Année politique Suisse 2002 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Arbeitslosenversicherung
Die Räte führten in der Frühjahrssession die Differenzbereinigung bei der 3. Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) zu Ende. In der besonders umstrittenen Frage des Solidaritätsbeitrages der Besserverdienenden (1% für Lohnanteile zwischen 106 800 und 267 000 Fr.), für dessen Beibehaltung sich Bundesrat und Nationalrat ausgesprochen hatten, einigten sich die Kammern auf einen Kompromiss, wonach der Bundesrat die Solidaritätsabgabe einführen muss, wenn der Schuldenstand des ALV-Fonds 5 Mia Fr. übersteigt; in der ersten Runde hatte der Ständerat hier lediglich einer Kann-Formulierung zugestimmt. Als Entgegenkommen an die Linke und die Gewerkschaften, welche wegen der Reduktion der Taggelder von 520 auf 400 seit Beginn der Debatten mit dem Referendum drohten, hatte der Nationalrat die Möglichkeit für die Kantone eingeführt, bei hoher Arbeitslosigkeit die maximale Entschädigungsdauer regional und befristet auf 520 Tage zu erhöhen. Weil der nationalrätliche Vorschlag keine finanzielle Beteiligung der Kantone vorsah, strich der Ständerat diese Bestimmung vorerst mit 33 zu 6 Stimmen. Die Kommission des Nationalrates schlug daraufhin einen Kantonsbeitrag von 20% vor; dieser Antrag wurde mit 101 zu 64 Stimmen angenommen, worauf auch der Ständerat zustimmte, die zeitliche Befristung (maximal zweimal sechs Monate) allerdings etwas schärfer fasste. In diesem Punkt schloss sich der Nationalrat der kleinen Kammer an. In erster Lesung hatte der Nationalrat zudem beschlossen, dass Arbeitslose, die älter als 55 Jahre sind, auch nach ihrer Aussteuerung in arbeitsmarktliche Massnahmen aufzunehmen seien. Der Ständerat verwarf diesen Vorschlag zweimal mit dem Argument, damit würden die Grenzen zwischen Sozialversicherung und Fürsorge aufgeweicht. Mit 92 zu 70 Stimmen beugte sich der Nationalrat der kleinen Kammer. In der Schlussabstimmung wurde die Vorlage mit 114 zu 58 bzw. 36 zu 5 Stimmen gutgeheissen [53].
Eine „Vereinigung zum Schutz der Arbeitslosen“ aus La-Chaux-de-Fonds (NE) und die Gewerkschaften SGB und CNG ergriffen mit Unterstützung der SP und der Grünen erfolgreich das Referendum gegen diese Revision. Sie kritisierten insbesondere die zeitliche Kürzung des Taggeldanspruchs sowie die Streichung des Solidaritätsbeitrages der Besserverdienenden. Die Befürworter der Revision erklärten demgegenüber, mit der Revision sei ein soziales, konjunkturunabhängiges und wirkungsvolles System zur Unterstützung der Arbeitslosen geschaffen worden. Der Abstimmungskampf war nicht sehr heftig, da die Positionen im Rechts-Links-Schema klar bezogen waren und die Vorlage im Schatten der stark polarisierenden Volksinitiative der SVP „gegen Asylrechtsmissbrauch“ stand, die gleichentags zur Abstimmung gelangte. In der Volksabstimmung vom 24. November wurde die AVIG-Revision mit rund 56% der Stimmen angenommen, wobei allerdings die Kantone Wallis, Neuenburg, Genf und Jura Nein-Stimmenanteile von zum Teil deutlich über 50% aufwiesen. Die stärkste Zustimmung fand die Vorlage im Kanton Appenzell-Innerrhoden mit über 68% Ja-Stimmen sowie in Obwalden und Graubünden mit mehr als 62% [54].
Änderung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes
Abstimmung vom 24. November 2002

Beteiligung: 47,8%
Ja: 1 234 623 (56,1%)
Nein: 966 626 (43,9%)
Parolen:
Ja: FDP (1*), CVP (1*), SVP, LP, FPS, EDU; Economiesuisse, SAGV, SGV
Nein: SP, GP, EVP, Lega, PdA, CSP; SGB, CNG, KV Schweiz; Caritas
Stimmfreigabe: SD

