Année politique Suisse 2003 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
Schweizerische Volkspartei (SVP)
Sechs Wochen nach dem knappen Scheitern ihrer Asylinitiative Ende November 2002 verlangte die SVP
Nachbesserungen bei der Revision des Asylgesetzes, so eine Überwachung des Brief- und Zahlungsverkehrs abgewiesener Asylsuchender, welche sich einer Ausreise widersetzten, um deren (wahre) Identität ausfindig zu machen, die Einführung eines neuen Status für rechtskräftig Ab- und Weggewiesene, für die der weitere Verbleib in der Schweiz so unangenehm wie möglich gestaltet werden soll, sowie eine Verschärfung der Haftbedingungen für kriminelle Asylsuchende
[36].
Mitte Januar lancierte die SVP ihre
Volksinitiative „für tiefere Krankenkassenprämien in der Grundversicherung“ mit dem Ziel, die Krankenkassenprämien um 20% zu senken. Das Volksbegehren verlangt die Einführung der monistischen Spitalfinanzierung und die Aufhebung des Kontrahierungszwanges von Versicherern und Leistungserbringern. Ausserdem sollen die heute auf Gesetzesstufe verankerten Grundsätze für die Festlegung des Leistungskatalogs in der Grundversicherung in die Verfassung geschrieben werden. Aufgegeben wurde die im Vorjahr präsentierte Idee, die Grundversicherung einzuschränken und eine neue, freiwillige Ergänzungsversicherung einzuführen, da sie in einer internen Vernehmlassung auf Widerstand gestossen war
[37].
Zwei Wochen später eröffnete die SVP an ihrer Delegiertenversammlung in Biel die Unterschriftensammlung. Zur SP-Gesundheitsinitiative, welche einkommens- und vermögensabhängige Krankenkassenprämien verlangt, beschlossen die Delegierten einstimmig die Nein-Parole. In seiner Rede zur Situation der Sozialwerke forderte Bundesrat Samuel Schmid, die demographische Entwicklung zu berücksichtigen. Nicht Anreize zur Frühpensionierung seien gefragt, sondern
Arbeitsmodelle für ältere Personen, ohne aber einfach das Rentenalter zu erhöhen. Nach einem kurzen Disput zwischen Parteipräsident Ueli Maurer und dem Berner Kantonalpräsidenten Hermann Weyeneth stimmten die SVP-Delegierten dem Antrag der Waadtländer SVP zu, ein Strategiepapier zur Agrarpolitik auszuarbeiten. Weyeneth hatte eingewandt, die SVP sei kein Ersatz-Bauernverband
[38].
Im Februar forderte die SVP
Steuersenkungen, um den Konsum und damit die Wirtschaft anzukurbeln. Es dürfe nicht sein, dass der Durchschnittsverdiener während über sechs Monaten nur für den Staat arbeite. Fraktionschef Caspar Baader (BL) verlangte, das Steuerpaket auf Anfang 2004 in Kraft zu setzen. Sollte die Vorlage zum Minipaket verkümmern oder verzögert werden, erwäge die SVP eine Volksinitiative „Steuersenkungen für den Mittelstand“
[39].
Anfang April beschlossen die SVP-Delegierten in Lausanne nach engagierter Diskussion mit 165:161 Stimmen die
Ja-Parole zur Armee XXI. Gegner wie Befürworter sorgten sich um den Bedeutungsverlust der Schweizer Armee: Erstere warnten vor einer Zweiklassenarmee und forderten eine Stärkung des Milizsystems und der schweizerischen Unabhängigkeit, letztere argumentierten, die Neutralität stehe überhaupt nicht zur Diskussion, zur Armeereform gebe es keine Alternative, ohne sie arbeite man den Armeeabschaffern in die Hände. Mit 161:151 Stimmen empfahl die SVP auch die Vorlage zum Bevölkerungsschutz zur Annahme. Die sieben von der Linken unterstützten Volksinitiativen wurden praktisch einstimmig abgelehnt
[40].
