Année politique Suisse 2003 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung / Berufsbildung
Die
Lehrstelleninitiative, welche von Regierung und Parlament zur Ablehnung empfohlen und von den bürgerlichen Parteien, den Berufsbildungsämtern, dem Gewerbeverband und den Arbeitgebern bekämpft worden war, kam am 18. Mai zur Abstimmung. Unterstützung hatte das Volksbegehren von der SP, der GP und den Gewerkschaften erhalten
[18].
Volksinitiative „für ein ausreichendes Berufsbildungsangebot“
Abstimmung vom 18. Mai 2003
Beteiligung: 49,2%
Nein: 1’564’072 (68,4%) / 20 6/2 Stände
Ja: 723’155 (31,6%) / 0 Stände
Parolen:
— Nein: FDP, CVP, CSP, SVP, EVP, EDU, LP, SD, FP, Lega; SGV, Economiesuisse, Arbeitgeberverband, SBV, CNG.
— Ja: SP, GP, PdA; SGB.
Mit einer
klaren Mehrheit von 68,4% der Stimmen wurde das Volksbegehren
in allen Kantonen abgelehnt und damit die Forderung nach einem staatlich garantierten „Recht auf eine ausreichende berufliche Ausbildung“ sowie nach einem von den Arbeitgebern finanzierten Berufsbildungsfonds. Einerseits schien die Initiative von der dieses Abstimmungswochenende beherrschenden Nein-Welle (sieben abgelehnte Vorlagen) mitgerissen worden zu sein; andererseits schien die Warnung der Gegnerschaft vor einer Verbürokratisierung und Verstaatlichung der Berufsbildung auf offene Ohren gestossen zu sein. In der Wahrnehmung der Stimmbevölkerung hatte die Initiative einerseits die Frage nach der
Lehrstellensituation aufgeworfen bzw. nach der Dringlichkeit der Schaffung von Lehrstellen und nach der Notwendigkeit, Druck auf die Wirtschaft auszuüben, sowie andererseits die Frage nach der
Rolle des Staates im Sinne staatlicher Kontrolle und Förderung von Lehrstellen sowie nach der Notwendigkeit, das Recht auf eine Lehrstelle auf Verfassungsebene zu verankern. Für die Stimmabgabe waren ganz klar politische und nicht gesellschaftliche Kriterien ausschlaggebend. Der
Links-Rechts-Achse bzw. den Parolen der jeweiligen Parteien folgend stimmten 65% der SP-Anhänger für die Initiative, wohingegen die Anhänger der bürgerlichen Parteien zu 80% das Volksbegehren ablehnten. Ebenso mit der klassischen Achse konform stimmten die Befürworter einer starken Präsenz des Staates für – die Befürworter vermehrten Wettbewerbs gegen die Initiative. Alter, Bildung, städtische oder ländliche Herkunft spielten demgegenüber kaum eine Rolle
[19].
Die Hoffnungen auf eine Entschärfung der Lehrstellennot konzentrierten sich nach der Ablehnung der Lehrstellen-Initiative ganz auf das
nBBG (siehe oben). Die Gegner der Initiative hatten ja eine straffe Umsetzung des nBBG als Hauptargument gegen das Volksbegehren ins Feld geführt. Und weil das Gesetz ebenfalls einen Berufsbildungsfonds vorsah – wenn auch auf freiwilliger Basis –, riefen die nach der Abstimmung enttäuschten Befürworter der Initiative die Wirtschaft dazu auf, ihre Versprechen betreffend der Bekämpfung trittbrettfahrender Unternehmen ohne Berufsausbildungsangebote unter Zuhilfenahme des nBBG einzulösen
[20]. Wenig Trost mochte den Initiantinnen die Tatsache liefern, dass das Volksbegehren in der
Romandie höhere Ja-Anteile erzielt hatte – so insbesondere in den Kantonen Genf und Neuenburg, wo die geforderte Schaffung eines Fonds für die Berufsbildung bereits Realität ist
[21]. Die Interpretation des Abstimmungsresultats seitens der FDP und des Gewerbeverbands, die Ablehnung der Initiative sei Zeichen des guten Funktionierens der Lehrlingsausbildung, griff zu kurz, konnte doch nicht wirklich die Rede von einem Abklingen der
Lehrstellennot sein. Im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Jahren waren insbesondere im Dienstleistungssektor weniger Ausbildungsplätze zu verzeichnen – und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem die geburtenstarken Jahrgänge auf den Markt drängten
[22].
