Année politique Suisse 2003 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV)
Ende 2000 hatte der Bundesrat dem EDI den Auftrag erteilt, gemeinsam mit dem EFD und dem EVD ein Forschungsprogramm zur längerfristigen Finanzierung der Altersvorsorge im Hinblick auf die 12. AHV-Revision durchzuführen und 2003 einen Synthesebericht vorzulegen. Die Arbeiten wurden durch die interdepartementale Arbeitsgruppe „IDA ForAlt“ geleitet. Sie untersuchten insbesondere die zentralen Faktoren, welche heute den Altersrücktritt bestimmen, welches mögliche Entwicklungen für die Zukunft sind, und welche Auswirkungen verschiedene Massnahmen in der AHV hätten. Bezüglich des vorzeitigen Altersrücktritts zeigten die Forschungsergebnisse deutlich dessen Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Situation der betroffenen Person: Wer es sich leisten kann, scheidet früh aus dem Arbeitsprozess aus. Dabei spielen die überobligatorischen Leistungen der beruflichen Vorsorge und die Gesamtarbeitsverträge, welche je nach Branche die Möglichkeit der Frühpensionierung vorsehen, eine grosse Rolle. Die Ergebnisse zeigten aber auch, dass der Frührücktritt nicht allein eine individuelle Entscheidung ist. Bei den Restrukturierungen der Unternehmen in den 90er Jahren wurden vielfach ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer „freigestellt“, indem ihnen mit attraktiven Angeboten der Frührücktritt angeboten wurde.
Ermittelt wurde auch der demografisch bedingte finanzielle Mehrbedarf in der AHV. Wie die Untersuchungen zeigten, hängt dieser wesentlich von der weiteren demografischen und wirtschaftlichen Entwicklung ab. Ein mittleres Szenario ging von einem Mehrbedarf von rund vier resp. fünf Mehrwertsteuerprozentpunkten bis 2025 bzw. bis ins Jahr 2040 aus, wobei bei einer genügend starken Erhöhung der Produktivität und einem entsprechenden Wirtschaftswachstum der finanzielle Mehrbedarf auch deutlich tiefer ausfallen könnte. Der Forschungsbericht untersuchte die Auswirkungen von drei Stossrichtungen möglicher Massnahmen und kam dabei zum Schluss, dass, wenn die Einnahmen zur Deckung des Mehrbedarfs erhöht werden müssen, die Mehrwertsteuer als Finanzierungsquelle volkswirtschaftlich am vorteilhaftesten abschneidet. Eine Erhöhung des Rentenalters um zwei Jahre würde den finanziellen Mehrbedarf bezogen auf das Jahr 2025 zwischen 30 und 40% reduzieren, wobei bei guter konjunktureller Lage ein längerer Verbleib der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Arbeitsprozess auch den Arbeitskräftemangel reduzieren könnte. Eine Anpassung der Renten aufgrund des Preis- anstatt des Mischindexes schliesslich würde die Finanzierungslücke bis 2025 um rund einen Drittel und bis 2040 um rund die Hälfte reduzieren, eine Anpassung allein aufgrund der Lohnentwicklung hingegen um ca. den Faktor 1,5 erhöhen [6].
Kaum im Amt als neuer Vorsteher des EDI legte Bundespräsident Couchepin seine Vorstellungen für die künftige Entwicklung der Altersvorsorge dar. Insbesondere sprach er sich dafür aus, mittelfristig das Rentenalter um ein oder zwei Jahre hinaufzusetzen. In einem Positionspapier, das er dem Gesamtbundesrat kurz vor seinem traditionellen Medienspaziergang auf die Petersinsel vorlegte, plädierte er für eine Erhöhung vorerst auf 66 (2015) und später auf 67 Jahre (2025). SP, Grüne und CVP wiesen diesen Vorschlag umgehend zurück; selbst die SVP, die 2000 sogar eine Erhöhung auf 68 Jahre verlangt hatte, äusserte sich – wenige Wochen vor den anstehenden eidgenössischen Wahlen – reserviert. Einzig die FDP hielt zu ihrem Bundesrat. Der Arbeitgeberverband unterstützte ebenfalls eine Erhöhung, wollte sich aber nicht auf ein starres Regelrentenalter festlegen, sondern verlangte eine Flexibilisierung nach oben [7].
