Année politique Suisse 2003 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Familienpolitik
Gemäss einer ersten Teilauswertung der Volkszählung 2000 haben sich die Familienformen vor allem durch die Zunahme der Singles und der Paare ohne Kinder sowie der Einelternhaushalte weiterhin gewandelt, jedoch weniger schnell als im Jahrzehnt davor. Die Haushalte mit Paaren ohne Kinder nahmen zwischen 1990 und 2000 erneut um 12,5% zu; allerdings war ihr Wachstum zwischen 1980 und 1990 mit 28,9% wesentlich ausgeprägter gewesen. Dem stand die Abnahme der Haushalte eines Elternpaares mit einem oder mehreren Kindern gegenüber. Hatte dieser Haushalttyp zwischen 1980 und 1990 noch eine geringe Zunahme um 0,9% verzeichnet, ging er zwischen 1990 und 2000 um 2,3% zurück. Unter anderem aufgrund der steigenden Scheidungsziffern nahm seit 1990 die Zahl der Einelternhaushalte um 11,2% zu. Auch hier ging die Entwicklung im Vergleich zum vorangegangenen Dezennium (+16,6%) in die gleiche Richtung, jedoch verlangsamt. Die Konkubinatspaare mit einem oder mehreren Kindern nahmen ebenfalls weiter zu (+28,6%), jedoch deutlich weniger als zwischen 1980 und 1990 (+151%). Vier Fünftel der 1,45 Mio in einem Privathaushalt lebenden Kinder unter 18 Jahren wohnen in einem Haushalt, der von einem verheirateten Paar geführt wird. Zusammen mit einem alleinstehenden Elternteil leben 13% und zusammen mit einem Paar ohne Trauschein 3% der Kinder. 22% der Kinder sind Einzelkinder, 78% leben mit Geschwistern zusammen, 31% sogar mit zwei oder mehr [33].
Mit 101 442 gültigen Unterschriften reichte die Gewerkschaft Travail.Suisse ihre Volksinitiative „für fairere Kinderzulagen“ ein. Nach dem Grundsatz „ein Kind – eine Zulage“ sollen für jedes Kind 450 Fr. pro Monat ausgerichtet werden, ungeachtet der Erwerbstätigkeit und des Wohnorts der Eltern. Nach Berechnungen von Travail.Suisse hätte die Initiative Gesamtkosten von 9,2 Mia Fr. zur Folge. Ziehe man jedoch die bestehenden Zulagen sowie höhere Steuereinnahmen und die Entlastung bei den Bedarfsleistungen in Betracht, ergäben sich unter dem Strich lediglich noch Mehrkosten von knapp 4 Mia Fr. pro Jahr. Gemäss Initiativtext müssten Bund und Kantone dafür aufkommen, weil die Wirtschaft nicht stärker belastet werden soll als heute [34].
Die Interessengemeinschaft der kinderreichen Familien „Familien 3plus“ lancierte im Herbst ihre im Vorjahr angekündigte Volksinitiative „Für die Familie – Kinder sichern Zukunft“. Sie verlangt einen Abzug bei der Bundessteuer von mindestens 13 000 Fr. pro Kind, einen pauschalen Kinderbetreuungsabzug von 15 000 Fr. pro Jahr sowie eine Bundesgesetzgebung, die sicherstellt, dass analoge Abzüge auch bei den Kantons- und Gemeindesteuern eingeführt werden [35].
2001 hatte der Nationalrat zwei parlamentarische Initiativen (Fehr, sp, ZH und Meier-Schatz, cvp, SG) angenommen, welche für Eltern mit Kindern die Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien nach dem so genannten „Tessiner Modell“ verlangen. Im Berichtsjahr äusserten sich nun die Sozialdirektoren der Kantone und der grossen Städte sehr positiv zu diesem Vorschlag, den sie als sinnvollen Beitrag bezeichneten, um der weit verbreiteten Familienarmut zu begegnen. Für die Bezüger haben EL gegenüber der Sozialhilfe den Vorteil, dass sie höher ausfallen und nicht rückerstattet werden müssen [36].
