Année politique Suisse 2002 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
Eine Motion Rossini (sp, VS), die den Bundesrat beauftragen wollte, gesetzliche Bestimmungen zu erlassen, damit der
Einfluss von politischen Entscheiden auch ausserhalb des eigentlichen Gesundheitsbereichs auf die Volksgesundheit systematisch evaluiert werden kann, wurde trotz Opposition von Stahl (svp, ZH), der sich jeder weiteren Form einer Regulierung widersetzte, mit 83 zu 62 Stimmen in der Postulatsform angenommen
[1].
Die Auswirkungen von ungesunder Ernährung, zu hohem Körpergewicht und zu wenig Bewegung werden in der Bevölkerung noch allzu oft unterschätzt. Dabei gehen 30% der jährlichen Gesundheitskosten auf das Konto von ernährungsbedingten Krankheiten, und knapp 200 Todesfälle pro Jahr sind eine direkte Folge von Bewegungsmangel. Dieser Umstand bewog das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und die Stiftung für Gesundheitsförderung, die
Ernährungsbewegung Swiss Balance ins Leben zu rufen. Unter deren Impuls soll sich bis 2010 der Anteil Menschen mit gesundem Bewegungs- und Ernährungsverhalten signifikant vergrössern. Massnahmen sind namentlich in den Bereichen der Öffentlichkeitsarbeit und der politischen Meinungsbildung geplant
[2]. Eine Motion Gutzwiller (fdp, ZH), die eine substantielle Erhöhung der Bundesmittel zur Ernährungsinformation, -ausbildung und -erziehung verlangte, wurde auf Antrag des Bundesrates, der auf bereits unternommene Anstrengungen verwies, nur als Postulat verabschiedet
[3].
Viele ältere Menschen leiden an
Mangelernährung. Ein nationales Programm soll aufzeigen, wie ihre Ernährung verbessert und die Förderung ihres Wohlbefindens im Gesundheitssystem umgesetzt werden können. Gemäss einem ersten Bericht weisen viele 70- bis 75-Jährige eine Unterversorgung an Proteinen, Vitaminen und Mineralstoffen auf. Bei den über 75-Jährigen in Pflegeheimen sind diese Mangelerscheinungen noch ausgeprägter. Als Gründe dafür wurden eine Abnahme von Geruchs- und Geschmacksempfinden, Isolation, Depression, Demenz und die Zunahme körperlicher Gebrechen genannt. Das Phänomen betrifft allerdings auch jüngere Menschen. In den Spitälern sind je nach Abteilung 20-60% aller hospitalisierten Patientinnen und Patienten mangelernährt. Das Risiko steigt beim Spitaleintritt markant, da sich in den von Spezialisten geprägten Institutionen kaum jemand um die ausreichende Ernährung der Patientinnen und Patienten kümmert; insbesondere die Appetitlosigkeit wird nur ganz selten thematisiert. Die so geschwächten Patienten erholen sich schlecht von Operationen, brauchen intensivere Pflege und liegen länger im Spital als gut ernährte. Fachleute bezeichnen die Mangelernährung darum als einen der wichtigsten versteckten Gründe der Kostensteigerung im Gesundheitswesen
[4].
Zusammen mit der Verbindung der Schweizer Ärzte (FMH) und den kantonalen Behörden lancierte das BAG eine
Impf-Informationskampagne. Der Bevölkerung soll damit in Erinnerung gerufen werden, dass die Möglichkeit, sich gegen Infektionskrankheiten zu schützen, eine Chance und nicht eine Verpflichtung ist, dass es sich beim Impfplan für Kinder um eine in der Schweiz und der ganzen Welt wissenschaftlich verankerte Massnahme handelt, und dass nur die freiwillige Impfung aller Kinder und Jugendlicher ermöglicht, neun allzu oft als harmlos betrachtete Infektionen (Masern, Röteln, Mumps, Diphterie, Tetanus, Polio, Keuchhusten, Hepatitis B und Haemophilus influenza) wirksam zu bekämpfen
[5].
Wer gegen seinen Willen sterilisiert oder kastriert wurde, was vielen geistig behinderten Menschen auch in der Schweiz widerfuhr, soll für diesen schweren Eingriff in die psychische und physische Integrität entschädigt werden. Zudem gilt es, künftige Missbräuche zu verhindern. Beides soll in einem neuen Gesetz geregelt werden, das auf eine parlamentarische Initiative der ehemaligen Nationalrätin von Felten (gp, BS) zurückgeht und vom Bundesrat Ende März in die Vernehmlassung gegeben wurde. Das Gesetz will die
Sterilisation nur dann erlauben, wenn die betroffene Person volljährig ist und ihre Einwilligung erteilt. Ist die Person jünger oder aufgrund ihrer geistigen Behinderung auf Dauer urteilsunfähig, ist der Eingriff nur unter strengen Voraussetzungen und mit Zustimmung der Vormundschaftsbehörde erlaubt. In allen anderen Fällen wird die Zwangssterilisation als schwere Körperverletzung im Sinn des Strafgesetzbuches geahndet. Opfer von vergangenen zwangsweisen Sterilisationen oder Kastrationen sollen im Rahmen des Opferhilfegesetzes entschädigt werden
[6].