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die Vox-Analyse dieses Urnenganges zeigte, dass das Abstimmungsverhalten weitgehend von der Parteisympathie für die SP, deren Anhänger die Vorlage zu 77% ablehnten, und von den Vorstellungen der Rolle des Staates in der Wirtschaft bestimmt waren. Letzteres erklärt, weshalb die stärker auf Staatsintervention setzenden SVP-Sympathisanten mit Ja-Stimmenanteilen von 67% die Revision wesentlich weniger deutlich annahmen als jene der FDP mit 88%. Weitere Verhaltensunterschiede traten in Bezug auf Alter, Sprachregionen und Erwerbstätigkeit auf. Am deutlichsten wurde die Vorlage von den über 60-jährigen Stimmberechtigten angenommen, die von der Revision nicht mehr betroffen sind, sowie von der Altersklasse der 18- bis 29-jährigen, allerdings nur von denen, die im Arbeitsprozess integriert sind. Die Ablehnung in der Romandie wurde darauf zurückgeführt, dass die Linke dort insgesamt stärker ist als in der Deutschschweiz, sowie auf die im Durchschnitt doppelt so hohe Arbeitslosigkeit, weshalb es auch in der politischen Mitte und bei der Rechten mehr Nein-Stimmen gab. Ein Vergleich mit der 1997 für die Linke erfolgreichen Abstimmung gegen den dringlichen Bundesbeschluss zum AVIG vom Dezember 1996 zeigte, dass die Niederlage der Linken und Gewerkschaften auf die geringere Unterstützung durch die eigene Klientel zurückzuführen war. Besonders ausgeprägt fiel diese Aufweichung der Nein-Front in der Romandie aus, wo die Gewerkschaften 1997 noch auf eine fast 100%-ige Unterstützung der Linken hatten zählen können. Die zweite auffallende Veränderung im Stimmverhalten war das Verschwinden des Unterschieds zwischen Frauen und Männern, der 1997 noch 13 Prozentpunkte betragen hatte. Während damals die Frauen, egal ob erwerbstätig oder nicht, deutlich gegen die Revision gestimmt hatten, verhielten sie sich diesmal gleich wie die Männer [55].
Im Anschluss an die Revision des AVIG behandelte der Nationalrat mehrere Vorstösse zu diesem Thema. Obgleich die Revision für schwangere Frauen gewisse Verbesserungen gebracht hatte, war Ménétray-Savary (gp, VD) nicht bereit, auf ihre diesbezügliche Motion zu verzichten, worauf sie abgelehnt wurde. Klar verworfen wurde eine Motion der SVP-Fraktion, die eine 30-tägige Karenzfrist für den Bezug von ALV-Leistungen verlangte. Bundesrat Couchepin erinnerte daran, dass die Schweiz das ILO-Übereinkommen Nr. 168 über Beschäftigungsförderung und den Schutz gegen Arbeitslosigkeit ratifiziert hat, das derartige Massnahmen verbietet. Eine Motion Raggenbass (cvp, TG) für eine Flexibilisierung der Rahmenfristen wurde als Postulat überwiesen [56].
Der Nationalrat nahm eine Motion Robbiani (cvp, TI) an, die eine Verlängerung der Kurzarbeitsentschädigung verlangt. Er machte geltend, die im AVIG vorgesehene Rahmenfrist (maximal 12 Abrechnungsperioden innerhalb von zwei Jahren) genüge in Zeiten anhaltender Konjunkturschwäche nicht aus, um ihr Ziel – die Vermeidung von Entlassungen – zu erreichen [57].
 
[53] AB SR, 2001, S. 69 ff., 169 f. und 265; AB NR, 2002, S. 188 ff., 313 ff. und 472. SP und GP stimmten geschlossen gegen die Vorlage. Siehe SPJ 2001, S. 197 f.
[54] BBl, 2002, S. 5811 ff.; Presse vom 28.9.-25.11.02.
[55] Hans Hirter / Wolf Linder, Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 24. November 2002, Vox Nr. 79, Bern 2002. Auf Antrag des EVD beschloss der Bundesrat Ende November, die AVIG-Revision auf der Beitragsseite vorzuziehen und die Lohnbeiträge auf den 1. Januar 2003 entsprechend zu senken (Presse vom 30.11.02).
[56] AB NR, 2002, S. 219 ff.
[57] AB NR, 2002, S. 1690; Lib., 24.9.02.