Einer Studie des Bundesamts für Berufsbildung und Technologie (BBT) zufolge nahm die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe laufend ab, obwohl sich Lehrstellen für zwei Drittel der Unternehmen schon während der Lehrzeit bezahlt machten. Rund 400 Mio Fr. hatte dieser finanzielle Nutzen im Jahre 2000 betragen – bei einem Gesamtaufwand von 4,8 Mia Fr. Aus diesen Erkenntnissen zogen Bundesrat und Initiativ-Gegner den Schluss, der Lehrstellenmangel sei mittels
gezielter konjunktureller Massnahmen zu bekämpfen – und nicht mittels struktureller Eingriffe, wie sie in der Initiative vorgesehen waren. So hatte Volkswirtschaftsminister Joseph Deiss im Frühjahr eine Arbeitsgruppe namens „
Task Force Lehrstellen 2003“ eingesetzt und daran das Versprechen geknüpft, niemand werde nach der Schule „auf der Strecke bleiben“. Die Task Force, in welcher neben Fachleuten des Bundes auch Vertreter der Kantone, der Gewerkschaften und der Arbeitgeber sassen, sollte die Kantone zur Schaffung neuer Arbeitsplätze motivieren, sie dabei unterstützen und Informationen sammeln, um eine gezielte Förderung des Lehrstellenmarkts und eine frühzeitige Intervention in konjunkturell schlechten Zeiten zu ermöglichen. Die Arbeitsgruppe selbst schätzte die Lehrstellensituation als „stabil bis angespannt“ ein und rechnete auch für das Jahr 2004 mit Problemen, weswegen sie bereits kurz nach ihrer Einsetzung 2,3 Mio Fr. für zusätzliche Lehrstellen einschoss. Der Bundesrat hatte auch die Schaffung von
hundert
neuen Lehrstellen in der Bundesverwaltung beschlossen. Dabei wiederholte er die Appelle des Volkswirtschaftsdepartements an Privatwirtschaft und Kantone, ihre Lehrstellenangebote ebenso auszuweiten
[23]. Der Nationalrat überwies in diesem Zusammenhang ein Postulat seiner Spezialkommission, das ungeachtet des Sparprogramms die
Weiterführung des bisherigen Stellenangebots für Stagiaires und Hochschulpraktikantinnen und -praktikanten
in der Bundesverwaltung im Interesse der Ziele der Berufsbildung forderte. Finanziert werden sollte dies nötigenfalls durch entsprechende Umlagerungen im Personalbereich
[24]. Anlässlich ihrer Halbjahresbilanz konstatierte die Task Force, dass 5000 Lehrstellen offenstanden bzw. „nicht passend besetzt“ waren. Volkswirtschaftsminister Deiss liess sich aufgrund dieser vornehmlich durch quantitativ günstige Konstellationen bedingten Tatsache zum Ausspruch hinreissen, „
wer will, findet eine Stelle“, und erntete damit nicht nur beim kaufmännischen Verband Schweiz, den Befürwortern der Lehrstellen-Initiative und der SP, sondern auch in der Presse ganz allgemein wenig Beifall. Denn augenfällig waren einerseits die Probleme in den grossen Ballungsgebieten Zürich, Bern, Basel, Luzern, Aargau und Solothurn, wo das Angebot deutlich knapper geworden war – und zwar auch in den Boom-Berufen (kaufmännischer Bereich und Informatik); andererseits litten vor allem Bewerberinnen und Bewerber mit Migrationshintergrund und/oder schlechtem Schulabschluss zunehmend unter den höheren Anforderung vieler Berufe
[25]. Im November gab die Task Force bekannt, mittels Lehrbetriebverbünden zusätzliche Lehrstellen schaffen zu wollen. Zudem sollte das Projekt „
rent a stift“ reaktiviert bzw. Lehrlinge als Botschafter für die Berufslehre für Imagekampagnen gewonnen werden. Hochrechnungen zufolge hatte die Anzahl Lehrbetriebe innert Jahresfrist um 3% zugenommen
[26].