Als gerüchteweise bekannt wurde, Bundesrat Villiger wolle im Bestreben um Einsparungen den Mischindex (Anpassung der Renten nicht nur an die Teuerung, sondern auch an die Lohnentwicklung) für die Berechnung der laufenden AHV-Renten zur Disposition stellen, winkten alle grossen Parteien mehr oder weniger entschieden ab. Die SP erklärte, der Mischindex sei für sie unantastbar. Die CVP meinte, fürs Sparen sei es sinnvoller, die Renten weniger häufig anzupassen, wie dies ja in der 11. AHV-Revision vorgesehen ist. Auch Politiker der FDP und sogar der SVP, welche in der Vergangenheit selber schon angeregt hatten, die Renten lediglich der Preisentwicklung anzupassen, sprachen sich nun dagegen aus. Im Vorfeld des Ausflugs auf die Petersinsel brachte Bundespräsident Couchepin das Thema in einer etwas anderen Form in die Diskussion. Seiner Ansicht nach sollte der Mischindex zur Berechnung der Ausgangsrente beibehalten, für die periodische Erhöhung der laufenden Renten hingegen abgeschafft werden [8].
Schliesslich begnügte sich der Bundesrat damit, dem Parlament im Rahmen des Entlastungsprogramms 2003 (EP 03) zu beantragen, den Mischindex einmalig (2006) auszusetzen, um damit rund 110 Mio Fr. einzusparen. Der SGB kündigte umgehend an, diesen Angriff auf die AHV-Renten, so er denn beschlossen würde, mit dem Referendum zu bekämpfen. Im Ständerat führte das Ansinnen des Bundesrates zu einem längeren Schlagabtausch. Leuenberger (sp, SO) warnte eindringlich davor, das EP 03 mit diesem „Pferdefuss“ zu belasten. Mit der Aussetzung des Mischindexes würde erstmals in der Geschichte der AHV eine Leistungsreduktion vorgenommen. Die negative politisch-psychologische Wirkung wäre weit grösser als der sparpolitische Nutzen. Unterstützt wurde er von David (cvp, SG), der betonte, beim Mischindex handle es sich um eine „zentrale Rahmenbedingung“ der AHV. Eine solche „Übung“, wie sie der Bundesrat und die Mehrheit der Kommission vorhätten, könne man nicht im Rahmen eines Sparprogramms durchziehen. Bundesrat Villiger argumentierte demgegenüber, dass es sich bei der Aussetzung um eine einmalige Massnahme handle, die von den Rentnerinnen und Rentnern durchaus verkraftet werden könne. Bei künftigen Revisionen seien Abstriche beim Mischindex und ein höheres Rentenalter die einzige Alternative zu zusätzlichen Mehrwertsteuerprozenten. Mit 23 gegen 16 Stimmen stimmte der Ständerat dem Antrag zu. Da in der Zwischenzeit die 11. AHV-Revision ohne soziale Abfederung des Rentenvorbezugs bereinigt worden war (siehe unten), verzichtete der Nationalrat auf das Aussetzen, überwies aber eine Motion der Spezialkommission Entlastungsprogramm, die den Bundesrat beauftragt, verschiedene Varianten zur Indexierung der AHV-Renten vorzulegen. Der Ständerat schloss sich dem Entscheid stillschweigend an; die Motion nahm er, primär aus formalrechtlichen Gründen, nur in der Postulatsform an [9].
