Année politique Suisse 2003 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Suchtmittel
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Illegale Drogen
Gemäss einer Untersuchung des Bundesamtes für Statistik nahm in den neunziger Jahren der Konsum von Cannabis markant zu. Die Zahl der polizeilichen Verzeigungen stieg von 12 000 im Jahr 1990 auf 30 000 Fälle im Jahr 2001, was einer durchschnittlichen jährlichen Steigerung um 8% entspricht. Die Zahl der verzeigten Minderjährigen verfünffachte sich in diesem Zeitraum von 1250 auf 6150, was das BFS zu der Aussage bewog, Cannabis sei heute die Modedroge der Jugendlichen. Im Gegensatz dazu scheint der Handel und Konsum von anderen illegalen Drogen rückläufig zu sein. So sank die Zahl von Verzeigungen wegen Handels oder Konsums von Heroin von 27 000 (1993) auf 12 000 (2001). Bei Kokain und Crack wurde der Höchststand 1998/99 erreicht (14 000 Fälle), bei anderen Substanzen wie Ecstasy oder Halluzinogenen erreichte man den Spitzenwert von 5000 Fällen im Jahr 1996. Je nach Regionen oder Kantonen scheinen die Verzeigungsraten höchst unterschiedlich zu sein. Insbesondere Kantone mit urbanen Zentren weisen höhere Raten auf als ländliche Gegenden. Durchschnittlich lag die Verzeigungsrate in den Jahren 1999 bis 2001 bei sechs Fällen pro 1000 Einwohner. Die Untersuchung machte auch deutlich, dass eine strafrechtliche Verurteilung kaum Auswirkungen auf das Konsumverhalten hat. So kommen 57% der Verurteilten innerhalb von zehn Jahren erneut mit dem Betäubungsmittelgesetz in Konflikt, die Hälfte von ihnen sogar innerhalb von zwei Jahren nach einer Verurteilung [45].
Der Nationalrat tat sich sichtlich schwer mit der Revision des Betäubungsmittelgesetzes, welche der Ständerat bereits Ende 2001 verabschiedet hatte. Ziel der Gesetzesänderung war die definitive gesetzliche Verankerung des Vier-Säulen-Modells mit der kontrollierten Heroinabgabe sowie die Einführung der Straffreiheit für den Konsum von Cannabis und eine Aufhebung der Strafverfolgungspflicht bei Anbau und Handel sowie deren staatliche Regulierung. In der vorberatenden Kommission waren diese beiden Stossrichtungen nicht bestritten; die Kommission ging noch einen Schritt weiter als der Ständerat und setzte die Alterslimite für den straffreien Cannabis-Konsum wieder auf 16 Jahre herab, wie dies auch der Bundesrat vorgeschlagen hatte; die kleine Kammer hatte sich für 18 Jahre ausgesprochen. Überraschend beschloss die Kommission mit 12 zu drei Stimmen eine vorher nie zur Diskussion gestandene Lenkungsabgabe auf Cannabis. Je nach Stärke des THC-Gehalts sollte eine Steuer zwischen acht und 15 Franken erhoben werden. Die Abgabe sollte schätzungsweise rund 300 Mio Fr. einbringen und je zur Hälfte der AHV und der Suchtprävention zugute kommen. Anbau, Produktion und Handel sollten gemäss der Mehrheit der Kommission zwar reglementiert, dafür aber toleriert werden. Im Gegensatz zum Ständerat entschied sich die Kommission auch beim Konsum von harten Drogen für das Opportunitätsprinzip, so wie dies der Bundesrat vorgeschlagen hatte. Demnach sollte der Konsum harter Drogen zwar verboten, aber nicht strafrechtlich verfolgt werden [46].
Ursprünglich für die Maisession vorgesehen, wurde die Beratung der Vorlage im Plenum mit dem offiziellen Motiv des Zeitmangels auf die Junisession verschoben und dann noch einmal auf die Septembersession. Die sichtbare Unlust des Nationalrats, das heisse Eisen anzufassen, erklärten Beobachter mit den bevorstehenden eidgenössischen Wahlen. Insbesondere FDP- und CVP-Vertreter aus der Westschweiz und den ländlichen Gebieten der Deutschschweiz hätten gerne zur Wahrung ihrer Wahlchancen bis nach den Wahlen Gras über die ganze Angelegenheit wachsen lassen [47].
