Année politique Suisse 2002 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV)
Eine im Auftrag des EFD in den Monaten April und Mai durchgeführte
Umfrage bei 1500 Wahlberechtigten ergab, dass 73% der Befragten, die heute noch keine AHV beziehen, daran glauben, einst auf eine AHV-Rente zählen zu können. Mit 79% war die Zuversicht in die eigene Rente in der Westschweiz sogar noch höher. Zwischen 2001 und dem Berichtsjahr stieg das
Vertrauen gesamtschweizerisch um vier, in der Romandie sogar um 12 Prozentpunkte. Diese Verbesserung erscheint noch eindrücklicher angesichts der Tatsache, dass gleichzeitig auch das Bewusstsein der Bevölkerung bezüglich der demografischen Entwicklung zugenommen hat: 78% (gegenüber 68% im Vorjahr) der befragten Personen waren sich darüber im Klaren, dass die beruflich aktive Bevölkerung im Verhältnis zu den Rentenbezügern in den nächsten Jahrzehnten kleiner wird
[10].
Angesichts der Turbulenzen in der 2. Säule der Altersvorsorge (siehe unten) verlangte die Delegiertenversammlung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (
SGB) eine substanzielle Stärkung der AHV. Vier Jahre zuvor hatte der SGB die Politisierung der Löhne mit dem Slogan „Kein Lohn unter 3000 Franken“ lanciert. Nun möchte er die Rentendiskussion mit der Forderung
„Keine Rente unter 3000 Fr.“ neu beleben. Der SGB stellte sich zwar gegen den von einzelnen Gewerkschaften geforderten Ausstieg aus dem Drei-Säulen-Modell zugunsten eines Vollausbaus der AHV, sprach sich aber für eine Umgestaltung in Richtung einer existenzsichernden staatlichen Altersvorsorge aus. In diesem Sinn unterstützte er das Begehren des Schweizerischen Eisenbahnerverbandes (SEV) nach einer 13. AHV-Rente, wie sie beispielsweise Österreich bereits kennt. Finanziert werden soll dieser Ausbau vorerst durch die Zuweisung des überschüssigen Nationalbank-Goldes an den AHV-Fonds, in einem späteren Zeitpunkt allenfalls durch eine Anhebung der Beiträge oder der Mehrwertsteuer
[11].
Die
FDP will mit finanziellen Anreizen die Arbeit nach dem Rentenalter fördern. Die Forderung nach einer flexiblen Öffnung des AHV-Alters nach oben war unter dem Titel
„Die 4. Säule“ zentraler Punkt eines neuen Wirtschaftsprogramms der Partei. Konkret regte die FDP an, arbeitende Rentner sollten von Steuervergünstigungen profitieren und keine AHV- und ALV-Beiträge mehr bezahlen. Mit der Flexibilisierung nach oben rückte die Partei von ihrer Forderung nach einer generellen Erhöhung des Rentenalters auf 67 oder 68 Jahre ab. Arbeitgeberverband, Economiesuisse und die wirtschaftsnahe Denkfabrik „Avenir Suisse“ unterstützten diese Forderung
[12].
Anders als im Vorjahr in der grossen Kammer war im Ständerat in der Wintersession Eintreten auf die 11. AHV-Revision unbestritten. In der Detailberatung ergab sich eine erste Diskussion beim Beitragssatz der Selbständigerwerbenden. Dettling (fdp, SZ) verlangte, dem Nationalrat zu folgen und den Satz bei 7,8% zu belassen. Bundesrätin Dreifuss warb erneut für eine Anhebung auf 8,1%. Sie fand, eine derartige Schonung der Unternehmer sei unverständlich angesichts der grossen Opfer, welche diese Revision von den Frauen verlangt (erneute Erhöhung des Rentenalters, Abstriche bei der Witwenrente). Mit 25 zu 12 Stimmen beschloss der Rat einen Beitragssatz von 7,9%. Keine Abweichungen zum Nationalrat gab es bei der Heraufsetzung des Rentenalters der Frauen auf 65 Jahre, bei der Aufhebung des Freibetrags für erwerbstätige Personen im Rentenalter und bei der Verlangsamung der Anpassung der Renten an die Lohn- und Preisentwicklung (Mischindex) von zwei auf drei Jahre, sofern die Teuerung 4% nicht übersteigt.
In zwei Punkten schuf der Ständerat gewichtige Differenzen zum Nationalrat. Für die Hinterbliebenen präsentierte die Kommission ein neues Modell. Die Witwen- und Witwerrente soll von 80 auf 60% der Altersrente herabgesetzt, die Waisenrente dafür von 40 auf 60% angehoben werden. Grundsätzlich erhalten nur noch Verwitwete mit Kindern eine Rente, wobei Personen mit Betreuungsgutschriften den Verwitweten gleichgestellt sind. Mit dem ständerätlichen Modell würden Verwitwete mit einem Kind gleich fahren wie nach der Version des Nationalrates, im Fall von mehreren Kindern wären sie bis zum Wegfall der Waisenrente besser gestellt, danach allerdings schlechter. Da im Zeitpunkt der Verwitwung, die im Durchschnitt im Alter von 53 Jahren eintritt, die Betreuungsperiode meistens schon ihrem Ende entgegen geht oder abgeschlossen ist, würden unter dem Strich Einsparungen von 250 Mio Fr. erzielt. Die neue Lösung stiess bei den CVP-Vertretern auf Ablehnung. Sie bemängelten, diese Regelung führe dazu, dass die betroffenen Frauen kurz vor dem Pensionsalter wieder ins Erwerbsleben einsteigen müssen, was an den Realitäten des Arbeitsmarkts vorbeiziele, weshalb sie beantragten, den Beschlüssen des Nationalrates zu folgen. Die Befürworter des neuen Modells konterten, die meisten Frauen mit schon älteren Kindern seien heute mindestens teilzeitlich erwerbstätig, weshalb man hier dem bereits eingetretenen gesellschaftlichen Wandel Rechnung tragen dürfe. Der Antrag der Kommission setzte sich mit 28 zu 15 Stimmen durch.