Im Vorjahr hatte der Ständerat im Rahmen der 11. AHV-Revision beschlossen, dem Antrag des Bundesrates zur Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten von AHV und IV nur für den Bereich der IV zuzustimmen (1%), den Beschluss für die AHV (0,5% voraussichtlich 2008, 1% schätzungsweise 2012) aber aufzuschieben, bis der zusätzliche Finanzierungsbedarf tatsächlich ausgewiesen ist. Gleichzeitig hatte er sich einmal mehr dafür ausgesprochen, der Bundeskasse ihren Anteil am Ertrag des seit 1999 bestehenden Mehrwertsteuerprozents zugunsten der AHV (Demografieprozent) sowie an den neuen Prozentpunkten zu belassen. Neben allgemeinen Bundesmitteln und den zweckgebundenen Einnahmen aus der Tabak- und der Alkoholsteuer dient dieser Anteil dem Bund dazu, seinen Beitrag an die Kosten der AHV und der IV zu bezahlen, von deren jährlichen Ausgaben er 16,4% (AHV) resp. 37,5% (IV) übernimmt. Der Nationalrat hatte demgegenüber stets die Auffassung vertreten, der Ertrag aus den für die AHV und IV erhobenen Mehrwertsteuerprozenten sei vollumfänglich in den AHV-Fonds zu leiten [10].
Gegen einen freisinnigen Minderheitsantrag, der die Unterstützung der CVP und der LP fand, hielt der Nationalrat in der Frühjahrssession mit 105 zu 67 Stimmen an der Streichung des Bundesanteils fest. Mit 92 zu 86 Stimmen aus FDP, SVP und LP, welche sich gegen „Steuern auf Vorrat“ wehrten, folgte er auch dem Antrag der Kommission, auf den separaten Finanzierungsbeschluss des Ständerates zur IV nicht einzutreten und die Anhebung der Mehrwertsteuersätze für die AHV und die IV wieder im Paket der 11. AHV-Revision zusammenzuführen. Beim Ausmass der Erhöhung zu Gunsten der IV standen sich drei Varianten gegenüber: Die SP beantragte, Bundes- und Ständerat zu folgen und den Mehrwertsteuersatz für die IV um einen Prozentpunkt anzuheben, die Kommission sprach sich für 0,8% aus, und ein SVP/FDP-Antrag wollte nur 0,7%. Mit 114 zu 64 Stimmen setzte sich klar der Kommissionsantrag durch [11].
Entgegen einem Antrag Brunner (sp, GE) beharrte der Ständerat mit 39 zu 4 Stimmen aus Rücksicht auf die Bundesfinanzen darauf, dem Bund seinen Anteil am Ertrag des Demografieprozents und der neuen Mehrwertsteuerprozentpunkte zu belassen. Beim Ausmass der Erhöhung zu Gunsten der IV schloss sich die kleine Kammer mit 33 zu 9 Stimmen hingegen dem Nationalrat an. Vergeblich versuchte Brunner darauf aufmerksam zu machen, dass diese beiden Beschlüsse zueinander in Widerspruch stünden. 0,8% ohne Bundesanteil würden etwa 1% mit Bundesanteil entsprechen; bei 0,8% mit Bundesanteil sei eine Sanierung der IV praktisch ausgeschlossen. Mit ihrer Argumentation fand sie die Zustimmung ihrer Genfer Kollegin Saudan (fdp) sowie von Bundespräsident Couchepin. Der Kommissionssprecher begründete den Antrag auf 0,8% mit dem politischen Druck, der auf den Bundesrat, das BSV, die kantonalen IV-Stellen und die zuständige ärztliche Kommission ausgeübt werden soll, mit der Gewährung von neuen Invalidenrenten zurückhaltend zu sein. Bei der Zusatzfinanzierung der AHV bot der Ständerat Hand zu einem Kompromiss: er verzichtete stillschweigend darauf, den Finanzierungsbeschluss aufzusplitten, doch wollte er lediglich eine erste Erhöhung um 0,5% vornehmen [12].
