Année politique Suisse 2003 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
Freisinnig-Demokratische Partei (FDP)
Anfang Januar wählten die FDP-Delegierten Interimspräsidentin
Christiane Langenberger (VD) mit 181 Stimmen zur
Präsidentin. Auf die als Favoritin gehandelte Zürcher Nationalrätin Trix Heberlein entfielen 164 Stimmen. Manche Freisinnige hatten befürchtet, dass Heberlein, die im Herbst gemeinsam mit dem SVP-Vertreter Hans Hofmann (ZH) für den Ständerat kandidieren wollte, sich als FDP-Präsidentin auf nationaler Ebene zu wenig würde von der Hauptkonkurrentin SVP abgrenzen können – die SVP hatte bereits damit gedroht, das Doppel-Ticket Heberlein-Hofmann platzen zu lassen. Langenberger hingegen hatte für eine eigenständige Politik der Mitte plädiert
[12].
Anlässlich der alpinen Ski-Weltmeisterschaften in St. Moritz (GR) forderte die FDP in einem Positionspapier eine
umfassende Sportpolitik, finanziert aus den Erträgen der Tabak- und der Alkoholsteuer. Politik und Wirtschaft müssten von den wichtigen Impulsen des Spitzensports profitieren. Die Rahmenbedingungen für den Sport seien zu verbessern, insbesondere die Vereinbarkeit von Leistungssport und Schule resp. Ausbildung
[13].
Als letzte der vier Bundesratsparteien stellte die FDP ein
Positionspapier zur „Bürgersicherheit“ vor. Basierend auf den vier Säulen Prävention, Repression, Therapie und Reparation wollte sie das subjektive Sicherheitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger erhöhen. Bei Themen wie der Strafbarkeit des Cannabis-Konsums oder der Videoüberwachung im öffentlichen Raum waren die Freisinnigen jedoch uneins
[14].
An ihrem Programmparteitag im Schiffbau des Zürcher Schauspielhauses beschlossen die Freisinnigen die Nein-Parole zu den sieben von der Linken unterstützten Volksinitiativen. Anschliessend wählten die Delegierten den Unternehmer und Kantonsrat Ruedi Noser (ZH) zum Vizepräsidenten – als Ersatz für die zur Parteipräsidentin aufgerückte Christiane Langenberger – und Maja Lalive d’Epinay (SZ) als neues Mitglied in die FDP-Geschäftsleitung. Kaum zu Diskussionen Anlass gab die
Wahlplattform „FDP – im Einsatz für Freiheit und Verantwortung. Mehr Chancen für die Schweiz“ mit den vier Schwerpunkten Wirtschaftswachstum, Bildung und Forschung, soziale Sicherheit und Gesundheit sowie Sicherheit und Migration. Ohne Gegenstimme und mit einigen Enthaltungen sprachen sich die Delegierten im Grundsatz für die Einführung eines Finanzreferendums auf Bundesebene aus. Dass der Freisinn den Bundeshaushalt ausschliesslich ausgabenseitig sanieren wollte, stellten die Delegierten mit einer adhoc-Resolution gegen eine eidgenössische Erbschaftssteuer klar – Bundesrat Villiger hatte eine solche im Hinblick auf die Unzuverlässigkeit des Parlaments in Sachen Ausgabendisziplin am Vortag in Erwägung gezogen und damit einigen Unmut ausgelöst, da die Wahlplattform nur Steuersenkungen, keinesfalls aber neue Steuern vorsah. Ausserdem sprachen sich die Freisinnigen für eine baldige Regierungsreform aus, wollten sich jedoch nicht so konkret auf die Äste hinauswagen wie Fraktionschef Fulvio Pelli (TI), dessen Antrag die Erweiterung des Bundesrates von 7 auf 9 Mitglieder vorsah. Gutgeheissen wurde schliesslich eine Stärkung des Bundespräsidentenamtes durch die Verlängerung der Amtszeit von einem auf zwei Jahre
[15].
Um ihren Wähleranteil bei den eidgenössischen Wahlen zu steigern, stellten die
FDP-Frauen eine eigene Wahlplattform vor, in der sie Blockzeiten in den Schulen für die ganze Schweiz, die Einführung der Mutterschaftsversicherung, eine qualitativ hoch stehende medizinische Versorgung zu einem vernünftigen Preis sowie Sicherheit im öffentlichen Raum und einen verbesserten Schutz vor häuslicher Gewalt (die Möglichkeit, analog dem St. Galler Modell den Täter oder die Täterin aus der gemeinsamen Wohnung wegzuweisen) forderten. Für die Nachfolge von Bundesrat Villiger stellten sie eine Frauenkandidatur in Aussicht
[16].