Einen von einem der ursprünglich deklarierten Ziele der 11. AHV-Revision (Erleichterung der Frühpensionierung) abweichenden Entscheid traf die kleine Kammer beim
Vorbezug der Altersrente. Gegen den Vorschlag der Mehrheit der Kommission, die dem Nationalrat folgen und die durch die Heraufsetzung des Rentenalters der Frauen eingesparten 400 Mio Fr. für die soziale Abfederung der Frühpensionierung einsetzen wollte, sprach sie sich mit 26 zu 12 Stimmen für den Vorschlag einer Minderheit Forster (fdp, SG) aus, den Vorbezug der Altersrente ab dem 62. Altersjahr bzw. der halben Rente ab dem 59. Altersjahr zwar zu ermöglichen, aber in jedem Fall nur mit
versicherungstechnischer Kürzung. Als Argument wurde angeführt, die sozialpolitische Abfederung gemäss Beschluss des Nationalrates sei für den Einzelnen gering, für den Versicherungshaushalt aber sehr teuer. Zudem würden damit falsche Anreize für Frühpensionierungen gesetzt. Sonderlösungen für gewisse Branchen, in denen Personen mit tiefen Einkommen und häufig harten körperlichen Tätigkeiten beschäftigt sind, sollen von den Sozialpartnern vereinbart werden. Ein weiterer Minderheitsvorschlag David (cvp, SG), mit dem Ertrag aus 0,12% Mehrwertsteuerprozenten einen Fonds für kollektive und individuelle Überbrückungshilfen zu Gunsten wirtschaftlich schwacher Personen über 62 Jahren mit Wohnsitz in der Schweiz zu schaffen, blieb chancenlos. Dem Vorschlag wurde vorgeworfen, die Rentenbezüger im Ausland zu benachteiligen und mit allzu vielen Unsicherheiten behaftet zu sein, da die Erträge der Mehrwertsteuer stark von der konjunkturellen Entwicklung abhängig sind und von Jahr zu Jahr schwanken
[13].
Im Vorjahr hatte der Nationalrat der vom Bundesrat für die finanzielle Konsolidierung von AHV und IV beantragten
Erhöhung der Mehrwertsteuersätze (für die IV 1% ab 2005, für die AHV voraussichtlich 0,5% 2009 und 1% 2013) in einem gemeinsamen Beschluss zugestimmt. Bei der Behandlung der 4. IV-Revision setzte sich ein Antrag Schmid (cvp, AI) durch, die
IV- und die AHV-Finanzierung zu trennen und Volk und Ständen je einen separaten Beschluss zu diesen beiden Versicherungen zu unterbreiten. Der Mehrwertsteuererhöhung zugunsten der IV stimmte die kleine Kammer in der Wintersession zu. Dieser Beschluss soll dem Volk 2004 vorgelegt werden, die Zuschläge für die AHV hingegen erst zu einem späteren Zeitpunkt, wenn der tatsächliche Mehrbedarf klarer ausgewiesen ist. Eine Minderheit hätte dem Volk lieber eine Gesamtrechnung präsentiert. Im Gegensatz zum Nationalrat befürwortete die kleine Kammer, der Bundeskasse ihren Anteil am bereits beschlossenen Demografieprozent und an den künftigen MWSt-Prozenten grundsätzlich zu belassen. Dieser Anteil dient dem Bund zur Finanzierung seines Beitrags an die beiden Sozialwerke. Beide Kammern genehmigten den Kapitaltransfer von 1,5 Mia Fr. aus der EO zugunsten der IV, verzichteten aber darauf, dafür einen genauen Zeitpunkt vorzusehen, sondern delegierten die diesbezügliche Kompetenz an den Bundesrat
[14].
[11] Presse vom 25.10. und 26.10.02. Zu der aus SP-Kreisen eingereichten Volksinitiative „Nationalbankgewinne für die AHV“ siehe oben, Teil I, 4b (Geld- und Währungspolitik). Der SGB gab die Ja-Parole zur SVP-Initiative aus, die den Ertrag aus dem Verkauf der nicht mehr benötigten Goldreserven der Nationalbank vollumfänglich dem AHV-Fonds zuteilen wollte (vgl. oben, Teil I, 1a, Grundsatzfragen).
[12] Presse vom 16.6. und 28.6.02;
TA, 15.7.02.
[13]
AB SR, 2001, S. 988 ff. und 1012 ff. Siehe
SPJ 2001, S. 191 f.
[14]
AB SR, 2001, S. 741 ff., 779 f., 938 und 1025 ff.;
AB NR, 2002, S. 1543 und 1704;
BBl, 2002, S. 6491 ff. Vgl.
SPJ 2001, S. 192 f.
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