Année politique Suisse 2003 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
Kirchen
Nur in wenigen Ländern Europas wird bei Volkszählungen die Frage nach der Religionszugehörigkeit gestellt. Das Bundesamt für Statistik hält aber weiter daran fest, weil sie ein wichtiger Indikator für Einstellungen, Werte und das Verständnis des sozialen Wandels sei. Die definitiven Zahlen der Volkszählung 2000 zeichneten denn auch das Bild einer rasch sich verändernden Gesellschaft. Zwischen 1990 und 2000 verloren die beiden grossen Landeskirchen 363 000 Mitglieder. Noch knapp 42% der Schweizer Wohnbevölkerung bezeichneten sich als römisch-katholisch (1990: 46,2%), 33% (38,5%) als evangelisch-reformiert. Die Freikirchen und übrigen protestantischen Gemeinschaften blieben mit einem Anteil von 2,2% stabil, ebenso die Angehörigen der jüdischen Glaubensgemeinschaft und der Christkatholiken (je 0,2%). 11% gaben an, zu keiner Konfession zu gehören. 1990 waren es erst 7,4% und 1970 lediglich 1,1% gewesen. Der Anteil der Konfessionslosen ist besonders hoch bei den 30- bis 50-Jährigen, und er ist bei Männern höher als bei Frauen. In städtischen Gebieten gibt es doppelt so viele Konfessionslose wie auf dem Land, und in der Westschweiz ist deren Anteil wesentlich höher als in der Deutschschweiz und im Tessin (GE: 23%; NE: 22%). Gemäss BFS zieht sich ein Bogen der starken Säkularisierung von Genf hinauf über die Waadt, Neuenburg, die Region Solothurn-Basel, den Aargau, die Stadt Zürich nach Schaffhausen.
Seit der Volkszählung von 1990 hat sich in Folge der Zuwanderung vor allem aus den Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens der Anteil
neuer Religionsgruppen auf 7% verdoppelt. Besonders zugelegt hat der Anteil von Angehörigen islamischer Glaubengemeinschaften (rund 4,3%). Ebenfalls steigend, wenn auch auf niedrigerem Niveau, ist der Anteil von Mitgliedern christlich-orthodoxer Kirchen (1,8%), von Hindus (0,4%), Buddhisten (0,3%) und Anhängern synkretistischer Glaubengemeinschaften. Die neuen Religionsgruppen konzentrieren sich in der Nordwestschweiz, im Grossraum Zürich und in der Ostschweiz. Im Kanton St. Gallen beträgt ihr Anteil 9,8%, im Thurgau 8,5%. Aufgrund dieser Entwicklung sowie der geographischen Mobilität und der Zunahme von Mischehen hätten sich die
religiösen Grenzen in der Schweiz
aufgelöst, stellte das BFS fest. In einem breiten, mehrheitlich städtischen Gürtel, der vom Genfersee entlang der Jurakette bis zum Bodensee und ins St. Galler Rheintal reicht, gebe es keine deutlich dominierenden Kirchen mehr
[24].
Der Kanton
Zürich unternahm den Versuch, das
Verhältnis zwischen Kirche und Staat im Sinn einer Entflechtung und einer Anerkennung zusätzlicher Glaubensgemeinschaften grundsätzlich neu zu regeln. Diese Vorlage war im Kampf gegen die letzte Volksinitiative zur Trennung von Kirche und Staat in Aussicht gestellt worden, die 1995 mit zwei Drittel Nein-Stimmen verworfen worden war. Zentraler Streitpunkt in den Debatten war die staatliche
Anerkennung ausserchristlicher Religionsgemeinschaften sowie die (eng damit zusammenhängende) Autonomie aller anerkannter Gruppen, auch ausländischen Mitgliedern das Stimm- und Wahlrecht zuzubilligen. Für die Anerkennung weiterer religiöser Gemeinschaften votierten im Kantonsrat SP, Grüne, CVP und eine Mehrheit der FDP; die SVP und eine Mehrheit der EVP stellten sich wegen einer möglichen Offizialisierung des Islam dagegen. Dem Souverän wurden drei zusammenhängende Vorlagen unterbreitet: eine Verfassungsänderung (Grundsatz der Anerkennung weiterer Glaubengemeinschaften und Ausländerstimmrecht) sowie zwei Gesetzesrevisionen (Verhältnis zwischen dem Kanton und den bereits anerkannten Kirchen sowie Verfahren der Anerkennung neuer Religionsgemeinschaften). EVP, EDU und vor allem SVP bekämpften die Vorlage auch im Abstimmungskampf mit dem Slogan „Kein Geld für Koranschulen“ aufs heftigste. Unterstützung erhielten sie von einem Teil der FDP, der eine völlige Trennung von Kirche und Staat anstrebt. Vor diesem Hintergrund hatten die Vorlagen keine Chance an der Urne: Die Verfassungsänderung scheiterte mit 55% Nein-Stimmen, das Kirchengesetz mit knapp 54% und das Anerkennungsgesetz mit 64%
[25].
In Zusammenhang mit den Diskussionen um die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften kritisierte der Basler Bischof Kurt Koch in einem Interview die Haltung der CVP; es gehe nicht an, das C im Namen zu tragen und gleichzeitig die Meinung zu vertreten, der Glaube sei eine Privatsache und habe mit Politik nichts zu tun. Auch die Wirtschaftspolitik der
CVP fand der katholische Würdenträger als zu neoliberal, um mit den christlichen Grundwerten vereinbar zu sein. Die Parteileitung der CVP distanzierte sich umgehend von der bischöflichen Rüge. Der Bischof setze das Christentum mit den Überzeugungen der römisch-katholischen Kirche gleich. Diese Verkürzung sei falsch. In der CVP politisierten nämlich Christen katholischer und protestantischer Herkunft. Die Kirche könne und solle ihre Rolle in der Gesellschaft übernehmen und ihre Ansichten in die Diskussion einbringen. Das dürfe aber nicht mit einer Weisungsgebundenheit christlicher Politiker gleichgesetzt werden. Die CVP fühle sich an keine Direktiven weder aus Rom noch aus dem Bistum Basel gebunden
[26].
[25]
NZZ und
TA, 14.1., 28.1., 1.4., 22.10., 23.10., 30.10. und 1.12.03. Vgl.
SPJ 1995, S. 298. Die Hürden für die Anerkennung neuer Glaubensgemeinschaften wären hoch gelegen: 30 Jahre Wirken in der Schweiz, mehr als 3000 Mitglieder im Kanton Zürich, Anerkennung der Grundwerte der Schweizer Rechtsordnung, Bejahen des Religionsfriedens, Pflege einer inneren Demokratie und Offenlegung der Finanzen, weshalb eine baldige Anerkennung des Islam wohl kaum in Frage gekommen wäre (
Bund, 24.11.03). Zum Verhältnis der Schweiz zum Islam siehe auch eine Interpellation Waber (edu, BE) sowie ein abgelehntes Postulat Dunant (svp, BS) in
AB NR, 2003, S. 511 und 1226. Für die Diskussionen um eine Aufhebung des Schächtverbots siehe oben, Teil I, 4c (Expérimentation animale et protection des animaux).
[26]
SoZ, 10.8. 03 (Interview Koch); Presse vom 11. und 12.8.03.
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