In der Maisession bekräftige der Nationalrat mit 95 zu 59 Stimmen noch einmal seinen Beschluss bezüglich Streichung des Bundesanteils. In der Diskussion um das Ausmass der Anhebung der Steuersätze zu Gunsten der AHV wollte sich eine Minderheit I (Triponez, fdp, BE) dem Ständerat anschliessen, eine Minderheit II (Zäch, cvp. AG) hingegen dem Antrag des Bundesrates auf 1,5 Prozentpunkte folgen. Schliesslich setzte sich mit 90 zu 75 resp. 101 zu 64 Stimmen der Antrag der Kommission auf eine Erhöhung um einen Prozentpunkt durch [13]. Der Ständerat folgte der grossen Kammer bei der Erhöhung, unterstrich aber, dass er nach seinem Entgegenkommen erwarte, dass der Bundesrat den neuen Mehrwertsteuersatz frühestens 2010 in Kraft setze. Beim Bundesanteil blieb er hingegen hart. Auch in der dritten Runde fand keine Annäherung der Standpunkte statt. Die Einigungskonferenz übernahm den Beschluss des Ständerates, dem schliesslich auch SP und GP, bis anhin Gegnerinnen des Bundesanteils, zustimmten, um ein Scheitern der Mehrwertsteuervorlage zu vermeiden. Mit Ausnahme einer starken Mehrheit der SVP stimmten alle Parteien zu. Da es sich bei Mehrwertsteueranpassungen um Verfassungsänderungen handelt, untersteht dieser Finanzierungsbeschluss dem obligatorischen Referendum [14].
Der seit Jahren andauernde Streit um die Bundesanteile führte unter anderem dazu, dass der Bundesrat eine im Anschluss an die Beratung der 11. AHV-Revision eingereichte und gleichentags angenommene Motion der SGK des Ständerates umsetzte, bevor sich der Nationalrat dazu äussern konnte. Mit der Motion wurde die Regierung ersucht, bei der 12. AHV-Revision eine transparente Finanzierung der AHV vorzuschlagen, in der die sämtlichen für die AHV erhobenen Mehrwertsteuerprozente direkt in den AHV-Fonds fliessen und die Beiträge aus der Bundeskasse entsprechend nach unten angepasst werden. Im November beauftragte der Bundesrat – ohne darüber öffentlich zu informieren – das BSV und die Finanzverwaltung mit den Vorarbeiten für eine Herauslösung von AHV und IV aus dem Bundeshaushalt. Er entschied zudem, dieses Vorhaben nicht in die 12. AHV-Revision einzubauen, sondern zeitlich vorzuziehen. Von dieser Entflechtung erhofft sich der Bundesrat neben mehr Transparenz auch eine Erhöhung des Spardrucks auf die beiden Sozialwerke, die nicht mehr auf automatisch steigende Bundesbeiträge zählen könnten [15].
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11. AHV-Revision
In der Maisession hielt der Nationalrat vorerst an seinen 2001 gefällten Beschlüssen zur inhaltlichen Revision der AHV fest [16], allerdings mit bedeutend knapperen Mehrheiten als zwei Jahre zuvor. Während sich in der ersten Runde der Beratungen das vom Bundesrat vorgeschlagene Modell der Frühpensionierung für Personen mit niedrigem Einkommen, das zu Mehrkosten (resp. zu geringeren Einsparungen) von 400 Mio Fr. geführt hätte, nur mit Stichentscheid des Präsidenten gegen einen grosszügigeren Antrag auf 800 Mio Fr. hatte durchsetzen können, votierten jetzt nur noch 90 Abgeordnete für die zweckgebundene Verwendung der durch die Heraufsetzung des Frauenrentenalters eingesparten 400 Mio, während 83 dem Ständerat folgen wollten, der sich gegen jede soziale Abfederung des Rentenvorbezugs ausgesprochen hatte. Für die 400 Mio Fr. stimmten die geschlossenen Fraktionen der SP und der Grünen, eine Mehrheit der CVP und eine Hand voll Bauernvertreter aus der SVP. Auch bei der Witwenrente schwenkte der Nationalrat mit 91 zu 73 Stimmen – wieder Linke, Grüne und diesmal fast die ganze CVP gegen FDP und SVP – nicht auf den harten Sparkurs des Ständerates ein, der die Witwenrente für Frauen mit Kindern auf 60% einer vollen Rente hatte kürzen wollen, unter gleichzeitiger Anhebung der Waisenrenten von 40 auf 60% [17].