Zu Beginn der Eintretensdebatte lagen dem Plenum nicht weniger als sechs Nichteintretensanträge von vehementen Gegners jeglicher Liberalisierung vor (Fraktionen der LP und der SVP; Schenk, svp, BE; Waber, edu, BE; Guisan, fdp, VD; Maitre, cvp, GE), ein Rückweisungsantrag (Neyrink, cvp, VD) an die Kommission sowie zwei Rückweisungsanträge (Studer, evp, AG; Wasserfallen, fdp, BE) an den Bundesrat. Von Befürworterseite hatte nur Leuthard (cvp, AG), um eine nüchternere Beurteilung der Vorlage nach den Wahlen zu ermöglichen, einen Antrag deponiert, und zwar auf Rückweisung an die Kommission mit dem Auftrag, noch offene Fragen (Opportunitätsprinzip, Lenkungsabgabe, Prävention und Jugendschutz) zu klären. In der eigentlichen Eintretensdebatte geisselte Ruey (lp, VD), dass auf Abstinenz verzichtet werde und erklärte, die Jugend brauche Autorität. Waber warnte in biblischer Sprache vor einer Politik der Verführung, welche die Jugend in den „Drogensumpf“ stürze und dem „Bösen“ ausliefere.
Die Befürworter hingegen erinnerten an die Nutzlosigkeit der seit 1975 praktizierten Repressionspolitik. Diese führe bei Justiz und Polizei zu einer Ressourcenverschleuderung und schaffe als Folge der von Kanton zu Kanton unterschiedlichen Strafverfolgungspraxis Rechtsungleichheit. Zudem sei es schwierig, wirkungsvolle Präventionsarbeit zu leisten, solange der Hanfkonsum strafbar ist, sich also die Konsumenten verstecken müssen. Mit der Entkriminalisierung des Konsums und der Regulierung von Anbau und Handel lasse sich die Szene aus dem Dunstkreis der organisierten Kriminalität lösen. Bundespräsident Couchepin sprach sich in einer engagierten Rede, seiner ersten zu diesem Thema, ebenfalls für die Revision aus. Er bekannte sich zu einer in den letzten Jahren gewonnenen liberalen Haltung und bat die Gegner, es ihm gleichzutun. Auch er wolle unbedingt, dass weniger Drogen konsumiert werden, aber er halte es für falsch, Staat, Justiz und Polizei mit der Lösung des Problems zu betrauen. Vielmehr gelte es, ein Gesetz zu schaffen, das der Realität Rechnung trage. Er empfahl seinen „compatriotes romands“, das Thema weniger emotional zu behandeln und sich ein Beispiel am Deutschschweizer Pragmatismus zu nehmen, der sich mehr ans Konkrete halte, statt grosse Prinzipien zu verkünden. Aber der eloquente Aufruf Couchepins fruchtete nichts. Nach einer insgesamt gehässigen Debatte beschloss der Nationalrat mit 96 zu 89 Stimmen bei vier Enthaltungen, auf die Vorlage nicht einzutreten. Für Nichteintreten sprach sich (mit Ausnahme von Gadient, GR) die geschlossene SVP-Fraktion aus, ebenso LP, EDU und EVP (ausser dem parteilosen Wiederkehr, ZH), 26 von 35 CVP-Abgeordneten sowie eine starke Minderheit der FDP. Der drogenpolitische „Röstigraben“ spielte einmal mehr stark: die Mehrheit der Neinstimmen aus FDP und CVP stammten aus der Romandie, ebenfalls die zwei Enthaltungen der SP. Mit diesem Entscheid war die brisante Frage der Entkriminalisierung von Cannabis rechtzeitig vor den Wahlen auf Eis gelegt [48].
Der geltende Bundesbeschluss über die ärztliche Verschreibung von Heroin an schwer Drogenkranke ist bis zum Inkrafttreten der Revision des Betäubungsmittelgesetzes (BetmG), längstens aber bis zum 31. Dezember 2004 befristet. Wegen der Verzögerungen bei den Beratungen im Nationalrat erschien es immer wahrscheinlicher, dass das revidierte BetmG am 1. Januar 2005 noch nicht in Kraft sein wird und ab diesem Zeitpunkt keine gesetzliche Basis mehr für diese Therapieform besteht. In diesem Fall müssten die Behandlungszentren geschlossen werden und die Patientinnen und Patienten ihre Therapie, die ihnen die Führung eines möglichst normalen Lebens erlaubt, abrupt abbrechen. Um dies zu verhindern, hatte der Bundesrat dem Parlament im Vorjahr beantragt, den Bundesbeschluss um fünf Jahre, längstens jedoch bis zum Inkrafttreten des revidierten BetmG zu verlängern. Mit Unterstützung einer Mehrheit der SVP-Fraktion bekämpfte Waber (edu, BE) die Verlängerung mit der Behauptung, es sei noch kein einziger Abhängiger durch das Programm vom Heroin weggekommen. Die Vertreter von CVP, FDP und SP wiesen darauf hin, dass es sich lediglich um eine Verlängerung und nicht um eine Veränderung handle, weshalb hier nicht der Ort sei, um eine Grundsatzdebatte zur Drogenpolitik zu führen. Ziel der Heroinprogramme sei nie allgemeine Abstinenz gewesen, sondern vielmehr die Möglichkeiten für die Abhängigen, trotz ihrer Heroinsucht ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Die Verlängerung wurde schliesslich mit 110 zu 42 Stimmen angenommen. Der Ständerat stimmte diskussionslos und einstimmig zu [49].
