Année politique Suisse 2002 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
 
Löhne
Da sich in den 90-er Jahren die Lohnschere in der Schweiz zwischen gut ausgebildeten und wenig qualifizierten Personen um 3,5% geöffnet hatte, liess das Seco in fünf Studien die Gründe dafür prüfen. Dabei zeigte sich, dass es der technische Fortschritt war, der die Lohnschere am meisten auseinander trieb. Auf den nächsten Plätzen figurierten der Wechsel von der Warenumsatz- zur Mehrwertsteuer, die Effekte der Globalisierung (Abbau der internationalen Handelshemmnisse und tiefere Transportkosten) sowie die Einwanderung niedrig qualifizierter Arbeitskräfte. Bei Berücksichtigung nicht des Lohns, sondern des verfügbaren Einkommens nach Abzug der Zwangsabgaben (Steuern, Krankenkassenprämien, Mieten) fällt die Differenz allerdings noch stärker aus. Ihr Einkommen halten oder ausbauen konnten in den 90-er Jahren nur die Bestverdienenden und die Rentnerinnen und Rentner [10].
Gemäss Berechnungen des BFS stiegen 2002 die Nominallöhne um durchschnittlich 1,8% gegenüber dem Vorjahr. Die Kaufkraft nahm dank der bescheidenen Inflationsentwicklung ebenfalls zu. Nach Abzug der Teuerung belief sich die Reallohnerhöhung noch auf 1,1%. Damit stiegen die Reallöhne zum zweiten Mal in Folge – etwas, was es seit 1991/92 nicht mehr gegeben hatte. Im Vergleich zum Vorjahr (+1,5%) schwächte sich das Wachstum als Folge der Konjunkturverlangsamung aber ab. Das Nominallohnwachstum entwickelte sich in allen Wirtschaftssektoren ähnlich. Während der sekundäre Sektor eine Steigerung von 1,7% verzeichnete, ergab sich im tertiären Sektor ein Plus von 1,9%. Zu den „Gewinnern“ gehörten die Beschäftigten der chemischen Industrie (+2,6%) sowie des Maschinen- und Fahrzeugbaus (+2,2%), während im Bereich Bergbau/Energie- und Wasserversorgung (+0,7%) und im Papier-, Karton-, Verlags- und Druckgewerbe (+1,0%) unterdurchschnittliche Lohnerhöhungen gewährt wurden. Im Dienstleistungssektor schwang das Gastgewerbe (+3,2%) dank der Anpassung der Mindestlöhne obenaus. Überdurchschnittlich hoch war die Zunahme auch in der öffentlichen Verwaltung (+2,3), im Versicherungsgewerbe und in der Nachrichtenübermittlung (je +2,2%). Mit lediglich 1,7% Zuwachs mussten sich hingegen die in den letzten Jahren erfolgsverwöhnten Beschäftigten im Bankgewerbe zufrieden geben. Dennoch zahlte sich eine Beschäftigung im Finanz- und Versicherungswesen im langjährigen Vergleich aus. Zwischen 1993 und 2002 kletterten dort die Nominallöhne um rund 22% (Boni und Provisionen nicht mitgerechnet) – gesamtwirtschaftlich war der Zuwachs mit 11,5% nur halb so gross. Unterdurchschnittlich war die Zunahme hingegen im öffentlichen Sektor, wo die Gehälter nur um knapp 9% stiegen. Klammert man die Teuerung aus, so fällt die Mehrjahresbilanz für die Arbeitnehmenden ernüchternd aus: gemäss BFS waren die Reallöhne 2002 nur um 3% höher als jene von 1993 [11].
Trotz kriselnder Wirtschaft verlangten die Gewerkschaften für 2003 generell 3% mehr Lohn. Sie erachteten ihre Forderung als Beitrag zur Ankurbelung der Konjunktur. Gemäss einer Umfrage der UBS wurde schliesslich eine durchschnittliche Erhöhung des Nominallohns um 1,3% ausgehandelt. Am besten weg kamen die Informatiker und die Mitarbeitenden in der Telekommunikationsbranche (+2,4%), gefolgt von Chemie und Pharma (2,1%). Immerhin noch 2% mehr Lohn gab es im Gastgewerbe, im Detailhandel und beim Kantonspersonal. Am schlechtesten schnitten das Baugewerbe (+0,8%), die Banken (+0,7%) und die grafischen Betriebe (+0,6%) ab [12].
