Année politique Suisse 2002 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen / Berufliche Vorsorge
Nach intensiven und sorgfältigen Vorarbeiten, welche die zuständige Kommission (SGK) und vor allem deren Subkommission unter der Führung von Nationalrätin Egerszegi (fdp, AG) in Zusammenarbeit mit der Verwaltung geleistet hatte, befasste sich der Nationalrat in der Sondersession im April an zwei Sitzungstagen mit der 1. BVG-Revision. Während sich der Bundesrat aufgrund der Resultate der Vernehmlassung im wesentlichen auf eine Systemkonsolidierung und die Anpassung an die veränderten demografischen Gegebenheiten beschränkt hatte, fügte der Nationalrat wesentliche weitergehende Elemente ein. Ausgehend von der Feststellung, dass heute Eintrittsschwelle und Koordinationsabzug (beide 24 720 Fr) rund ein Drittel aller Erwerbstätigen (Personen mit geringen Einkommen, Teilzeitarbeitende) von der obligatorischen beruflichen Vorsorge ausschliesst, schlug die Kommission eine Absenkung der Eintrittsschwelle auf 12 360 Fr. vor, verbunden mit einem lohnprozentualen Koordinationsabzug. Egerzegi argumentierte, man könne nicht einerseits in der AHV die Witwenrenten kürzen, ohne den arbeitenden Frauen im Gegenzug die Möglichkeit zu geben, sich eine zweite Säule aufzubauen. Sie verwies auch auf einen Bericht der OECD, der das Schweizer Drei-Säulen-Modell zwar gelobt, aber auch feststellt hatte, dass im Bereich der kleinen und mittleren Einkommen und bei den Teilzeitarbeitenden – zumeist Frauen – ein Engpass besteht. Eine von Gewerbeverbandsdirektor Triponez (fdp, BE) angeführte Minderheit, die vor allem die Unterstützung der SVP fand, wollte überhaupt keine Öffnung, da diese die Wirtschaft, insbesondere die KMU, in unzulässigem Ausmass belaste, scheiterte aber deutlich, ebenso wie eine Minderheit aus der SP-Fraktion, die eine Senkung der Eintrittsschwelle auf 6180 Fr. verlangte. Gegen die Kommissionsmehrheit setzte sich schliesslich mit 90 zu 81 Stimmen ein Antrag Suter (fdp, BE) durch, die Eintrittsschwelle auf 18 540 Fr. zu senken, ebenfalls kombiniert mit einem lohnprozentualen Koordinationsabzug sowie mit dem Einbezug der bei mehreren Arbeitgebern erzielten Einkommen. Suter begründete seinen Antrag damit, Personen mit Einkommen von wenig mehr als 1000 Fr. pro Monat hätten während ihrer Erwerbstätigkeit kein Interesse an Pensionskassenabzügen; zudem würde ihr Einbezug dazu führen, dass ihr Ersatzeinkommen zusammen mit der AHV höher ausfallen könnte als ihr letztes versichertes Gehalt. Mit der Lösung Suter würden Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit zusätzlichen 600 Mio Fr. belastet; der Antrag der Mehrheit hätte sie 865 Mio Fr. gekostet.
Infolge dieser Beschlüsse waren die Differenzen über die Höhe des Umwandlungssatzes, einer der ursprünglichen Hauptstreitpunkte, praktisch ausgeräumt. Weil der Koordinationsabzug generell gesenkt und flexibel ausgestaltet werden soll, müssen die Renten aufgrund der höheren Lebenserwartung weniger stark gesenkt werden. Der Rat beschloss einen Umwandlungssatz von heute 7,2 auf 6,8%. Widrig (cvp, SG) beantragte vorerst, dem ursprünglichen Vorschlag des Bundesrates zu folgen und den Satz auf 6,65% zu senken, zog seinen Antrag aber im Lauf der Diskussionen zurück. Durchsetzen konnte sich hingegen ein vom rechtsbürgerlichen Lager unterstützter Minderheitsantrag Meyer (cvp, FR), die Absenkung innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes vorzunehmen. Die Kommission hatte sich für 15 Jahre ausgesprochen, Rechsteiner (sp, BS) sogar für 20 Jahre plädiert, da seiner Auffassung nach die Längerlebigkeitsreserven der Pensionskassen und Sammelstiftungen zu einem für die Übergangsgeneration sozialverträglicheren Tempo reichen würden. Im Namen des Bundesrates setzte sich Bundesrätin Dreifuss ebenfalls für zehn Jahre ein, damit möglichst rasch wieder für alle Versicherten der gleiche Umwandlungssatz gilt. Durch die Senkung des Koordinationsabzugs konnte auf höhere Altersgutschriften als Ausgleich für die Rentenkürzungen verzichtet werden, womit eine Verteuerung der Arbeit der älteren Erwerbstätigen abgewendet wurde.