Mit 25 zu 17 Stimmen lehnte der Ständerat eine im Vorjahr vom Nationalrat angenommene Motion für eine Aufhebung der Krankenkassenpflicht der heroingestützten Behandlung ab. Die Befürworter der Motion aus CVP und SVP machten erneut geltend, die medizinisch kontrollierte Heroinabgabe sei weniger eine medizinische denn eine sozialpolitische Massnahme, weshalb sie über allgemeine Steuern zu bezahlen sei, die Gegner konterten, Opiatsucht sei eine international anerkannte Krankheit und deren Behandlung, in welcher Form auch immer, deshalb kassenpflichtig [50].
Der Kanton Tessin wandelte sich innert Jahresfrist vom freizügigsten Kanton in Fragen Cannabis-Konsum zum repressivsten Landesteil. In zahlreichen Razzien wurden sämtliche Indoor-Plantagen und Hanfläden dicht gemacht und gegen deren Betreiber Anklage erhoben. Das kompromisslose Vorgehen der Tessiner Behörden gegen Hanfanbauer und Ladenbesitzer soll in der ganzen Schweiz Schule machen. Im Mai einigten sich Staatsanwälte, Richter und Polizisten aus zehn Schweizer Kantonen (AG, BS, BE, FR, GR, SZ, TI, VD, VS und ZH) anlässlich einer Tagung in Bellinzona auf eine gemeinsame Nulltoleranzstrategie bei Anbau und Handel [51].
Unter dem Druck der Realität schien hingegen die traditionell repressive Westschweizer Hardliner-Front im Umgang mit den Konsumentinnen und Konsumenten von harten Drogen zu bröckeln. Nach Genf (2001) bekundete auch die Stadt Lausanne ihre Absicht, ein so genanntes Fixerstübli einzurichten, wollte jedoch nicht ohne Zustimmung des Kantons vorgehen. Aber sowohl der Waadtländer Staats- wie der Kantonsrat verweigerten ihre Zustimmung [52].
 
[45] Presse vom 14.1.04.
[46] Presse vom 24.1., 25.1., 22.2., 25.3. und 29.3.02. Zu Referendumsdrohungen bereits im Vorfeld der Debatte im NR siehe NLZ, 31.5.03; Bund, 6.6.03; 24h, 13.9.03. Vgl. SPJ 2001, S. 184 f. Zu widersprüchlichen Aussagen des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer zur Entkriminalisierung des Cannabiskonsums siehe NZZ, 23.1.03 und NLZ, 17.10.03.
[47] Presse vom 14.6. und 17.6.03; BZ, 22.9.93.
[48] AB NR, 2003, S. 562, 994 f., 1031 ff., 1276 f., 1490 ff. und 1517 ff. Das Scheitern der Vorlage zeichnete sich bereits im Frühsommer ab. Vom Magazin Facts befragt, gaben 83 Abgeordnete an, gegen die Strafbefreiung von Cannabis zu sein. Nur 69 waren dafür, 48 unentschlossen. Besonders FDP und CVP zeigten sich gespalten (NLZ, 5.6.03).
[49] AB NR, 2003, S. 2 ff. und 1246; AB SR, 2003, S. 427 und 718. Siehe SPJ 2002, S. 204.
[50] AB SR, 2003, S. 112 ff. Vgl. SPJ 2002, S. 205.
[51] Auch hier wurde die Verhärtung mehrheitlich mit den anstehenden Wahlen im Kanton TI erklärt: NZZ, 14.3., 22.3., 11.4., 13.5., 26.6. und 16.9.03. Vgl. SPJ 2002, S. 205 f. Zu einer Einfachen Anfrage Wyss (sp, BE) bezüglich der unterschiedlichen Praxis in den Kantonen, siehe AB NR, 2003, Beilagen IV, S. 295.
[52] TA, 20.1.03; Lib., 6.6. und 18.9.03.