Année politique Suisse 2003 : Grundlagen der Staatsordnung / Föderativer Aufbau / Beziehungen zwischen Bund und Kantonen
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Aufgabenverteilung und Finanzausgleich
Als Zweitrat befasste sich in der Sommersession der Nationalrat mit der „Neuausgestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen“ (NFA). Die grundsätzlich einen starken Zentralstaat bevorzugende linke Kommissionsminderheit verlangte, auf die Vorlage nicht einzutreten, oder aber sie an den Bundesrat zurückzuweisen mit dem Auftrag, die gesamte Sozialpolitik von der neuen Kompetenzverteilung auszunehmen. Die beiden Anträge wurden nach einer langen Eintretensdebatte mit 114 zu 52 resp. 113 zu 55 Stimmen abgelehnt. In der Detailberatung setzte sich praktisch überall die von der Kommissionsmehrheit unterstützte Ständeratsfassung durch. Insbesondere bestätigte der Rat gegen den Widerstand der SP den Beschluss des Ständerats, das in der Schweiz seit jeher praktizierte Subsidiaritätsprinzip erstmals explizit in die Verfassung aufzunehmen. Ebenfalls erfolglos war der Kampf der Linken gegen die Möglichkeit, renitente Kantone mit einem Allgemeinverbindlichkeitsbeschluss zu zwingen, sich an der gemeinsamen Aufgabenlösung mit Lastenausgleich zu beteiligen. Da in diesen Fällen einzelne Kantone Gesetze übernehmen müssen, welche sie selbst in einer Volksabstimmung abgelehnt haben, wurde nicht nur von der Linken, sondern auch von einigen bürgerlichen Abgeordneten staatsrechtliche Gründe gegen diese Regelung ins Feld geführt. Das Abstimmungsergebnis fiel denn mit 94 zu 75 Stimmen auch knapper aus als bei den vorangegangenen Entscheiden.
Bei der neuen Kompetenzverteilung war, wie bereits im Ständerat, der Bereich der Behindertenpolitik am umstrittensten. Konkret kritisierte die Linke, unterstützt von Behindertenorganisationen, den Rückzug des Bundes aus der Mitfinanzierung (über die IV) von Schulen, Werkstätten und Heimen für Behinderte. Sie befürchtete, dass die Kantone nicht Willens oder nicht in der Lage wären, die bisherigen staatlichen Leistungen ohne Einschränkungen fortzuführen. Bei diesem Thema ergab sich im Nationalrat der einzige Abstimmungserfolg für die Linke. Mit Hilfe des Freisinns wurde die Möglichkeit geschaffen, dass gegen kantonale Regelungen, welche als ungenügend erachtet werden, an das Bundesgericht appelliert werden kann.
Anders waren die Fronten bei der Festlegung der Beteiligung der reichen Kantone am Lastenausgleich. Hier verlief die Konfliktlinie quer durch das bürgerliche Lager. Es standen sich die SVP und weitere bürgerliche Abgeordnete aus den wohlhabenderen Kantonen einerseits und CVP- und FDP-Vertreter aus den ärmeren Kantonen sowie die Linke andererseits gegenüber. Die zweite Gruppe setzte sich durch und näherte die Obergrenze der Beteiligung der reichen Kantone, welche die kleine Kammer auf 75% der eingesetzten Bundesmittel beschränkt hatte, wieder dem bundesrätlichen Vorschlag einer gleichstarken Beteiligung an. Der Rat beschloss, dass dieser Beitrag bis zu 100% ausmachen kann. In der Gesamtabstimmung verabschiedete der Nationalrat die neuen Verfassungsbestimmungen gegen die Opposition der SP und der GP mit 75:42 Stimmen [1].
In der Differenzbereinigung lehnte der Ständerat die Möglichkeit ab, Entscheide der Kantone im Bereich der Massnahmen zur Wiedereingliederung von Behinderten in letzter Instanz bis vor das Bundesgericht ziehen zu können. Obwohl er zugestand, dass es im Hinblick auf die Volksabstimmung taktisch sinnvoll wäre, diesen Passus beizubehalten, lehnte er ihn aus grundsätzlichen Überlegungen ab, da er den Zielen der aktuellen Justizreform widerspreche (siehe dazu oben, Teil I, 1c, Gerichte). Bei der Höhe der Beteiligung der reichen Kantone am Lastenausgleich sprach er sich gegen die Obergrenze von 100% der Bundesbeiträge aus und erhöhte sein Angebot von 75% auf 80%. In beiden Fragen gab die grosse Kammer auf Antrag ihrer Kommissionsmehrheit nach. In der Schlussabstimmung hiess der Nationalrat die NFA gegen den Widerstand der SP und der GP mit 126:54 Stimmen gut; in der kleinen Kammer lautete das Ergebnis 38:2 [2].
Anschliessend beriet der Nationalrat das zur NFA gehörende Finanzausgleichsgesetz. Gegen den Widerstand der SVP und der FDP machte er die explizite zeitliche Limitierung des Härteausgleichs, wie sie der Ständerat eingeführt hatte (Abbau um jährlich 5% nach vier Jahren), wieder rückgängig. In der Differenzbereinigung schlug der Ständerat eine Kompromisslösung vor, welche zwar eine Terminierung des Härteausgleichsfonds vorsieht, mit dem Abbau um jährlich 5% jedoch erst nach acht Jahren beginnt. Trotz Protesten der SVP und FDP, dass damit diese Übergangsregelung viel zu lange dauern würde, stimmte der Nationalrat diesem Vorschlag zu. In der Gesamtabstimmung (121:52 im Nationalrat und 38:3 im Ständerat) ergaben sich dieselben Fronten wie bei der NFA [3].
 
[1] AB NR, 2003, S. 877 ff., 931 ff., 988 ff., 995 ff. und 1161 ff. Zum Problem Behindertenpolitik siehe auch TA, 23.5.03 sowie unten, Teil I, 7d (Behinderte). Vgl. SPJ 2002, S. 47 f.
[2] AB SR, 2003, S. 758 ff., 989 f. und 1031; AB NR, 2003, S. 1562 ff. und 1745 f.; BBl, 2003, S. 6591 ff.
[3] AB NR, 2003, S. 1191 ff., 1562 f. und 1745 f.; AB SR, 2003, S. 765 ff. und 1031 Das neue Gesetz wird erst nach dem obligatorischen Referendum über die NFA publiziert werden. Vgl. SPJ 2002, S. 48.