Année politique Suisse 2002 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
 
Bürgerrecht und Stimmrecht
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Bürgerrecht
Die im Vorjahr eingereichte parlamentarische Initiative der SPK des Nationalrats für ein Beschwerderecht gegen als willkürlich empfundene negative Entscheide über die Einbürgerung setzte sich im Nationalrat gegen den Widerstand der SVP und einer Mehrheit der FDP-Fraktion durch. Kommissionssprecherin Vallender (fdp, AR) betonte dabei, dass es nicht darum gehe, einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung zu schaffen. Aber in Fällen, bei denen die formalen Anforderungen erfüllt seien und ein vorberatendes Gremium die Einbürgerung empfehle, müsse es den Betroffenen erlaubt sein, gegen eine offensichtlich nur wegen dem Herkunftsland oder der Rassenzugehörigkeit erfolgte Ablehnung Beschwerde einzulegen [7]. Im Anschluss an diesen Beschluss wurden die im Jahr 2000 als Reaktion auf eine Reihe negativer Einbürgerungsentscheide in Emmen (LU) von den Fraktionen der SP und der GP sowie einzelner ihrer Mitglieder eingereichten Motionen zurückgezogen [8]. Die SPK des Ständerates beurteilte dieses Geschäft als weniger dringlich als der Nationalrat. Sie beschloss, sich noch nicht mit dem Entscheid des Nationalrats zu befassen, sondern erst im Rahmen der Behandlung der Revision der Bürgerrechtsgesetzes über die Einführung eines Beschwerderechts zu entscheiden [9].
Der Nationalrat nahm in der Sommersession die Beratungen über die Ende 2001 vom Bundesrat vorgeschlagene Revision der Einbürgerungsbestimmungen auf und setzte sie in der Herbstsession fort. Nichteintretensanträge von Maspoli (lega, TI) und Hess (sd, BE) wurden mit 125:32 Stimmen abgelehnt. Eine von der SVP unterstützte Kommissionsminderheit bekämpfte die vom Bundesrat im Hinblick auf eventuelle Referenden und Volksabstimmungen vorgenommene Unterteilung der Reform in einzelne Teilvorlagen. Sie beantragte die Rückweisung an den Bundesrat mit dem Auftrag, anstelle der vorliegenden drei Gesetzesrevisionen (automatische Einbürgerung, erleichterte und ordentliche Einbürgerung, Beschwerderecht) und zwei Verfassungsrevisionen (erleichterte resp. automatische Einbürgerung) nur je eine Vorlage auf Gesetzes- und Verfassungsebene vorzulegen. Auch dieser Rückweisungsantrag wurde mit 122:36 Stimmen deutlich verworfen.
In der Detailberatung geriet die vom Bundesrat vorgeschlagene und von der CVP und den Liberalen unterstützte Verkürzung der minimalen Wohnsitzdauer für die ordentliche Einbürgerung von zwölf auf acht Jahre von zwei Seiten unter Beschuss, konnte sich aber durchsetzen: SP und Grüne verlangten eine Reduktion auf sechs Jahre, die SVP und eine klare Mehrheit der FDP wollten die bisherigen zwölf Jahre beibehalten. Bei den Bestimmungen über die erleichterte Einbürgerung von in der Schweiz aufgewachsenen Ausländern lehnte der Rat die von der SVP beantragte Verschärfung ab, dass diese nur für Personen gelten soll, die in der Schweiz geboren sind, und nicht auch für diejenigen, welche mindestens fünf Jahre der obligatorischen Schulzeit in der Schweiz absolviert haben. In der Gesamtabstimmung unterstützten die SP, die FDP, die CVP, die GP und die LP die neuen Bestimmungen über die ordentliche und die erleichterte Einbürgerung ohne Gegenstimme, die SVP lehnte sie mit 38:5 Stimmen ab.
Bei der vom Bundesrat vorgeschlagenen Neuerung, dass Kinder der so genannt dritten Generation automatisch eingebürgert werden sollen, war der Widerstand stärker. Gemäss der Definition des Bundesrates handelt es sich dabei um Kinder, bei denen mindestens ein Elternteil während fünf Jahren die obligatorischen Schulen in der Schweiz besucht hat und bei der Geburt des Kindes seit mindestens fünf Jahren eine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung besitzt. Die SVP lehnte diese Neuerung rundweg ab. Bei der CVP und der FDP gab es Bedenken, dass damit die Rechte der Eltern beeinträchtigt würden. Beispielsweise würden damit bei Familien aus Staaten, welche die Doppelbürgerschaft verbieten, die Kinder automatisch eine andere Staatsangehörigkeit erhalten als ihre Eltern. Die FDP sprach sich deshalb für ein Recht auf Einbürgerung aus, das aber nicht automatisch erteilt würde, sondern nur auf Gesuch der Eltern. Durchgesetzt hat sich schliesslich die von der CVP vorgeschlagene Variante, dass die Eltern bei der Geburt auf die Bürgerrechtserteilung verzichten können, und das Kind diese Erklärung bei Erreichen der Volljährigkeit widerrufen kann. Schliesslich stimmte der Nationalrat dem Beschwerderecht gegen als willkürlich oder diskriminierend empfundene kommunale Einbürgerungsentscheide gegen den Widerstand der SVP und einer Mehrheit der FDP-Fraktion zu. Nach Abschluss der Beratungen erklärte die SVP-Fraktion, dass sie gegen alle drei Gesetzesrevisionen das Referendum ergreifen werde [10].
