Année politique Suisse 2002 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
Kinder- und Jugendpolitik
Die 1989 von der UNO verabschiedete
Kinderrechtskonvention, welcher die Schweiz 1997 als letzter europäischer Staat beigetreten ist, verpflichtet die Regierungen, dem UNO-Kinderrechtsausschuss alle fünf Jahre einen offiziellen Bericht zur Umsetzung des Abkommens einzureichen. Im Vorfeld dieser Überprüfung präsentierten rund 50 NGOs einen „Schattenbericht“, in dem sie zwar attestierten, den Kindern gehe es in der Schweiz, gemessen am internationalen Standard gut, in dem sie aber auch auf Mängel in der Anwendung der Konvention hinwiesen (fehlendes Verbot der Körperstrafe, Wildwuchs der Zuständigkeiten, föderale Ungleichheiten, mangelnde Integration und Unterstützung von ausländischen Kindern und minderjährigen Asylsuchenden). Der Kinderrechtsausschuss, der von beiden Berichten Kenntnis nahm, forderte die Schweiz auf, ihre
Vorbehalte gegenüber der Konvention zurückzuziehen
[59].
Einstimmig hiessen beide Kammern die Ratifizierung des Fakultativprotokolls von 2000 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes gut. Das Protokoll hat zum Ziel,
Kindersoldaten, deren Zahl weltweit auf 300 000 geschätzt wird, durch eine Anhebung des Mindestalters für Rekrutierungen und Kriegsdienste auf 18 Jahre besser zu schützen
[60].
Der Nationalrat nahm ein Postulat Fehr (sp, ZH) an, das den Bundesrat ersucht, in einem Bericht aufzuzeigen, wie das
Pflegekinderwesen in der Schweiz so professionalisiert werden könnte, dass es den heute international anerkannten Qualitätsanforderungen entspricht
[61].
Laut einem neuen Grundsatzentscheid des Bundesgerichts haben volljährige
Adoptivkinder einen unbedingten verfassungsrechtlichen Anspruch darauf zu erfahren, wer ihre leiblichen Eltern sind. Eine Abwägung zwischen diesem Anspruch und dem allfälligen Anliegen der Mutter oder des Vaters, ihre Identität geheim zu halten, ist nicht statthaft. Die elterlichen Interessen haben in jedem Fall zurückzustehen. Damit werden Adoptivkinder den durch künstliche Fortpflanzung gezeugten Kindern gleichgestellt, die nach Erreichen der Volljährigkeit Auskunft über die Person des Samenspenders verlangen können
[62].
Eine vom Nationalrat im Vorjahr verabschiedete Motion Janiak (sp, BL), die ein Rahmengesetz für eine umfassende
Kinder- und Jugendförderungspolitik verlangte, wurde aufgrund eines Minderheitsantrages aus CVP und FDP vom Ständerat mit 20 zu 14 Stimmen nur als Postulat angenommen. Die verbindliche Form wurde primär aus föderalistischen Gründen verworfen, aber auch aus finanzpolitischen, da die Motion die Schaffung einer Bundesstelle verlangte, welche die Arbeiten aller Verwaltungsstellen, die mit Jugendlichen zu tun haben, koordinieren und die Kantone in der Jugendförderungspolitik unterstützen sollte
[63].