Mit einer Motion wollte Nationalrat Gross (sp, TG) den Bundesrat verpflichten, eine gesetzliche Grundlage für den Ausgleich von Patientenschäden zu schaffen, die weder dem Arzt oder dem Spitalträger als haftpflichtig zugeordnet noch über die Leistungspflicht einer Sozialversicherung abgegolten werden können. Unter anderem regte Gross die Schaffung eines von Leistungserbringern und Versicherern finanzierten
Patientenfonds an. Der Bundesrat verwies darauf, dass die Behebung eines durch eine Fehlleistung verursachten Gesundheitsschadens in den meisten Fällen eine normale KVG-Pflichtleistung darstellt. Er anerkannte, dass mit einem Patientenfonds das Verhältnis zwischen Arzt und Patient entschärft werden könnte, vertrat aber die Meinung, es sei Sache der Leistungserbringer resp. ihrer Branchenverbände und der Versicherer, allenfalls einen derartigen Fonds einzurichten. Auf seinen Antrag wurde der Vorstoss als Postulat überwiesen
[7].
In der Schweiz erkrankt schätzungsweise jede vierte Frau und jeder fünfte Mann mindestens einmal im Leben an einer
Depression. Besonders gefährdet sind Kinder und Jugendliche, ältere Menschen, von Armut betroffene Personen, Alleinerziehende (unter ihnen vor allem die Mütter), Migrantinnen und Migranten. Der Bund und die kantonalen Sanitätsdirektoren wollen deshalb im Rahmen des Projektes „Nationale Gesundheitspolitik Schweiz“ (NGP-CH) Massnahmen zur Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung der psychischen Gesundheit ergreifen. Inhaltliche Stossrichtung ist, anstatt einer „Medikalisierung“ des Leidens den Betroffenen eine aufbauende Lebensgestaltung zu ermöglichen. Das Thema wurde im Parlament von zwei überwiesenen Postulaten aufgenommen: Dormann (cvp, LU) regte eine Ursachenforschung und eine Informationskampagne zum Thema Depression an, Widmer (sp, LU) einen Bericht zu den hohen Suizidraten der Schweiz
[8].
Eine Form von psychischer Störung, die gerade auch im Zusammenhang mit der Schaffung von Spielcasinos ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen ist, ist die
Spielsucht. Mit einer Motion verlangte Nationalrätin Ménétrey-Savary (gp, VD), die Verordnung über Glücksspiele und Spielbanken mit Bestimmungen über ein Sozialkonzept zu ergänzen sowie die Finanzierung von Massnahmen zur Prävention und Behandlung von Spielsucht sicherzustellen. Der Bundesrat erinnerte daran, dass die konzessionierten Spielbanken strengen Präventionsvorschriften unterliegen, dass heute in der Schweiz aber legal dreimal mehr Spielautomaten ausserhalb der Spielbanken als in den Casinos betrieben werden, wo die Kontrolle des Zugangs zum Glücksspiel gar nicht möglich sei. Auf seinen Antrag wurde die Motion nur als Postulat angenommen
[9].
[1]
AB NR, 2002, S. 612 f.
[3]
AB NR, 2002, S. 1510 f.
[4]
NZZ, 11.6. und 17.6.02.
[5] Presse vom 12.11.02. Auf den 1. Juli wurden die ansteckenden Erkrankungen Anthrax und Pocken meldepflichtig, ebenso ärztliche Untersuchungen oder Tests bei Verdacht auf die Creutzfeld-Jakob-Krankheit; der klinische Verdacht auf CJK ist seit 1999 meldepflichtig (
NZZ, 29.6.02). Zur CJK siehe eine Frage Wyss (sp, BE) in
AB NR, 2002, S. 162.
[6] Presse vom 28.3. und 6.7.02. Siehe
SPJ 2001, S. 177 f. Zu einer Studie über (missbräuchliche) Massnahmen der Behörden der Stadt Zürich im sozialpsychiatrischen Bereich in den Jahren 1890-1990 siehe
Lit. Huonker;
TA, 13.3.02.
[7]
AB NR, 2002, S. 1506. Für Bemühungen, einen Patientenfonds im Sinn der bundesrätlichen Vorstellungen zu schaffen, siehe Presse vom 12.7.02.
[8]
AB NR, 2002, S. 1689. Siehe dazu auch eine Frage Gross (sp, TG)
a.a.O., S. 475 sowie eine Interpellation Beerli (fdp, BE) im SR (
AB SR, 2001, S. 692 f. und Beilagen, IV, S. 113 ff.). Zu interdisziplinären Bemühungen zur Suizidverhütung siehe
NZZ, 17.4. und 10.5.02;
Bund, 14.9.02 (NGP-CH).
[9]
AB NR, 2002, S. 1686. Zu den Spielcasinos siehe oben, Teil I, 4a (Strukturpolitik).
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