Année politique Suisse 2003 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Behinderte
Weil ihnen das im Sinn eines indirekten Gegenvorschlags im Vorjahr verabschiedete Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen behinderter Menschen (BehiG) ungenügend erschien, beschlossen die Behindertenorganisationen, zwar nicht das Referendum zu ergreifen, um den Kampf nicht an zwei Fronten führen zu müssen, ihre Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“ aber aufrecht zu erhalten. Die Initiative verlangte eine Gewährleistung des Zugangs zu Bauten und Anlagen sowie die Inanspruchnahme von Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, soweit dies wirtschaftlich zumutbar ist. Bundesrat und Parlament hatten die Initiative mit dem Argument der nicht abschätzbaren Kosten abgelehnt, die Stossrichtung des Begehrens im BehiG zwar berücksichtigt, aber doch deutlich abgeschwächt [49].
In der Abstimmungskampagne betonten die Befürworter, ihr Anliegen – freier Zugang zu allen Gesellschaftsbereichen – sei eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es würden keine überrissenen Forderungen gestellt, sondern nur der Grundsatz verankert, dass für die Probleme der Behinderten verhältnismässige Lösungen zu finden seien. Eine bessere Einbindung der Behinderten wäre auch ein Beitrag zur Entlastung der defizitären IV. Mit starker Unterstützung der Wirtschaftsverbände konterten die Gegner, die Initiative sei eben gerade nicht verhältnismässig. Das Fehlen von Übergangsfristen (im BehiG 20 Jahre für Bauten und Anlagen, 10 Jahre für Dienstleistungen im Kommunikationsbereich) werde innerhalb weniger Jahre zu einem Kostenschub von rund 4 Mia Fr. allein im öffentlichen Verkehr führen. Das generelle Klagerecht der Behinderten (im BehiG sehr eng definiert) werde eine Prozesslawine mit ungewissem Ausgang auslösen [50].
In der Volksabstimmung vom 18. Mai blieb die Initiative chancenlos. Sie wurde von über 62% der Stimmenden und in 23 Kantonen abgelehnt. Am schlechtesten schnitt sie in Appenzell Innerrhoden ab (79,9% Nein), nur wenig besser in Ausserrhoden (75,2%). Weitere sieben Stände (LU, NW, OW, TG, SG, SZ, ZG) meldeten Nein-Mehrheiten von über 70%. Knapp abgelehnt wurde die Initiative in den Kantonen Freiburg (54,0% Nein), Neuenburg (55,2), Waadt (56,2), Wallis (57,2) und Basel-Stadt (57,8). Von den drei Kantonen, welche die Behinderteninitiative guthiessen, tat dies Genf mit 59,0% Ja am deutlichsten. Etwas schwächer fiel die Zustimmung im Jura (54,9) und im Tessin (54,0) aus [51]. Die Vox-Analyse der Abstimmung zeigte, dass vor allem die politischen Merkmale für das Abstimmungsverhalten ausschlaggebend waren. Während eine grosse Mehrheit der SP-Anhängerschaft der Initiative zustimmte (70%), lehnten sie 86% der SVP-Sympathisanten ab. Klar wurde die Initiative auch von den Anhängerschaften der CVP und der FDP mit 74 resp. 77% verworfen [52].
Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“
Abstimmung vom 18. Mai 2003

Beteiligung: 49,7%
Ja: 870 249 (37,7%) / 17 6/2 Stände
Nein: 1 439 893 (62,3%) / 3 Stände
Parolen:
Ja: SP, GP, CSP, PdA, JFDP; SGB, Travail.Suisse
Nein: FDP (2*), CVP (4*), SVP (1*), LP (1*), SD, EDU, FP; economiesuisse, SGV, ZSA
Stimmenthaltung:Lega

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Mit zwei Motionen forderte Nationalrat Joder (svp, BE) Erleichterungen für Hörbehinderte. Einerseits sollten bauliche und technische Massnahmen ergriffen werden, welchen es hörbehinderten Personen erlauben, das Parlamentsgebäude zu nutzen. Joder dachte in diesem Zusammenhang in erster Linie an induktive Hör- und Übertragungsanlagen. Andererseits sollten im Zug des neuen Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen die Sendeunternehmen verpflichtet werden, zwischen 18 und 24 Uhr sämtliche Fernsehsendungen mit Untertiteln auszustrahlen. Der Bundesrat verwies auf bereits unternommene Anstrengungen, versprach aber, wenn möglich noch Verbesserungen vorzunehmen. Auf seinen Antrag wurden die Motionen in Postulatsform verabschiedet [53].
Als schweizerische Pioniertat schuf der Kanton Basel-Stadt per 1. September die Stelle eines vollamtlichen Beauftragten für die Gleichstellung und Integration der Behinderten [54].
 
[49] NZZ, 11.1. und 13.1.03. Siehe SPJ 2002, S. 250 f. Das BehiG tritt auf den 1.1.2004 in Kraft. Dann nimmt auch das neu geschaffene Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen seine Tätigkeit auf (CHSS, 2003, S. 179 f.).
[50] Presse vom 26.2.-16.5.03; insbesondere: Presse vom 26.2. (Initianten), 28.2. (BR), 25.3. (Gegner) und 28.4.03 (Kundgebung); BZ, 31.1.03 (BR Metzler); NZZ, 1.4., 8.4. und 24.4.03. Zur Abstimmungskampagne siehe eine Frage Suter (fdp, BE) und die Antwort des BR (AB NR, 2003, S. 151 und Beilagen I, S. 556). Für die Auswirkungen des NFA und des Entlastungsprogramms 2003 auf die Behinderteninstitutionen vgl. oben, Teil I, 1 d (Beziehungen zwischen Bund und Kantonen) sowie AB NR, 2003, S. 1011 und Beilagen III, S. 563.
[51] BBl, 2003, S. 5164 ff.; Presse vom 19.5.03.
[52] Blaser, Cornelia et al., Analyse der eidg. Abstimmung vom 18. Mai 2003, VOX Nr. 81, Zürich 2003.
[53] AB NR, 2003, S. 501 f.
[54] TA, 14.8.03.