Viel zu reden gab die mangelnde
Transparenz, die vor allem bei den Gewinnen herrscht, welche die Sammelstiftungen (Banken und Versicherungen), bei denen rund die Hälfte aller Erwerbstätigen versichert sind, in den Jahren des Börsenbooms erzielt haben. Egerszegi (fdp, AG) wies darauf hin, dass die Kommission auf Fragen nach den Verwaltungskosten, nach der Berechnung von Überschussbeteiligungen und der Rendite der angelegten Gelder keine befriedigende Auskunft erhalten habe, auch nicht vom BPV, welche seine Pflichten in diesem Bereich vernachlässigt habe. Aus diesen Gründen fügte der Nationalrat Bestimmungen in die Vorlage ein, welche die Sammelstiftungen in Zukunft zu mehr Trasparenz verpflichten. Auch gegen Missbräuche bei den Einkäufen in Pensionskassen ging der Rat vor. Um zu verhindern, dass Topmanager steuerprivilegierte Pensionszahlungen in Millionenhöhe erhalten, wurde die Obergrenze für BVG-versicherbare Einkommen auf 741 600 Fr. festgelegt. Der Bundesrat hatte eine Obergrenze von 370 000 Fr. vorgeschlagen, fand damit aber nur die Unterstützung der SP und der Grünen. Die 1. BVG-Revision wurde in der Gesamtabstimmung mit 129 zu 11 Stimmen gutgeheissen
[26].
In der Wintersession
verwarf der
Ständerat im Eilzugstempo – die gesamte Beratung der sehr komplexen Vorlage dauerte nur gerade zwei Stunden – die
Beschlüsse des Nationalrates grösstenteils. Bei der Eintrittsschwelle und dem versicherten Lohn entschied er mit 30 zu 8 Stimmen, beim geltenden Recht zu bleiben. Vergeblich appellierte Bundesrätin Dreifuss an die kleine Kammer, der Lösung des Nationalrates, die sie als „genial“ bezeichnete, zu folgen. Somit blieb die berufliche Vorsorge den kleinen Einkommen bis 25 320 Fr. (Stand 2003) vorerst verschlossen. Hauptargument war, die Öffnung bringe den kleineren Einkommen kaum etwas, belaste die Wirtschaft aber schwer. Auch auf das Zusammenrechnen mehrerer Löhne aus verschiedenen parallelen Arbeitsverhältnissen wurde verzichtet. Mit der vom Nationalrat vorgenommenen Absenkung des Umwandlungssatzes auf 6,8% war der Ständerat einverstanden, doch folgte er bei der Staffelung der Altersgutschriften dem Bundesrat. Als Resultat des Wirbels um die Senkung des Mindestzinssatzes (siehe oben) beschloss er, wesentlich detaillierter vorzuschreiben, wie der Bundesrat bei der Festlegung des Mindestzinssatzes vorzugehen hat. Zudem vertiefte und präzisierte er die Transparenzbestimmungen des Nationalrates
[27].
[26]
AB NR, 2002, S. 492 ff., 525 ff. und 561 ff. Die Nein-Stimmen kamen alle von der SVP. Siehe auch eine als Postulat überwiesene Motion Egerszegi (fdp, AG) für eine spezielle Statistik zur Berechnung des Umwandlungssatzes sowie drei Postulate der SGK zu missbräuchlichen PK-Einkäufen und ein Postulat Polla (lp, GE) zur Förderung von Arbeitsplätzen von über 55-Jährigen im Rahmen des BVG (
a.a.O., S. 1124 und 1127);
NZZ, 23.1. (Auswirkungen der Senkung der Eintrittsschwelle), 28.1. (Arbeitgeberverband), 25.3., 27.3. (KOF ETHZ), 10.4. (Wirtschaftsverbände), 11.4. (Arbeitnehmerverbände) und 12.4.02 (Egerszegi); Siehe auch Erika Schnyder, „Wo steht die 1. BVG-Revision nach der Verabschiedung im Nationalrat?“, in
CHSS, 2002, S. 157-161.
[27]
AB SR, 2001, S. 1034 ff.
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