Am 1. Februar trat das Bundesgesetz über Finanzhilfen für familienergänzende Kinderbetreuung in Kraft. Mit den dafür vorgesehenen Mitteln soll die Schaffung zusätzlicher Plätze für die Tagesbetreuung von Kindern gefördert werden. Für die ersten vier Jahre hatte das Parlament einen Verpflichtungskredit von 200 Mio Fr. bewilligt. Das Förderprogramm unterscheidet zwei Arten von Betreuungsplätzen: Kindertagesstätten – zum Beispiel Krippen – für kleinere Kinder und Einrichtungen für die schulergänzende Betreuung wie etwa Mittagstische. Die Subventionen werden pauschal auf Grund der Öffnungszeiten ausbezahlt: Krippen erhalten maximal 5000 Fr. pro betreutes Kind, Einrichtungen für Mittagstische und Horte maximal 3000 Fr. Das Impulsprogramm stiess auf grosses Interesse, vor allem bei den Gemeinden. Bis zu Beginn des neuen Schuljahres bewilligte der Bund 60 Gesuche, mit denen 1230 Krippenplätze geschaffen wurden. Trotz dieses Erfolges beantragte die Spezialkommission des Nationalrates, im Entlastungsprogramm 2003 den Kredit von den vorgesehenen 120 Mio auf 40 Mio Fr. zusammenzustreichen und das Programm dann ganz aufzugeben; der Bundesrat hatte sich mit einer Kürzung um 12 Mio Fr. für das Jahr 2006 begnügen wollen. Im Plenum setzte eine von der CVP unterstützte linke Minderheit aber durch, dass gar keine Abstriche vorgenommen wurden. Der Ständerat, der bis zum Ende der Differenzbereinigung dem Antrag des Bundesrates folgen wollte, schloss sich schliesslich nach der Einigungskonferenz dem Beschluss der grossen Kammer an [37].
Mit 105 zu 58 lehnte der Nationalrat eine parlamentarische Initiative Teuscher (gp, BE) ab, die einen viermonatigen Elternurlaub bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres eines Kindes verlangte. Dieser sollte von jenem erwerbstätigen Elternteil bezogen werden können, der sich vorwiegend um die Betreuung des Kleinkindes kümmert, resp. je zur Hälfte von beiden Elternteilen. Der Erwerbsausfall sollte zu 80% abgegolten werden, allerdings plafoniert auf das Anderthalbfache des durchschnittlichen Bruttogehalts in der Schweiz. Die Initiative wurde von der SP unterstützt, von den bürgerlichen Parteien aber wegen der unklaren Finanzierung abgelehnt. Zudem wurde darauf verwiesen, dass mehrere familienpolitische Vorschläge in der parlamentarischen Beratung seien, die Vorrang haben müssten. Ebenfalls verworfen (mit 114 zu 68 Stimmen) wurde eine weitere parlamentarische Initiative Teuscher, die durch eine Revision des OR erreichen wollte, dass erwerbstätigen Eltern eines Kindes unter 13 Jahren eine bezahlte fünfte Urlaubswoche gewährt werden muss. Die Kommission machte für die Ablehnung die Ungleichbehandlung von Eltern mit jüngeren und jenen mit älteren Kindern geltend sowie die Verringerung der Chancen von Erwerbstätigen mit Elternpflichten auf dem Arbeitsmarkt [38].
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Ehe- und Scheidungsrecht
Einstimmig und im Einvernehmen mit dem Bundesrat hiess der Nationalrat die in Umsetzung einer parlamentarischen Initiative vorgenommene Änderung des Zivilgesetzbuches gut, welche die Trennungszeit im Fall einer nicht einvernehmlichen Scheidung von vier auf zwei Jahre reduziert. Die längere Trennungszeit war ursprünglich zum Schutz von Frauen mit Kindern in die Revision des Eheschliessungs- und Scheidungsrechts aufgenommen worden, die 2001 in Kraft trat. In der Praxis hatte sich aber immer wieder gezeigt, dass dies oft zu unhaltbaren Zuständen führte und nicht selten auch zur „Erpressung“ des Scheidungswilligen durch den Ehepartner, der sich einer Scheidung widersetzt. Der Ständerat stimmte oppositionslos zu [39].
Nach dem Nationalrat im Vorjahr hiess auch der Ständerat oppositionslos eine Motion aus der grossen Kammer gut, die verlangt, das Eheverbot für Stiefverhältnisse sei aufzuheben [40].
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Alternative Lebensformen
In der Wintersession behandelte der Nationalrat als erster das neue Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare. Damit können sich homosexuelle Paare auf dem Zivilstandsamt eintragen lassen und werden so im Erbrecht, im Ausländerrecht, im Sozialversicherungsrecht, bei der beruflichen Vorsorge sowie im Steuerrecht den Ehepaaren gleichgestellt. Eine Auflösung der Partnerschaft muss mit richterlichem Beschluss erfolgen und ist erst nach einem Jahr der Trennung möglich. In der Eintretensdebatte sagte Bundesrätin Metzler, das Gesetz setze ein Zeichen der Toleranz und helfe Diskriminierungen abzubauen. Sie betonte aber, das neu geschaffene Rechtsinstitut sei nicht mit der Ehe gleichzusetzen, sondern lediglich die rechtliche Absicherung von Lebensgemeinschaften zweier erwachsener Menschen. Gegen Eintreten sprachen sich die SVP sowie die EVP/EDU-Fraktion aus. Die SVP kritisierte, mit dem neuen Gesetz werde nur ein unnötiger neuer bürokratischer Apparat aufgezogen. Grundsätzlicher gegen das Gesetz wandte sich die EDU: die gleichgeschlechtliche Lebensweise sei widernatürlich und widerspreche der Schöpfungsordnung Gottes. Als falsches Signal wertete auch die EVP die neue Rechtsform, weil sie als eigentliche Alternative neben die Ehe gestellt werde. Eintreten wurde mit 125 zu 55 beschlossen. Ein Antrag aus der CVP, die Anerkennung der Partnerschaft nur in Form einer notariellen Erklärung zu ermöglichen, wurde in ähnlichem Stimmenverhältnis abgelehnt.
