Année politique Suisse 2003 : Parteien, Verbände und Interessengruppen
Verbände und übrige Interessenorganisationen
Beim Arbeitgeberverband und bei der Bankiervereinigung übernahmen neue Präsidenten der Vorsitz. – Der Bauernverband reichte gemeinsam mit den Grünen und mit Umweltschutzverbänden eine Volksinitiative für ein Gentechnologiemoratorium in der Landwirtschaft ein. – Bei den Nationalratswahlen waren mehrere Gewerkschaftsfunktionäre erfolgreich. – Die Organisationen der Globalisierungsgegner traten bei grossen Protestdemonstrationen gegen internationale Kongresse in Erscheinung.
Für die Parolen der Spitzenverbände zu den eidgenössischen Volksabstimmungen siehe die Tabelle
parolen_2003.pdf.
Unternehmer
Der Genfer Privatbankier Pierre Mirabaud löste den Basler Georg Krayer als Präsident der
Schweizerischen Bankiervereinigung ab. Letzterer hatte dem Verband während elf bewegten Jahren vorgestanden, welche geprägt waren von grossen Umstrukturierungen (u.a. Fusion der Grossbanken SBV und SBG), den Auseinandersetzungen über die nachrichtenlosen Vermögen aus dem 2. Weltkrieg und den intensivierten Angriffen des Auslandes (namentlich der EU) auf das schweizerische Bankgeheimnis
[1]. Beim
Schweizerischen Arbeitgeberverband löste der Berner Unternehmer Rudolf Stämpfli den zurücktretenden Fritz Blaser als Verbandspräsident ab
[2].
Landwirtschaft
Mit relativ knappem Mehr (46 zu 36 Stimmen) sprach sich die Landwirtschaftskammer des Schweizerische Bauernverbandes (SBV) für die aktive Unterstützung der im Februar lancierten Volksinitiative für ein fünfjähriges
Moratorium für die Freisetzung von gentechnisch veränderten Pflanzen und Saatgut aus. Dieser Schulterschluss mit den ebenfalls an der Initiative beteiligten Verbänden des Umweltschutzes und der Konsumenten sowie der GP war nicht nur von Vertretern der Kleinbauern, sondern auch von einigen bürgerlichen Bauernpolitikern (u.a. Nationalrat Kunz, svp, LU) gefordert worden. Der Vorstand des SBV hatte sich nicht auf eine Empfehlung einigen können. Eine Mehrzahl der auf Bundesebene engagierten Bauernpolitiker sprach sich allerdings dagegen aus; dies geschah nicht zuletzt aus der Furcht vor einem Verlust an Goodwill bei den Wirtschaftsverbänden. Bereits im September konnte die Volksinitiative mit rund 120 000 Unterschriften eingereicht werden
[3].
Die Zusammenarbeit mit den Umweltschutzverbänden blieb allerdings auf die Frage der Gentechnologie beschränkt. Zu den beiden gegen die Nutzung der Kernenergie gerichteten Volksinitiativen, welche am 18. Mai dem Volk vorgelegt wurden, gab der SBV die Nein-Parole aus. Bei den eidgenössischen Wahlen vom Herbst konnten die
Bauern ihre starke Vertretung im Parlament halten. Im Nationalrat wurden insgesamt 33 Gewählte dem bäuerlichen Umfeld (Landwirte oder Funktionäre von landwirtschaftlichen Organisationen) zugerechnet, das waren zwei mehr als vor vier Jahren. Dieser Wahlerfolg war weitgehend auf den Siegeszug der SVP und das auffallend gute Abschneiden der Landwirtschaftsvertreter auf deren Listen zurückzuführen. So sind sowohl in St. Gallen als auch in der Waadt drei der vier SVP-Abgeordneten der Landwirtschaft zuzuordnen. Mehr als die Hälfte der Landwirtschaftsvertreter (19) gehören denn auch der SVP-Fraktion an, die CVP zählte noch deren sechs, die FDP deren drei; zwei beruflich in der Landwirtschaft engagierte Nationalräte sind bei der GP und einer bei der SP organisiert. Einige Nationalräte, welche den Wandel der Agrarpolitik der letzten Jahre massgeblich mitgestaltet hatten, wurden allerdings abgewählt (der frühere Verbandsdirektor Ehrler (cvp, AG), der Freisinnige Tschuppert (LU) und der Schwyzer Christlichdemokrat Eberhard)
[4].
Arbeitnehmer
Bei den
Parlamentswahlen vom Herbst konnten die Gewerkschaften ihre Stellung weiter ausbauen. Zu den allesamt wieder gewählten Gewerkschaftsvertretern (unter anderem Rechsteiner (sp, SG) und Fasel (csp, FR), die Präsidenten der beiden grössten Dachverbände SGB und Travail.Suisse) kamen neu der Präsident der Gewerkschaft Kommunikation, Christian Levrat (sp, FR), der Generalsekretär des SMUV, André Daguet (sp, BE), sowie der Präsident der Gruppe Luftverkehr des VPOD, Daniel Vischer (gp, ZH), dazu. Levrat hatte sich in den gewerkschaftlichen Kampfaktionen bei der Swisscom und der Post exponiert, Vischer in denjenigen des Personals der ehemaligen Swissair
[5].