Im Kanton Aargau lehnten die Stimmberechtigten mit einem Neinstimmen-Anteil von 61% eine Volksinitiative der Schweizer Demokraten für obligatorische kommunale Volksabstimmungen an der Urne über Einbürgerungen ab. Demnach werden diese Entscheide weiterhin von der Gemeindeversammlung oder – in den Städten – vom Parlament gefällt [11]. In Zürich bestätigte die Kantonsregierung einen Beschluss der Exekutive der Stadt Zürich, eine Volksinitiative der SVP für einen Urnenentscheid über Einbürgerungen als ungültig zu erklären. Sie bestätigte dabei die Begründung der Stadtregierung, dass die Initiative zu unlösbaren Widersprüchen zwischen dem Informationsanspruch der Stimmenden und dem Recht der Gesuchsteller auf den Schutz ihrer Privatsphäre führen würde. Die SVP rekurrierte gegen die Ungültigkeitserklärung beim Bundesgericht [12]. Im Kanton Luzern reichten die Grünen eine Volksinitiative für ein Verbot von Volksentscheiden (sei es an der Gemeindeversammlung oder an der Urne) bei kommunalen Einbürgerungsbeschlüssen ein. Zuständig sollen in Zukunft die Exekutive oder eine spezielle Kommission sein [13].
Die Zahl der Einbürgerungen lag mit 38 833 deutlich über dem Vorjahreswert (+29%). Die grösste Gruppe von Eingebürgerten stellte weiterhin Italien (7013), gefolgt von Personen aus den Staaten des ehemaligen Jugoslawien (5790) und aus der Türkei (4132) [14].
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Stimm- und Wahlrecht
Mit der Zustimmung zur neuen totalrevidierten Kantonsverfassung hiess der Waadtländer Souverän auch die Einführung des Stimm- sowie des aktiven und passiven Wahlrechts für Ausländer auf Gemeindeebene gut. Davon profitieren können Personen, welche mindestens seit zehn Jahren in der Schweiz und davon mindestens die letzten drei Jahre im Kanton wohnen [15].
Der Verfassungsrat des Kantons Freiburg beschloss die Einführung des Ausländerstimmrechts auf Gemeindeebene. In Kanton Graubünden stimmte das Parlament anlässlich der Beratung der neuen Kantonsverfassung dem Regierungsantrag auf Einführung des fakultativen Ausländerstimmrechts auf Gemeindeebene zu [16].
Eine breite Beachtung in den Medien fand der Entscheid der Berner Gemeinde Madliswil, eine obere Alterslimite von 70 Jahren für die Ausübung eines Exekutivamtes einzuführen. Derartige Vorschriften über das minimale und das maximale Alter für den Einsitz in Exekutivgremien sind nicht neu, sondern bestehen in verschiedenen Gemeinden und Kantonen seit langer Zeit. So kennen bezüglich der Wählbarkeit in die Kantonsregierung Glarus und Appenzell a.Rh. Höchstaltersgrenzen von 65 Jahren, und in Schwyz, Freiburg (je 25) und Genf (27) bestehen Mindesaltervorschriften. Interessenorganisationen von Rentnern protestierten heftig gegen den Beschluss von Madliswil und kritisierten ihn als nicht vereinbar mit dem Diskriminierungsverbot der neuen Bundesverfassung [17].
 
[7] BBl, 2002, S. 1166 ff. und 1179 f.; AB NR, 2002, S. 369 ff. Vgl. SPJ 2001, S. 19 f. Diesem Beschwerderecht stimmte der NR später auch im Rahmen der Revision des Bürgerrechtsgesetzes zu (siehe unten). Vgl. dazu auch Walter Haller, „Grundwerte der Bundesverfassung im Konflikt“, in NZZ, 13.2.02.
[8] AB NR, 2002, S. 392, 393 und 394. Siehe dazu auch die Einbürgerungsstatistik für fünf Gemeinden mit Urnenentscheiden, welche zeigt, dass Gesuche von Bewerbern aus dem Balkan weit überdurchschnittlich oft abgelehnt werden (TA, 30.7.02). Vgl. auch SPJ 2000, S. 23.
[9] LT, 10.4.02. Der SR ist dabei Zweitrat; die Revision wurde im Berichtsjahr im NR beraten (vgl. dazu unten).
[10] AB NR, 2002, S. 981 ff. und 1155 ff. Presse vom 17.9.02. Vgl. SPJ 2001, S. 20.
[11] AZ, 23.9.02.
[12] NZZ, 22.11.02; TA, 22.11. und 29.11.02. Vgl. SPJ 2000, S. 23.
[13] NLZ, 16.2.02.
[14] TA, 21.2.03. Vgl SPJ 2001, S. 20.
[15] 24h, 28.8. und 23.9.02; Lib., 28.11.02. Die neue Verfassung soll auf den 14.4.03 in Kraft gesetzt werden; unklar war noch, ob die Bestimmungen über das Ausländerstimmrecht auf Gesetzesstufe präzisiert werden müssen (Lib., 2.12.02; 24h, 6.12.02).
[16] FR: Lib., 25.4.02. GR: TA, 19.6.02. Dieses fakultative Recht existiert sonst nur in Appenzell-Ausserrhoden; in Neuenburg, dem Jura und ab 2003 auch in der Waadt gilt das Ausländerstimmrecht obligatorisch für alle Gemeinden.
[17] BaZ, 17.7.02; LT, 20.7., 31.7. und 7.8.02; NZZ, 7.8. und 19.8.02.