Der Nationalrat folgte einer Minderheit seiner Kommission und beschloss, auf die 1999 eingereichte parlamentarische Initiative Strahm (sp, BE) nicht einzutreten, welche eine
Berufsausbildungspflicht auch
für konzessionierte Privatanbieter bei Telecom, Post und Bahnen gefordert hatte. Im Grundsatz war das Anliegen des Vorstosses auch vom Bundesrat unterstützt worden. Nichteintreten wurde dann aber vor allem mit Verweis auf die im Rahmen vom nBBG geplanten Massnahmen sowie aufgrund von Bedenken hinsichtlich einer möglichen Ungleichbehandlung von konzessionierten Unternehmen in einer kompetitiven Marksituation begründet
[27]. Im weiteren schrieb die grosse Kammer ein Postulat seiner WBK als erfüllt ab, das die
Bereitstellung einer angemessenen Anzahl
von
Lehrstellen im neuen Leistungsauftrag
für den ETH-Bereich verlangt hatte
[28].
[18] Zum Inhalt des Volksbegehrens und zu den diversen Positionsbezügen im Vorfeld der Volksabstimmung siehe Presse vom 22.3., 23.3., 26.3., 1.5. und 5.5.-7.5.03; vgl.
SPJ 2002, S. 259.
[19] Vgl. Blaser, Cornelia et al.,
Analyse der eidg. Abstimmung vom 18. Mai 2003, Vox Nr. 81, Zürich 2003, S. 54 ff. sowie Presse vom 19.5.03.
[21] Der Berufsbildungsfonds funktioniert in diesen Kantonen nach dem Prinzip, dass jeder Arbeitgeber pro angestellte Person Fr. 20 jährlich in einen Fonds einzahlt. Dieses Geld wird via Familienausgleichskasse eingezogen und fliesst dann an Firmen weiter, welche Lehrlinge ausbilden und/oder ihren Angestellten Weiterbildungen ermöglichen. Wohl wäre laut Gewerkschaftsbund eine Abgabe von Fr. 100 nötig, um tatsächlich Lehrstellen schaffen bzw. den Lehrstellenmarkt beeinflussen zu können. Doch lobten sie die Genfer und Neuenburger Initiativen als wertvollen Schritt in die richtige Richtung (Presse vom 8.5.03).
[22]
NLZ, 7.2. und 24.3.03; Presse vom 22.2.03;
Bund 3.3.03;
TA, 15.3. und 17.3.04.
[23] Finanzieller Nutzen der Lehrstellen: Presse vom 28.3.03; Task Force: Presse vom 22.2., 25.2., 6.3. und 2.7.03;
NZZ, 14.3. und 25.3.03;
Bund, 9.4.03;
AZ, 10.4. und 23.6.03; Deiss zu Lehrstellen: Presse vom 29.3.03; Lehrstellen in der Bundesverwaltung: Presse vom 2.5.03.
[24]
AB NR, 2003, S. 1716.
[25]
NLZ, 13.8.03;
LT, 23.8.03;
TA, 22.8.03 (Interview Deiss); Presse vom 26.8.03. Vgl. hierzu auch die Antwort des BR auf eine Interpellation Fetz (sp, BS) betreffend die Zukunft der dualen kaufmännischen Grundausbildung, der Sicherung von KV-Lehrstellen und der Entlastung der Ausbildungsbetriebe (
AB NR, 2003, S. 1733).
[26] Presse vom 22.11.03 sowie BR-Antwort zur dringlichen Interpellation der SP-Fraktion betreffend Massnahmen gegen die Wirtschafts- und Lehrstellenkrise (
AB NR, 2003, S. 425 ff.;
NZZ, 20.3.03.)
[27]
AB NR, 2003, S. 115 ff.;
NZZ, 6.3.03; vgl. auch
SPJ 2001, S. 223 f.
[28]
AB NR, 2003, S. 1904.
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