Der Gewerkschaftsverband Travail.Suisse (ex-CNG) konnte im Frühjahr seine
Volksinitiative für eine gesamtschweizerische Vereinheitlichung und massive Erhöhung der Kinderzulagen einreichen
[6]. Der SGB und Travail.Suisse reichten zusammen mit der SP und der GP das
Referendum gegen die 11. AHV-Revision ein. Dabei war vor allem der SGB sehr aktiv gewesen und hatte an einem einzigen Aktionswochenende rund 80 000 Unterschriften gesammelt
[7].
Der
Mitgliederbestand des SGB nahm 2003 zum zweiten Mal in Folge zu. Zu Jahresende zählte er 393 128 Mitglieder, das waren 8437 oder 2,2% mehr als ein Jahr zuvor. Erneut wurde dieser Zuwachs vorwiegend durch die neu in den SGB aufgenommenen Arbeitnehmerorganisationen verursacht. Im Berichtsjahr schloss sich der Personalverband des Bundes dem Dachverband an. Die grossen „alten“ SGB-Gewerkschaften wie GBI, SMUV, SEV, Kommunikation und VPOD mussten alle weitere Mitgliedereinbussen (zwischen 0,4% und 2,6%) in Kauf nehmen. Der Frauenanteil im SGB wuchs zwar weiter an, blieb mit 22,4% aber weiterhin relativ bescheiden
[8].
Die GBI und der SMUV, welche sich im Oktober 2004 zusammen mit der kleinen Dienstleistungsgewerkschaft Unia zur
neuen Gewerkschaft Unia zusammenschliessen werden, nominierten ihre amtierenden Präsidenten, Renzo Ambrosetti und Vasco Pedrina, als Co-Präsidenten der neuen Organisation. Die Delegierten des VPOD beschlossen an ihrem Jahreskongress in Montreux (VD), dass sie vorläufig keine Beitrittsverhandlungen mit der Unia aufnehmen wollen
[9].
Die in den letzten Jahren eingetretene Radikalisierung der Gewerkschaften, sowie die Tatsache, dass politisch neutrale bis bürgerlich geprägte Gewerkschaften (z.B. der Bankpersonalverband resp. der Landesverband freier Schweizer Arbeitnehmer) im SGB resp. in Travail.Suisse integriert worden sind, veranlasste die FDP, erste Überlegungen über die Chancen der
Gründung einer neuen, bürgerlich orientierten Arbeitnehmerorganisation anzustellen
[10].
Andere Interessenorganisationen
Die
Globalisierungsgegner traten im Berichtsjahr insbesondere bei den Kundgebungen gegen den WEF-Kongress in Davos (GR) und das Treffen der Staats- und Regierungschefs der grössten Industriestaaten (G-8-Gipfel) im grenznahen Evian (F) in Erscheinung (vgl. dazu oben, Teil I, 1b, Politische Manifestationen). Im Herbst beschlossen rund 70 Organisationen aus diesem Spektrum, darunter Amnesty International, attac Schweiz, Fastenopfer und Erklärung von Bern, sich unter dem Namen „Sozialforum Schweiz“ eine Dachorganisation zu geben. Sie führten unter diesem Titel, der von demjenigen des „Weltsozialforums“ inspiriert ist, welches im Vorjahr in Porto Allegre (Brasilien) getagt hatte, in Freiburg eine dreitägige Veranstaltung durch
[11].
Das
Beschwerderecht der Umwelt- und Naturschutzverbänden bei grossen Bauprojekten geriet einmal mehr von bürgerlicher Seite unter Beschuss. Der Nationalrat lehnte eine parlamentarische Initiative Freund (svp, AR), welche dieses abschaffen wollte, mit relativ knappem Mehr (96:80 Stimmen) ab
[12].
Weiterführende Literatur
Gerber, Brigitta, Die antirassistische Bewegung in der Schweiz: Organisationen, Netzwerke und Aktionen, Zürich 2003.
[3]
TA, 15.1.03. Zum angespannten Verhältnis zwischen SBV und Unternehmerorganisationen siehe auch
LT, 7.3.03.Vgl. dazu auch oben, Teil I, 4c (Produits alimentaires).
[4]
TA, 24.10.03;
Wer ist im Parlament?, Beilage zu
NZZ, 26.11.03.
[5] Zu Levrat siehe
TA, 11.2.03.
[8] Pressemitteilung des SGB vom 1.4.04.
[9]
Blick, 5.9.03 (Co-Präsidium);
Lib., 8.11.03 (VPOD). Zur Unia siehe auch
SPJ 2002, S. 340.
[10]
SoZ, 14.9.03. Zur Radikalisierung der Gewerkschaften vgl. etwa
WoZ, 20.11.03 (Interview mit Pedrina) und
SGT, 21.11.03.
[12] Siehe dazu oben, Teil I, 6c (Protection des sites et de la nature).
Copyright 2014 by Année politique suisse