Mit 272:36 Stimmen beschlossen die Delegierten der SVP im Juni in Grenchen (SO), das
Referendum gegen die Mutterschaftsversicherung zu ergreifen. Besonders stossend fanden die Referendumsgegner (fast ausschliesslich Frauen), dass die Referendumsbefürworter die Mutterschaftsversicherung mit dem Argument bekämpften, sie lasse die nicht erwerbstätigen Frauen ausser Acht und schaffe damit zwei Klassen von Müttern – dabei war die letzte, vom Volk verworfene Vorlage nicht zuletzt deshalb gescheitert, weil sie alle Mütter berücksichtigt hatte. In einem Positionspapier sprach sich die SVP gegen jegliche Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten von AHV, IV oder BVG aus und sagte der „Scheininvalidität“ den Kampf an
[41].
Ende August warnte Parteipräsident Ueli Maurer am
Wahlkampffest in Holziken (AG) die SVP-Mitglieder vor Lethargie in den eigenen Reihen, ein Wahlkampf habe bisher noch nicht stattgefunden. Einziges Thema sei landauf, landab die Frage, ob die SVP ihren Erfolg von 1999 bestätigen könne. Die Botschaft der Partei – weniger Steuern, Abbau der Staatsschulden, Kampf dem Asylrechtsmissbrauch, mehr Sicherheit für den Bürger, Nein zur EU – müsse aggressiver vermittelt werden
[42].
Im September hielt die SVP am geographischen Mittelpunkt der Schweiz, auf der Aelggi-Alp (OW), einen Parteitag unter freiem Himmel ab, wo sie die Stossrichtung zweier
Volksinitiativen festlegte, die sie nächstes Jahr lancieren will. Im
Asylbereich verlangt die SVP eine konsequente Drittstaatenregelung, bessere Grenzkontrollen und schärfere Sanktionen gegen straffällige Asylsuchende. Für
Einbürgerungen sollen Gemeinden auch Urnenabstimmungen durchführen dürfen; gegen das Ergebnis soll keine Beschwerde möglich sein. Mit diesem Vorstoss reagierte die SVP auf ein Urteil des Bundesgerichts, das Urnenabstimmungen über Einbürgerungen als nicht mit der geltenden Verfassung vereinbar ausgeschlossen hatte. Ursprünglich hatte der SVP-Vorstand geplant, diesen Parteitag zugleich als Auftakt zur Unterschriftensammlung zu nutzen und damit die letzte Phase des Wahlkampfes einzuläuten. Laut Parteisprecher Yves Bichsel sei die Zeit zu knapp gewesen, die Initiativtexte noch vor den Wahlen von der Bundeskanzlei formell prüfen und publizieren zu lassen. Ein Grund für die Verschiebung der beiden Initiativen sei auch, dass die Unterschriftensammlung für die Prämiensenkungsinitiative weniger gut als erhofft vorankomme
[43].
Ende September luden die Westschweizer SVP-Anhänger ihre Parteikollegen jenseits der Saane zu einer „
nationalen Begegnung“ ins Casino von Montreux ein. Die Veranstaltung sollte den Auftakt zu einem jährlichen Treffen in der Romandie bilden und zugleich verdeutlichen, dass die SVP nicht länger nur eine Partei der Deutschschweiz ist
[44].
Zwei Wochen vor den eidgenössischen Wahlen rief die SVP ihre Delegierten mit einem Mobilmachungszettel zum
Wahlappell in die Diskothek Alpen-Rock-House beim Flughafen Zürich. Die Schweiz habe zweimal in Zeiten grösster Not, 1914 und 1939, als die beiden Weltkriege ausbrachen, die allgemeine Kriegsmobilmachung ausgerufen. Nach Parteipräsident Ueli Maurer sei die Lage heute ernst. Schuld daran seien SP, FDP und CVP, welche die Schweiz in die Mittelmässigkeit geführt hätten. Maurer appellierte an die Delegierten, in ihrem Umfeld Wähler zu mobilisieren, und Mitglieder der Jungen SVP riefen den Anwesenden lautstark die Themen ihrer Wahlkampagne in Erinnerung, indem sie ihre politischen Forderungen und ihren Unmut über die gegenwärtige Politik vortrugen. In seiner Rede bemühte sich Bundesrat Samuel Schmid, auch die positiven Seiten der Schweiz in Erinnerung zu rufen
[45].