In der Detailberatung gab vor allem die Frage zu reden, ob den gleichgeschlechtlichen Paaren auch die Möglichkeit der gemeinsamen Adoption eines Kindes offen stehen soll. Bundesrätin Metzler begründete das vom Bundesrat vorgeschlagene Verbot der Adoption sowie den verweigerten Zugang zur medizinisch assistierten Fortpflanzung damit, dass man nicht einem Kind rechtlich zwei Mütter oder zwei Väter zuordnen sollte, da damit die bisherigen Prinzipien des Kindesrechts durchbrochen würden. Demgegenüber plädierten zwei links-grüne Kommissionsminderheiten dafür, das Verbot ganz zu streichen oder zumindest die Adoption von leiblichen Kindern eines Partners oder einer Partnerin zuzulassen, wenn sich dies für das Wohl des Kindes vorteilhaft erweist. Diese Anträge wurden mit 111 zu 72 resp. 116 zu 56 Stimmen abgelehnt. Die Vorlage passierte die Gesamtabstimmung mit 118 gegen 50 Stimmen. Die Neinstimmen stammten von der geschlossenen EDU/EVP-Fraktion, von einer Mehrheit der SVP- sowie einer Minderheit der CVP-Fraktion. Vor der Abstimmung hatte ein Vertreter der EDU erklärt, seine Partei werde gegen das Gesetz das Referendum ergreifen [41].
Nachdem die Stimmberechtigten des Kantons Zürich im Vorjahr das neue Partnerschaftsgesetz gutgeheissen hatten, wurde dieses auf den 1. Juli in Kraft gesetzt. Ab diesem Zeitpunkt können sich gleichgeschlechtliche Paare, die einen gemeinsamen Wohnsitz haben, bei den Zivilstandsämtern registrieren lassen. Sie sind bei den Schenkungs- und Erbschaftssteuern sowie der Sozialhilfe den Ehepaaren gleichgestellt. Alle Bereiche die der Bund regelt, sind ausgeklammert, beispielsweise die Einkommens- und Vermögenssteuer oder Adoptionen. In den ersten sechs Monaten liessen sich fast 200 Paare, davon vier Fünftel männliche, bei den Zivilstandsämtern eintragen [42].
 
[33] Pressemitteilung des BFS vom 2.9.03; Presse vom 3.9.03. Siehe auch oben, Teil I, 7a (Bevölkerungsentwicklung).
[34] BBl, 2003, S. 3542 f.; Presse vom 12.4.03. Heute variieren die Zulagen je nach Kanton zwischen 150 und 444 Fr. pro Monat.
[35] BBl, 2003, S. 6255 ff.; Presse vom 10.10.03. Siehe SPJ 2002, S. 243. Zur Reform der Familienbesteuerung siehe oben, Teil I, 5 (Direkte Steuern).
[36] Presse vom 21.6.03. Siehe SPJ 2001, S. 209 f. sowie oben, Teil I, 7b (Sozialhilfe). Zu seinen familienpolitischen Zielen äusserte sich der BR in seiner Antwort auf eine Interpellation im NR: AB NR, 2003, Beilagen I, S. 515 ff.
[37] BBl, 2003, S. 5694 f.; AB SR, 2003, S. 808 f., 1057, 1124 und 1155; AB NR, 2003, S. 1647 ff., 1850 ff., 1909 f. und 1946; NZZ, 29.1.03; Presse vom 4.8.03; CHSS, 2003, S. 33 f. und 180. Siehe SPJ 2002, S. 243 f.
[38] AB NR, 2003, S. 495 ff. Zum bezahlten Mutterschaftsurlaub siehe oben, Teil I, 7c (Mutterschaftsversicherung).
[39] BBl, 2003, S. 5825 ff. (BR); AB NR, 2003, S. 1478 ff. und 2129; AB SR, 2003, S. 1148 und 1246; BBl, 2003, S. 8201 f. Siehe SPJ 2002, S. 245.
[40] AB SR, 2003, S. 1017. Siehe SPJ 2002, S. 245.
[41] AB NR, 2003, S. 1809 ff., 1823 ff. und 1828 ff. SVP und EVP distanzierten sich mehr oder weniger klar von der Referendumsankündigung der EDU (Presse vom 4.12.03). Zum Druck, den die katholischen Bischöfe der Schweiz vor der Beratung der Vorlage auf die CVP ausübten, siehe unten, Teil I, 8b (Kirchen).
[42] NZZ, 6.6., 2.7. und 28.9.03; TA, 29.12.03.