Année politique Suisse 2003 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport
 
Sozialhilfe
Das Bundesamt für Sozialversicherung lud am 23. Mai zu einer Nationalen Armutskonferenz ein. Gesucht wurden Wege und Handlungsstrategien gegen Armut und soziale Ausgrenzung. An der Konferenz trat auch Bundespräsident Couchepin auf, der aber keine neuen Ideen vorstellte, sondern die subsidiäre Aufgabe des Staates unterstrich und der Einführung eines generellen Mindestlohnes einmal mehr eine Absage erteilte. Die Forderung nach einer ständigen Kommission zur Ausarbeitung und Umsetzung einer kohärenten nationalen Politik zur Bekämpfung der Armut nahm er nicht auf. In Anwesenheit von in- und ausländischen Wissenschaftern und Wissenschafterinnen, Vertretern und Vertreterinnen von Hilfswerken, den Sozialpartnern sowie von Bundes- und Kantonsbehörden wurde insbesondere über die statistische Messung sozialer Phänomene, den Zugang zu materieller Hilfe, die Auswirkungen von Armut auf die Gesundheit, Armut als Folge von Migration sowie Bildung und Arbeit als Mittel gegen Armut diskutiert. Ergebnis der Tagung war die Forderung nach Erstellung eines nationalen Aktionsplans, ähnlich den Ländern der EU, mit welchem der Bundesrat alle Bürgerinnen und Bürger zur Bekämpfung der Armut mobilisieren soll [53].
Wer ein niedriges Einkommen hat, verfügt nach Abzug von Steuern, Mietzins, allfälligen Kosten für Kinderkrippe, Krankenkassenprämien und nach möglichen Sozialtransfers wie Kinderzulagen, Verbilligung von Krankenkassenprämien, Alimentenbevorschussung usw. je nach Wohnort (verglichen wurden die Kantonshauptstädte) über ein sehr unterschiedlich hohes Einkommen, wie eine im Auftrag der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) verfasste Studie deutlich machte. Entscheidend für die Differenzen sind vor allem die Krippenkosten und die Ausgestaltung der Alimentenbevorschussung. Die enormen kantonalen Unterschiede und Disfunktionalitäten, die beispielsweise dazu führen können, dass ein erhöhter Arbeitseinsatz letztlich ein niedrigeres Einkommen auslöst, verlangen nach Ansicht der SKOS nach einem eidgenössischen Rahmengesetz zur Existenzsicherung [54].
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Opferhilfe
Die vom Bundesrat vorgeschlagene Totalrevision des Opferhilfegesetzes (OHG) wurde in der Vernehmlassung prinzipiell befürwortet. Umstritten war aber die Höhe der Genugtuungszahlungen. Laut Revisionsentwurf entsprechen diese dem Bedürfnis der Opfer nach sozialer Anerkennung und sollten beibehalten, aber limitiert werden. Diese Begrenzung wurde mehrheitlich begrüsst. Der bundesrätliche Vorschlag einer Limite von zwei Dritteln des maximal versicherten Jahresgehalts nach Versicherungsgesetz (rund 70 000 Fr.) stiess hingegen auf weniger Akzeptanz. Die SVP zeigte sich mit dieser Limite einverstanden, warnte aber vor Kostensteigerungen und setzte sich für strenge Vergabekriterien ein. Die FDP verlangte die ersatzlose Streichung der Genugtuungen, die CVP wollte höhere Limiten und die SP sowie die Grünen sprachen sich dafür aus, keine Begrenzung vorzunehmen. Umstritten war auch, ob Einwohner der Schweiz, die im Ausland Opfer einer Straftat geworden sind, Anspruch auf Leistungen haben. Einzig die SVP sprach sich für diesen Fall generell gegen Leistungen nach OHG aus. Die Mehrzahl der an der Vernehmlassung beteiligten Organisationen befürworteten die kostenlose Unterstützung durch die Beratungsstellen, nicht aber Entschädigungen und Genugtuungen. SKOS, SP, Grüne und der Verband der Schweizer Frauenorganisationen, Alliance F, möchten hingegen alle Fälle abdecken. Mit Unterstützung der SODK verlangten diese Kreise zudem neue Regelungen für Opfer von häuslicher Gewalt und von Menschenhandel [55].
Mit einer parlamentarischen Initiative wollte Nationalrätin Leutenegger Oberholzer (sp, BL) erreichen, dass die Verfahrensrechte der Opfer im OHG in dem Sinn ausgedehnt werden, dass Opfer von Straftaten Entscheide nicht nur anfechten können, wenn sie zivilrechtliche, sondern auch wenn sie öffentlich-rechtliche Ansprüche betreffen, die Taten also von Behörden oder Beamten in Ausübung ihrer amtlichen Autorität begangen wurden. Auf Antrag der Rechtskommission des Nationalrats, die argumentierte, dies werde ohnehin in den meisten Kantonen so gehandhabt, und es sei sinnvoller, diese Frage bei den anstehenden Revisionen des OHG und des Strafprozessrechts zu behandeln, wurde der Initiative mit 100 zu 66 Stimmen keine Folge gegeben [56].
 
[53] Lit. Nationale Armutskonferenz; Presse vom 24.5.04; CHSS, 2003, S. 186-188. NR Rechsteiner (sp, SG) wollte den BR mit einer Motion beauftragen, einen Aktionsplan auszuarbeiten; der Vorstoss wurde aber von Bortoluzzi (svp, ZH) bekämpft und deshalb vorderhand der Beratung entzogen (AB NR, 2003, S. 1722). Zu genaueren Statistiken bezüglich der Lebenshaltungskosten, siehe die Antwort des BR auf eine Einfache Anfrage Jossen (sp, VS) in AB NR, 2003, Beilagen I, S. 117 f. Zu den ersten Ergebnissen eines Nationalfondsprojekts zum Thema Working Poor siehe NZZ, 15.2.03.
[54] Lit. Wyss / Knupfer; Presse vom 14.2.03. Zu den Zahlen der Sozialhilfebezüger, die angesichts der nach wie vor lahmenden Konjunktur weiter zunehmen, siehe NZZ, 3.6. 9.7.03 und 11.1.04; TA, 4.9.03. Zu einer Ip. Rossini (sp, VS) zur künftigen Ausgestaltung der Sozialhilfe und der Antwort des BR siehe AB NR, 2003, Beilagen IV, S. 554 f.
[55] Presse vom 22.4.03. Siehe SPJ 2002, S. 207 f. Zur Bekämpfung der Gewalt in Ehe und Partnerschaft siehe oben, Teil I, 1b (Strafrecht).
[56] AB NR, 2003, S. 2000 ff.