In den eidgenössischen Wahlen gelang es der SVP, 11 zusätzliche Nationalratsmandate und einen zusätzlichen Ständeratssitz zu erobern. Am Abend des Wahlsonntags überraschte SVP-Parteipräsident Ueli Maurer die Präsidenten der anderen Parteien vor laufender Fernsehkamera mit der ultimativ vorgetragenen Forderung, dass bei der Gesamterneuerungswahl des Bundesrates vom Dezember Christoph Blocher (ZH) zu wählen sei, ansonsten die SVP aus der Regierung austreten werde. Gegen dieses Ultimatum regte sich parteiinterner Widerstand. So forderte die Berner SVP eine allfällige Urabstimmung, sollte sich die SVP Schweiz aus der Regierungsverantwortung zurückziehen. An einer ausserordentlichen Delegiertenversammlung in Sempach (LU) bekräftigten die Mitglieder der SVP das Partei-Ultimatum für die Bundesratswahl mit 449:7 Stimmen bei 57 Enthaltungen. Kritische Voten gegen das Vorgehen wurden mit für die SVP ungewohnt viel Respekt aufgenommen, der Vorbehalt von Bundesrat Samuel Schmid, er wolle über sein Verbleiben in der Regierung frei entscheiden, respektiert. In einem Zusatzbeschluss stützten die Delegierten auf Antrag welscher SVP-Mitglieder auch die Variante, dass Blocher in der sechsten Wahlrunde den Sitz von SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey angreifen solle, falls die SVP zuvor keinen Sitz der CVP erobern könne; auf den frei werdenden Sitz der Freisinnigen erhob die SVP hingegen keinen Anspruch. Am 10. Dezember wählte die Vereinigte Bundesversammlung
Christoph Blocher in den
Bundesrat; erstmals seit 131 Jahren wurde mit Ruth Metzler (cvp) ein Regierungsmitglied nicht bestätigt. Tags darauf kündigte die SVP in Inseraten mit dem Titel „SVP: Wählerauftrag verpflichtet – auch im Bundesrat“ an, auch als gestärkte Regierungspartei ihrem Programm treu zu bleiben und ihre Doppelrolle als Regierungs- und Oppositionspartei nicht aufgeben zu wollen. Bei der Departementsverteilung wurde Christoph Blocher mit der Leitung des EJPD betraut; damit ist er mit der Asyl- und der Ausländerpolitik für jene Bereiche zuständig, in denen seine Partei bis anhin besonders deutlich in Opposition zum Bundesrat stand. – Bei den kantonalen Parlamentswahlen eroberte die SVP 14 zusätzliche Sitze, bei den Regierungsratswahlen errang sie in Appenzell Ausserrhoden ein zweites Mandat
[46].
[37] Presse vom 17.1.03; vgl.
SPJ 2002, S. 332.
[38] Presse vom 3.2.03. Zur Reaktion des Bauernverbandspräsidenten Hansjörg Walter (svp, TG) siehe
TA, 8.3.03.
[40]
NZZ, 2.4.03;
BZ, 5.4.03; Presse vom 7.4.03.
[43]
Bund und
NZZ, 13.9.03; Presse vom 15.9.03. BG-Urteil: siehe oben, Teil I, 1b (Bürgerrecht und Stimmrecht). Prämiensenkungsinitiative:
TA, 3.9.03;
LT, 4.9.03.
[44]
Bund und
SGT, 20.9.03;
Lib., 22.9.03;
NF, 24.9.03. Zum Aufbau der SVP-Sektionen in der Romandie siehe auch
LT, 2.4.03 und
TA, 3.4.03.
[46] Presse vom 20.-21.10., 23.10., 1.12., 11.-12.12. und 16.12.03. Zu den Bundesratswahlen siehe auch oben, Teil I, 1c (Regierung).
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