Mit drei Motionen machte Nationalrätin Wyss (sp, BE) auf spezifische Probleme von Jugendlichen aufmerksam. Als Grundlage für deren politische Betätigung verlangte sie ein Rahmengesetz, das die Qualität und Vereinheitlichung der
politischen Bildung an allen Schulen der Sekundarstufe II sichert. Mit dem Hinweis auf die Kantonshoheit in Schulfragen beantragte der Bundesrat erfolgreich Ablehnung der Motion. Damit sich Jugendliche, die sich politisch engagieren, ernst genommen fühlen, wollte Wyss der eidgenössischen
Jugendsession das Antragsrecht an die eidgenössischen Räte zugestehen. Sie verwies auf das geringe Echo, welches die Petitionen der Jugendsession im Parlament jeweils auslösen. Der Bundesrat vertrat die Auffassung, dazu wäre eine Verfassungsänderung nötig, welche ihm zugunsten einer bestimmten sozialen Gruppe nicht gerechtfertigt scheine. Seiner Meinung nach behandeln Bundesrat und Parlament die Petitionen mit zunehmender Beachtung. Auch diese Motion beantragte er zur Ablehnung. Als die Motionärin ihn im Plenum ersuchte, den Vorstoss wenigstens als Postulat anzunehmen, signalisierte Bundesrätin Dreifuss Entgegenkommen, worauf das Postulat überwiesen wurde. Mit einer dritten Motion verlangte Wyss eine stärkere Förderung der
Freiwilligenarbeit Jugendlicher. Insbesondere soll sich die Schweiz am Programm des „Europäischen Freiwilligendienstes“ beteiligen und auf nationaler Ebene einen sozialen und ökologischen Freiwilligendienst etablieren. Der Bundesrat erinnerte an die Möglichkeiten, die sich aufgrund des Jugendförderungsgesetzes von 1989 ergeben und beantragte Umwandlung in ein Postulat. Da ihre Motion von 75 Abgeordneten aus allen Bundesratsparteien unterzeichnet worden war, gelang es Wyss, das Plenum von der Stossrichtung ihrer Motion zu überzeugen. Diese wurde, wenn auch knapp, mit 79 zu 73 Stimmen gutgeheissen
[64].
Unter dem Titel „Jeunesse suisse“ verabschiedete die
CVP ein Massnahmenpaket, das dafür sorgen soll, dass sich die Jugend leichter zu politischem Engagement bewegen lässt. Verlangt wurden unter anderem demokratischere Schulen und ein Ausbau des Staats- und Wirtschaftskundeunterrichts, aber auch die Beibehaltung von Noten, damit die Kinder schon in der Primarschule lernen, dass Leistung honoriert wird. Die Medien rief die CVP auf, mehr auf die Jugendlichen ausgerichtete Formate zu produzieren
[65]. Die
Pro Juventute nahm ihr 90-jähriges Bestehen zum Anlass, ihr Wirken neu auszurichten. Sie Stiftung beschloss, sich künftig politisch offensiver zu geben. Sie will verstärkt das Bewusstsein und das Verantwortungsgefühl von Kindern und Jugendlichen für Umwelt und Gesellschaft fördern und darauf hinwirken, dass Kinder und Jugendliche auf Gemeindeebene bei Angelegenheiten, die sie betreffen, mitreden können
[66].
[59] Presse vom 25.5. und 30.5.02. Vgl.
SPJ 2001, S. 214. Zu einer in diesem Zusammenhang durchgeführten repräsentativen Umfrage unter fast 20 000 Kindern und Jugendlichen zu ihren Partizipationsmöglichkeiten und -bedingungen siehe
NZZ, 25.2.02. Zu den Vorbehalten siehe
SPJ 2001, S. 214.
[60]
AB SR, 2002, S. 1 f.;
AB NR, 2002, S. 870 f. Siehe
SPJ 2001, S. 214. Zum revidierten Jugendstrafrecht sowie zu sexuellen Handlungen mit Kindern siehe oben, Teil I, 1b (Strafrecht).
[61]
AB NR, 2002, S. 1690.
[63]
AB SR, 2002, S. 474 ff. Siehe
SPJ 2001, S. 213.
[64]
AB NR, 2002, S. 1500 f. und 1502. Im Blick auf die eidg. Wahlen vom Herbst 2003 lud Wyss zusammen mit ihrem Kollegen Brunner (svp, SG) Jungpolitiker und -politikerinnen aus allen grossen Parteien ins Bundeshaus ein, um mit ihnen Strategien für eine erfolgreiche Wahl ins nationale Parlament zu diskutieren (Presse vom 18.2.02). Zur Forderung nach einer Kampagne des Bundes zur Verbesserung der Wahlbeteiligung der Jungen siehe oben, Teil I, 1c (Volksrechte).
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