Im Ständerat wehrten sich die beiden Sozialdemokraten Brunner (GE) und Studer (NE) vergeblich für die sozialverträgliche Ausgestaltung des vorgezogenen Rentenbezugs. Sie wurden von Beerli (fdp, BE) unterstützt, die erklärte, wer behaupte, die 400 Mio würden ohne nennenswerten Nutzen für die Rentnerinnen und Rentner verpuffen, der argumentiere zynisch. Für Leute mit einer kleinen Rente seien 100 Fr. mehr oder weniger im Monat nicht nichts. Die Mehrheit hielt dem entgegen, es seien nicht die Leute mit den geringsten Einkommen, die am meisten profitieren würden, sondern der untere Mittelstand. Reduzierte Kürzungssätze wären das Eingangstor zur allgemeinen Frühpensionierung. Mit 29 zu 9 Stimmen wurde die soziale Abfederung noch deutlicher abgelehnt als im Vorjahr. Die Verschärfung bei der Witwenrente hatte hingegen einen schwereren Stand als 2002, wurde mit 21 zu 18 Stimmen aber dennoch angenommen [18].
In der Spezialkommission des Nationalrats, welche das EP 03 vorzuberaten hatte, brachte Blocher (svp, ZH) einen Antrag durch, der die SP und die CVP unter Druck setzte. Seine Formel lautete: entweder Verzicht auf die soziale Abfederung des Rentenvorbezugs oder Streichung des Mischindexes im Jahr 2006 (siehe oben, AHV). Beides sei nicht zu haben. Daraufhin schlug Dormann (cvp, LU) einen Mittelweg vor, damit die 11. AHV-Revision nicht allein den Frauen die Last der Sparopfer aufbürde. Im Gegenzug zur Erhöhung des Rentenalters auf 65 Jahre und der Verschlechterung bei der Witwenrente sollten für die Frauen der Jahrgänge 1948 bis 1957 bei einem Vorbezug von bis zu zwei Jahren die Renten nur zur Hälfte gekürzt werden. Mit 107 zu 71 Stimmen wurde dieser Antrag vom Rat angenommen. Bei der Witwenrente setzte sich mit 90 zu 78 Stimmen ein Minderheitsantrag Egerszegi (fdp, AG) durch, beim Status quo zu bleiben, d.h. allen Witwen mit Kindern bis zum Erreichen des Pensionsalters eine 80%-ige Witwenrente auszubezahlen. Egerszegi machte geltend, gerade in ländlichen Gebieten hätten Frauen mit mehreren Kindern kaum die Gelegenheit, nach der Familienpause wieder Tritt im Erwerbsleben zu finden, weshalb sie oft von der Witwenrente allein leben müssten [19].
Der Ständerat beharrte aber auf seinen Beschlüssen. Der CVP-Vorschlag für die Frauenrenten wurde als unbrauchbar erachtet, weil er mangels Definition einer oberen Einkommenslimite nach dem Giesskannen-Prinzip funktioniere. Gegen eine Schonung der Witwen machte Beerli (fdp, BE) geltend, dank der langen Übergangsfrist von 17 Jahren, in denen die Rente schrittweise an das neue Modell herangeführt würde, seien die heutigen älteren Witwen gar nicht betroffen. Die Einigungskonferenz übernahm im Wesentlichen die Positionen des Ständerates. Einzig beim Rentenvorbezug der Frauen machte er eine Geste in Richtung der grossen Kammer: während fünf Jahren nach Inkrafttreten der Revision können Frauen der Jahrgänge 1948 bis 1952 die Rente um ein Jahr mit dem halben Kürzungssatz vorbeziehen [20].
