (vgl. SPJ 2000, S. 363).
[9] NZZ, 9.9. und 29.11.02. Vgl. dazu auch Presse vom 30.8.02 und WoZ, 5.9.02. Zu den Vorbereitungen der Fusion siehe SPJ 2000, S. 363. Zur Unia siehe SPJ 1996, S. 371 f.
[10] Die AUNS war 1986 aus dem Kontra-Komitee der Kampagne zur Volksabstimmung über den UNO-Beitritt entstanden (siehe SPJ 1992, S. 355). Mitgliederbewegung: NZZ, 29.4.03.
[11] LT, 5.7.02.
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