Im Nationalrat setzte eine Allianz von SP und SVP gegen den Willen der Regierung und einer mehrheitlich freisinnigen Minderheit mit einer parlamentarischen Initiative der staatspolitischen Kommission durch, dass (falls der Ständerat zustimmt) die Kaderlöhne und Verwaltungsratshonorare bei bundesnahen Betrieben inklusive Boni, Nebenjobs und Abgangsentschädigungen individuell offen gelegt werden müssen. Die neue Transparenzregel, die schärfer ist als jene der Börse, welche nur die Offenlegung einer Gesamtsumme für das Kader eines kotierten Unternehmens verlangt, wurde von den Befürwortern mit der Vorbildfunktion der bundesnahen Betriebe begründet. Bundesrat Villiger wehrte sich mit dem Argument des Datenschutzes vergeblich gegen die individuelle Offenlegung; diese wurde mit 97 zu 55 Stimmen angenommen. Mit noch deutlicherem Mehr wurde ein Antrag abgewiesen, die Swisscom als börsenkotiertes Unternehmen von der neuen Regel auszunehmen. Erfolgreich (und mit Unterstützung der SVP) widersetzte sich Villiger hingegen dem Kommissionsantrag, dass der Bundesrat nicht nur Grundsätze, sondern auch Eckwerte zur Gestaltung der obersten Löhne in den von ihm beherrschten Unternehmen festlegen soll. Er machte geltend, derartige Grenzen könnten den Bund bei der Rekrutierung von ausgewiesenen Managern benachteiligen. Dieser Antrag wurde mit 83 gegen 78 Stimmen abgelehnt [13].
Wenige Wochen nach Auffliegen der Millionenbezüge von zwei ABB-Chefs nahm der Nationalrat gegen den Widerstand der FDP und von Teilen der CVP mit 105 zu 49 Stimmen die im Vorjahr von Baumann (svp, TG) und Steiner (fdp, SO) bekämpfte Motion Leutenegger Oberholzer (sp, BL) an, die vom Bundesrat einen Gesetzesentwurf verlangt, der alle börsenkotierten Unternehmen verpflichtet, die Bezüge der Geschäftsleitung und der Verwaltungsräte (inklusive Boni, Aktienoptionen und „fringe benefits“) individuell offen zu legen. Auf einstimmigen Antrag seiner WAK gab der Nationalrat zudem einer parlamentarischen Initiative Chiffelle (sp, VD) Folge, die eine Änderung des OR über die Aktiengesellschaften in dem Sinn fordert, dass die börsenkotierten Unternehmen verpflichtet werden, in einem Anhang zur Bilanz alle Beträge aufzuführen, die den Mitgliedern von Verwaltungsräten aufgrund dieser Funktion ausbezahlt werden. Der Ständerat sah die Angelegenheit als weniger dringlich an. Er wollte vorerst abklären, ob die neue Richtlinie der Schweizer Börse nicht ausreicht und überwies die Motion Leutenegger Oberholzer nur als Postulat. Einzig Leuenberger (sp, SO) hatte sich für die verbindliche Form eingesetzt [14].
 
[10] Presse vom 27.8.02.
[11] Presse vom 25.4.02. Siehe SPJ 2001, S. 170. Gemäss einer Auswertung des BFS erhielten 2002 jene 450 000 Beschäftigten, die einem der 31 bedeutendsten GAV unterstellt sind, einen um 2,5% höheren Nominallohn als 2001 (Presse vom 19.6.02).
[12] Presse vom 16.8. und 5.11.02; TA, 30.11.02; BaZ, 12.12.02; BZ, 18.12.02. Siehe SPJ 2001, S. 170.
[13] AB NR, 2002, S. 1350 ff.; Presse vom 27.4. und 25.9.02; NZZ, 31.5.02 (BR).
[14] AB NR, 2002, S. 176 ff.; AB SR, 2002, S. 309 ff. und 323 ff.; TG, 2.2. und 25.2.02; 24h, 12.2.02; Bund, 15.2. und 22.2.02; TA, 15.2. 16.2. und 23.2.02; NZZ, 20.2. (SAGV), 21.2. (FDP-Präs. Bührer) und 14.3.02; SGT, BaZ und SHZ, 27.2.02; Presse vom 12.3.02. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR zu einer Interpellation Reimann (svp, AG) in AB SR, 2002, Beilagen III, S. 92 ff. Die Schweizer Börse SWX verpflichtete die Unternehmen, die Lohnsumme von Verwaltungsrat und Geschäftsleitung gesamthaft offen zu legen (SGT, 20.4.02). Vgl. auch oben, Teil I, 4a, Gesellschaftsrecht.