Vor der Zustimmung zum Ergebnis der Einigungskonferenz machten im Nationalrat Gewerkschaftsvertreter aus der SP, der GP und der CVP ihrem Ärger über die Bilanz dieser Revision Luft, die sie als reinen Sozialabbau resp. als Nichteinhalten des Versprechens auf eine echte Flexibilisierungsvorlage anprangerten. In der Schlussabstimmung wurde die 11. AHV-Revision von der grossen Kammer mit 109 zu 73 Stimmen angenommen. SP und Grüne stimmten dagegen, ebenso eine kleine Minderheit der CVP. Der Ständerat hiess die Vorlage mit 34 zu 9 Stimmen gut [21].
An ihrer Delegiertenversammlung von Anfang Oktober beschloss die SP geschlossen, das Referendum gegen die 11. AHV-Revision zu ergreifen. Begründet wurde dieser Entscheid zwar auch mit der Erhöhung des Rentenalters der Frauen und den Abstrichen bei der Witwenrente, wodurch die Frauen gleich doppelt zur Kasse gebeten würden. Im Zentrum stand aber der Verzicht der bürgerlichen Parlamentsmehrheit auf eine soziale Abfederung des flexiblen Rentenalters. In einer koordinierten Aktion machte der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) zwischen dem 20. und dem 22. November an 200 Standorten für das Referendum gegen die 11. AHV-Revision mobil. In 48 Stunden kam die Rekordzahl von über 80 000 Unterschriften zusammen. Da auch weitere Organisationen (SP, GP, Travail.Suisse) zur Sammlung beitrugen, kam das Referendum mit 152 031 Unterschriften zustande [22].
Im Anschluss an die Beratungen reichte Nationalrat Studer (evp, AG) eine Motion ein, welche verlangte, in die nächste AHV-Revision sei eine sozial abgefederte Flexibilisierung des Rentenalters für tiefere Einkommen wieder aufzunehmen. Zudem sei zu prüfen, ob die AHV-Rente bereits nach einer zu bestimmenden Zahl von Beitragsjahren bezogen werden kann. Der Bundesrat erklärte, er wolle sich im jetzigen Zeitpunkt nicht festlegen, er werde aber ganz unterschiedliche Modelle verfolgen, weshalb er erfolgreich Umwandlung in ein Postulat beantragte [23].
 
[6] Lit. Abrahamsen; Lit. Bonoli; Lit. Synthesebericht; Presse vom 27.5.03; Gärtner, Ludwig, „Forschungsprogramm zur längerfristigen Zukunft der Altersvorsorge: Ein Überblick“, in CHSS, 2003, S. 115-117; der Artikel listet sämtliche Einzeluntersuchungen auf, die a.a.O., S. 118-138 zusammenfassend dargestellt werden. Zur Frage der Verwendung der Nationalbankgewinne zu Gunsten der AHV siehe oben, Teil I, 4b, Geld- und Währungspolitik. Die jährlich vom EFD durchgeführte Umfrage ergab einen Vertrauensschwund in die AHV, insbesondere in der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen, in der nur noch 50% daran glauben, dereinst eine AHV-Rente beziehen zu können (NZZ, 15.7.03). Vgl. SPJ 2002, S. 213.
[7] NZZ, 3.1., 11.1., 17.6.03 (CVP-Präsident Stähelin); Bund, 22.1.03; Presse vom 22.5., 27.5., 4.6., 7.6.03; TA, 28.5.03. Siehe dazu auch die Antwort des BR auf eine Interpellation der GP-Fraktion in AB NR, 2003, Beilagen V, S. 347 ff. Vgl. SPJ 2000, S. 217 f. (SVP). Der SR überwies stillschweigend eine Empfehlung Stähelin (cvp, TG), im Rahmen der 12. AHV-Revision Massnahmen zur Förderung des Rentenaufschubs vorzusehen (AB SR, 2003, S. 1120 f.). Zu einer Studie der Stiftung Avenir Suisse über die Flexibilisierung des Rentenalters nach oben siehe Presse vom 20.2.03. Die Jungfreisinnigen verlangten gar das Regelrentenalter 70 (NZZ, 8.5.03). Dass diese Vorschläge die Rechnung ohne die Unternehmen machten, zeigte eine Firmenumfrage: 78% der befragten Unternehmen erklärten, sie würden keine Arbeitnehmer einstellen, die 65 Jahre oder älter seien (SHZ, 2.7.03).