Die
1.-August-Rede von Parteipräsidentin Christiane Langenberger wirbelte etwas Wahlkampfstaub auf: Langenberger forderte zwar nicht direkt die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen, wies aber darauf hin, dass die Schweiz ihrem europäischen Schicksal nicht sehr lange entgehen könne und prangerte die wirtschaftlichen Folgen des Alleingangs, vor allem die Ablehnung des EWR, an
[17].
In einem Positionspapier zur
Verkehrspolitik wies die FDP darauf hin, dass es nur dank der Mobilität sichere Arbeitsplätze in der Schweiz gebe. Die Verkehrsinfrastruktur zu Lande, zu Wasser und in der Luft müsse aus einer Gesamtschau heraus regelmässig erneuert und bei Bedarf ausgebaut werden, ohne jedoch die natürlichen Lebensgrundlagen zu gefährden. Deshalb plädierten die Freisinnigen für eine Beseitigung von Engpässen auf den Nationalstrassen und in den Agglomerationen, wie sie der hängige Gegenvorschlag zur Avanti-Initiative vorsieht. In diesem Sinne trete die FDP auch für eine zweite Strassentunnelröhre durch den Gotthard ein, sofern die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Bahn nicht behindert werde. Die Neat trage sie weiterhin mit
[18].
In ihrer Stellungnahme „Golden Age – Alt und Jung gemeinsam“ verlangte die FDP, dass ältere Menschen ein selbstbestimmtes Leben in materieller Sicherheit führen können. Dazu seien Änderungen im 3-Säulen-System sowie Massnahmen in den Bereichen Arbeitsmarkt, Gesundheit, Pflege und Integration nötig. Wichtig sei insbesondere eine generationengerechte Ausrichtung der
Altersvorsorge, d.h. keine weiteren Ausbauschritte bei der AHV, sondern eine Stärkung der dritten Säule (steuerbegünstigtes privates Sparen). Ausserdem sollten die im hohen Alter wichtigen Ergänzungsleistungen in die Verfassung aufgenommen werden. In Bezug auf die Höhe des Rentenalters wollten sich die Freisinnigen nicht festlegen
[19].
Am
Wahlparteitag in Basel charakterisierte Präsidentin Christiane Langenberger die FDP als Partei, welche Probleme nicht bekämpfen, sondern aufzeigen und lösen wolle. Die Bürger hätten die volle Wahrheit verdient, auch wenn diese unpopulär, ja schmerzhaft sei. Bundesrat Pascal Couchepin konstatierte in seiner Rede, die demographischen Probleme der Schweiz hätten nicht nur Folgen für die Renten, die Krankenversicherung, den Arbeitsmarkt und die Immigration, sondern auch für den Markt der Ideen. Eine alternde Gesellschaft habe mehr Mühe, etwas zu wagen, neige zum Stillstand. Bundesrat Kaspar Villiger doppelte nach: Er ortete die politischen Schwierigkeiten in einem übertriebenen Pessimismus, in der Bekämpfung statt der Lösung von Problemen, im staatlichen Machbarkeitswahn und im Verlust an langfristigem Denken. Die Freisinnigen entliessen Villiger mit einer stehenden Ovation. Während auf dem Podium die Sachthemen dominierten, prägten Mutmassungen über die Nachfolge Villigers die Pausengespräche
[20].
Mitte September reichte
Bundesrat Kaspar Villiger sein
Rücktrittsschreiben ein – dass er nicht mehr für eine weitere Legislatur kandidieren würde, war seit einem Jahr bekannt. Als Favoriten für seine Nachfolge galten die Berner Ständerätin Christine Beerli, der Urner Nationalrat Franz Steinegger und die Aargauer Nationalrätin Christine Egerszegi. Aussenseiterchancen eingeräumt wurden Ständerat Hans-Rudolf Merz (AR)
[21].
Anfang Oktober verabschiedeten die Freisinnigen in Frauenfeld (TG) ihren scheidenden Bundesrat. Mit 138:12 Stimmen lehnten sie das Referendum gegen das
Steuerpaket ab. Die Jungfreisinnigen beantragten, den Nationalrat auf 150 Personen zu verkleinern, dies sei effizienter und spare Kosten; es wurde dazu eine Arbeitsgruppe eingesetzt
[22].