[8] TA, 28.1.03; NLZ, 31.1.03; WoZ, 6.2.03; Presse vom 22.5. und 27.5.03; NZZ, 24.5. und 26.5.03. Vgl. SPJ 2002, S. 214. Zu einer Studie, welche die nicht zu unterschätzende Bedeutung der AHV für die Einkommenssituation vieler Rentnerinnen und Rentner beleuchtet, siehe Lit. Stamm/Lamprecht; Bund, 17.6.03. Gegen die Vorstellungen Couchepins beim Rentenalter und dem Mischindex richtete sich ein vom SGB organisierter Protesttag der Rentnerinnen und Rentner, an dem auch alt BR Dreifuss nicht mit Kritik an den Vorschlägen ihres Nachfolgers zurückhielt: TA, 13.8. und 13.9.03 (Interview Dreifuss); NZZ, 14.8.03; Presse vom 11.9. und 13.9.03.
[9] BBl, 2003, S. 5673 ff.; AB SR, 2003, S. 841 ff. und 1062; AB NR, 2003, S. 1702 ff. und 1716; NZZ, 3.4. und 6.5.03. Im Rahmen des EP 03 wurde der Sonderbeitrag des Bundes an die Flexibilisierung, der seit Inkrafttreten der 10. AHV-Revision 170 Mio Fr. betrug, abgeschafft. Der für das Jahr 2003 bezahlte Betrag wurde durch eine entsprechende Reduktion der Beiträge des Bundes an die AHV in den Jahren 2005 und 2006 kompensiert (BBl, 2003, S. 5676 ff.). Diese Änderung passierte im Parlament diskussionslos: AB SR, 2003, S. 841; AB NR, 2003, S. 1706; BBl, 2003, S. 8110. Siehe dazu oben, Teil I, 5 (Sanierungsmassnahmen).
[10] SPJ 2001, S. 192 (NR) und 2002, S. 215 (SR).
[11] AB NR, 2003, S. 52 ff.
[12] AB SR, 2003, S. 105 ff.
[13] AB NR, 2003, S. 612 ff.
[14] AB SR, 2003, S. 430 ff., 952 und 1030; AB NR, 2003, S. 609 ff., 1335 ff., 1515 und 1743 f.; BBl, 2003, S. 6589 f. Das lange Ping-Pong um den Bundesanteil wurde mit der unterschiedlichen parteipolitischen Zusammensetzung der beiden Kammern erklärt: Im SR dominierten CVP und FDP, welche die Sicht des BR vertraten, im NR hingegen SP, GP und SVP, die gegen den Bundesanteil waren (Presse vom 18.9.03).
[15] AB SR, 2003, S. 840; NZZ, 21.11.03.
[16] Zum zweiten „Flügel“ der 11. AHV-Revision, der Erhöhung der Mehrwertsteuersätze für AHV und IV, siehe oben (AHV).
[17] AB NR, 2003, S. 592 ff. und 609 ff. Siehe SPJ 2001, S. 191 f.
[18] AB SR, 2003, S. 428 ff. und 441 ff. Siehe SPJ 2002, S. 214 f.
[19] AB NR, 2003, S. 1324 ff., 1510 ff. und 1743 f.; Presse vom 3.9. (Blocher) und 6.9.03 (Dormann).
[20] AB SR, 2003, S. 836 ff.; Presse vom 24.9.03. Während die parlamentarischen Beratungen in den Endspurt gingen, folgten rund 25 000 Personen dem Aufruf der Gewerkschaften und demonstrierten vor dem Bundeshaus gegen die Verschlechterungen bei der Altersvorsorge (Presse vom 22.9.03).
[21] AB NR, 2003, S. 1510 ff. und 1743 ff.; AB SR, 2003, S. 952 ff. und 1030; BBl, 2003, S. 6629 ff.
[22] BBl, 2004, S. 740 f.; Presse vom 26.9., 6.10., 20.11. und 24.11.03.
[23] AB NR, 2003, S. 2118.