Bei den eidgenössischen Wahlen musste die FDP die grössten Verluste aller Parteien hinnehmen: Sie verlor insgesamt 11 Parlamentsmandate, davon 4 Ständeratssitze. In der Folge kam es – auch im Hinblick auf die Bundesratswahlen (die Nachfolge für Kaspar Villiger und die ultimative Forderung der SVP, ihr einen zweiten Sitz zuzugestehen, der mit Christoph Blocher zu besetzen sei) zu
Diskussionen über die Ausrichtung der Partei: Als neugewählte FDP-Parlamentarier sich aktiv für das Referendum der SVP gegen die Mutterschaftsversicherung engagierten und sich damit von einer Vorlage, die unter der Ägide der FDP zustande gekommen war, distanzierten, verwarnten Fraktionsmehrheit und Parteispitze die Abtrünnigen, da extreme Abweichungen eine klare Positionierung der Partei beeinträchtigten. Im November stellten Rechtsbürgerliche den politischen Kurs der Parteileitung in Frage und verlangten eine Standortbestimmung, während Mitglieder der Parteileitung Überlegungen dahingehend anstellten, ob die FDP vorübergehend auf einen ihrer beiden Sitze in der Regierung verzichten oder gar den Gang in die Opposition erwägen solle. Schliesslich beschlossen die Freisinnigen, am Anspruch auf zwei Regierungssitze festzuhalten und nominierten Christine Beerli (BE) und Hans-Rudolf Merz (AR) als Kandidaten für die Nachfolge von Bundesrat Kaspar Villiger. Am 10. Dezember wählte die Vereinigte Bundesversammlung Hans-Rudolf Merz in die Regierung
[23].
Um die Diskussion an der Basis über die
Zukunft der Partei anzuregen, setzte die FDP Anfang Dezember drei Arbeitsgruppen ein: Die erste Arbeitsgruppe „avenir radical“ unter der Leitung des neu gewählten Zürcher Nationalrats und FDP-Vizepräsidenten Ruedi Noser sollte das Programm der FDP durchleuchten; die zweite Arbeitsgruppe „Wahlvorbereitung April04“ unter der Leitung der Appenzell Ausserrhoder Nationalrätin und FDP-Vizepräsidentin Marianne Kleiner befasste sich mit Personalfragen, welche im Rahmen der turnusgemässen Wahlen für Präsidium und Geschäftsleitung an der FDP-Delegiertenversammlung vom April 2004 geregelt werden sollen; die dritte Arbeitsgruppe unter der Leitung von Generalsekretär Guido Schommer hatte schliesslich den Auftrag, die Parteistrukturen zu überprüfen. Das Ziel sei eine flexiblere und effizientere Arbeitsweise. Das gesamte Projekt wird den Delegierten im Januar 2004 vorgestellt
[24].
Ende Dezember schlug Vizepräsident Ruedi Noser die Konzentration auf einige wenige konkrete radikale Projekte vor, die in einer Art Ideenwettbewerb mit der Parteibasis definiert werden sollen. Um
freisinnige
Wirtschaftspolitik zu machen, dürfe die FDP nicht nur auf die Wirtschaftsverbände hören, denn freisinnig politisieren heisse unabhängig politisieren. Konkret verlangte Noser unter anderem die Abgrenzung von rechtsbürgerlichen Kräften, unentgeltliche Tagesschulen, um auch Frauen mit Familie eine berufliche Karriere zu ermöglichen, Parallelimporte, sowie Roadpricing anstelle von Benzinzöllen und Fahrzeugsteuern. Seine Vorschläge lösten parteiintern etlichen Widerspruch aus
[25].
[12] Presse vom 9.-10.1.03;
NZZ, 11.1.03;
SoZ, 12.1.03; Presse vom 13.1.03; vgl.
SPJ 2002, S. 328.
[15]
NZZ, 22.2.03; Presse vom 15.3. und 17.3.03. Zur Wahlplattform vgl.
SPJ 2002, S. 329. Zu den beiden Atominitiativen beschloss die FDP eine Woche später die Nein-Parole, die beiden Bundesratsvorlagen zur Armee- und zur Zivilschutzreform empfahl sie zur Annahme.
[16] Presse vom 5.7.03. Frauenkandidatur: Presse vom 10.3.03;
LT, 14.6. und 29.7.03;
24h und
NLZ, 28.7.03.
[17]
BZ und
NLZ, 6.8.03;
NLZ und
TA, 8.8.03.
[20]
BaZ, 30.8.03; Presse vom 1.9.03.
[21] Presse vom 17.-18.9.03; vgl.
SPJ 2002, S. 328.
[23] Wahlresultate:
NZZ und
TA, 21.10.03; Presse vom 10.-11.11.03. Fraktion: Presse von 4.11. und 8.11.03. Ausrichtung der Partei: Presse vom 5.11. und 11.11.03;
NZZ und
SGT, 13.11.03. Bundesratswahl: Presse vom 17.11., 24.11. und 11.12.03. Auch bei den kantonalen Parlamentswahlen war die FDP die Verliererin; sie büsste insgesamt 16 Sitze ein.
[24]
Lib. und
NZZ, 6.12.03.
[25]
SoZ, 21.12.03; Presse vom 22.12.03;
TA, 23.12.03;
LT, 24.12.03.
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