Année politique Suisse 2004 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Freisinnig-Demokratische Partei (FDP)
An der ausserordentlichen Delegiertenversammlung in Bern von Anfang Januar stellte Vizepräsident Ruedi Noser (ZH) das Projekt „Avenir radical“ vor, mit dessen Hilfe die Partei sich profilieren möchte. Die Diskussion um die Parteileitung, die in den Tagen vor dem Anlass die Medien dominiert hatte, war offiziell kein Thema. Exponenten des rechten Parteiflügels um den St. Galler Nationalrat Peter Weigelt hatten eine Debatte über liberale Grundpositionen und neue Köpfe an der Spitze der Partei gefordert. Mit 199:9 Stimmen beschlossen die Delegierten diskussionslos die Ja-Parole zum neuen Mietrecht und sprachen sich nach kurzer Debatte mit 211:15 Stimmen auch für den Gegenvorschlag zur Avanti-Initiative aus. Die Verwahrungsinitiative lehnten sie ab [7].
Anfang März gab Christiane Langenberger (VD) bekannt, sie stehe für die im April anstehende Wiederwahl als Parteipräsidentin nicht mehr zur Verfügung; sie sei zum Schluss gekommen, dass die Partei einen Neustart auch in personeller Hinsicht brauche. Als aussichtsreichste Kandidaten wurden in der Presse Ständerat Rolf Schweiger (ZG), Nationalrat Georges Theiler (LU) und Fraktionspräsident Fulvio Pelli (TI) gehandelt [8].
Am 16. April wählten die Freisinnigen in Chur den Zuger Ständerat Rolf Schweiger zum neuen Parteipräsidenten. Schweiger erzielte 195 Stimmen, Georges Theiler (LU) deren 25. Diskussionslos empfahlen die Delegierten die 11. AHV-Revision mit 184:3 Stimmen zur Annahme. Zum AHV-Finanzierungsbeschluss gaben sie nach engagierter Debatte mit 166:64 Stimmen bei 3 Enthaltungen die Nein-Parole heraus; damit musste Bundesrat Couchepin eine Niederlage einstecken, die sich bereits im Januar abgezeichnet hatte, als die FDP-Fraktion ihr einstiges Ja zur MWSt-Erhöhung rückgängig machte. Zum Steuerpaket hatten die Freisinnigen bereits letzten Herbst die Ja-Parole beschlossen. Mit 229:25 Stimmen bei 2 Enthaltungen empfahlen sie ausserdem die Annahme des Mutterschaftsurlaubs, über den das Volk im September entschied [9].
Mitte Mai präsentierte die FDP-Spitze im Rahmen von „Avenir radical“ 28 aus den insgesamt über 400 eingereichten Projektvorschlägen. Auf breite Zustimmung stiessen die Reform des Bildungs- und Sozialwesens, die Einführung von kostenlosen Tagesschulen und die Lebensarbeitszeit; Vorschläge wie die Abschaffung der Dienstpflicht, das Stimmrechtsalter 16, das Road-Pricing oder die Verkleinerung des Nationalrats auf 150 Mitglieder stiessen auf wenig Gegenliebe [10].
An der Delegiertenversammlung in Zofingen (AG) machte Parteipräsident Schweiger – nicht zuletzt im Hinblick auf die Sololäufe von Neu-Nationalrat Filippo Leutenegger (ZH) – klar, dass er von seiner Partei künftig einen einheitlichen Auftritt erwarte. Vor einem Sachentscheid seien Meinungsvielfalt und Debatten erwünscht, nach der Ausmarchung aber dürfe es kein Abweichlertum mehr geben. Mit 257:10 Stimmen bei 2 Enthaltungen beschlossen die Freisinnigen die Ja-Parole zur NFA, die im November zur Abstimmung kam, und mit 263:25 Stimmen bei einer Enthaltung resp. 250:45 Stimmen die Annahme der Einbürgerungsvorlagen. Die Konferenz der Kantonalpräsidenten hatte die Nein-Parole zur Post-Initiative herausgegeben. Hauptgeschäft der Delegiertenversammlung bildete aber der Ausbau der Führungsstrukturen der Partei. Neu ins Vizepräsidium gewählt wurde der Kantonalpräsident der Walliser FDP, Léonard Bender. Er teilt sich das Amt mit der Tessiner Regierungsrätin Marina Masoni, die Gabriele Gendotti ablöste. Bestätigt wurden zudem der Zürcher Nationalrat Ruedi Noser und seine Ausserrhoder Kollegin Marianne Kleiner, die neu als Stellvertreterin Schweigers amtiert. Ausserdem nahmen Daniel Helfenfinger (SO) als Vertreter der Jungpartei sowie Marianne Dürst (GL) für die FDP-Frauen im siebenköpfigen Spitzengremium Einsitz. Die FDP-Frauen wählten mit der früheren FDP-Sprecherin Barbara Perriard erstmals eine eigene Generalsekretärin. Schliesslich bestellten die Freisinnigen einen für die politische Aussenwirkung der Partei zuständigen Koordinationsausschuss, der die Bundeshausfraktion stärker in die Führungsarbeit einbindet, sowie die mit 15 neuen Mitgliedern aufgestockte Geschäftsleitung [11].
Mitte September billigte die FDP an einer „freisinnigen Landsgemeinde“ in Stans (NW) jene sechs Schwerpunkte von „Avenir radical“, welche die Parteibasis im Sommer in der Vernehmlassung ausgewählt hatte. Gemäss Parteipräsident Schweiger stehen sie einerseits für eine „zeitgemässe Gesellschaftspolitik“ (Sozialleistungen sollen nicht länger Negativanreize zum Arbeiten setzen, Einführung der Individualbesteuerung und bundesweite Harmonisierung des Schulsystems), andererseits für eine „chancengerechte Wachstumspolitik“ (Abbau von Subventionen, mehr Wettbewerb durch Öffnung der Märkte sowie eine generelle Vereinfachung des Steuersystems). Ein Antrag für ein Anreizsystem für ökologisches Wachstum wurde abgelehnt [12].
Ende September gründeten Wirtschaftsvertreter (darunter Peter Wuffli, UBS, Rolf Dörig, Swiss Life, Peter Athanas, Ernst & Young, Thomas Knecht, McKinsey, Walter Kielholz, CS, André Kudelski und Daniel Vasella, Novartis) den Verein „Freunde der FDP“ mit dem Ziel, die Freisinnigen ideell und materiell zu unterstützen. Kurze Zeit später beschloss eine Arbeitsgruppe um Hans Furer, Geschäftsführer des Verbandes Angestellte der chemischen und pharmazeutischen Industrie Schweiz und Mitglied des Vorstandes von Travailsuisse, eine Plattform für Interessen von freisinnigen Angestellten zu errichten [13].
Um entsprechende Bestrebungen in den Kantonen zu beschleunigen, verabschiedete die FDP-Delegiertenversammlung in Martigny (VS) eine Resolution für eine harmonisierte und verbesserte Volksschule. Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung der Berner Nationalrätin Christa Markwalder soll einen Text für eine Volksinitiative ausarbeiten, welche landesweit einheitliche Vorgaben für die Volksschule vorsieht (gleiches Alter für den Schuleintritt und den Übertritt in weiterführende Stufen, Vereinheitlichung beim Schulstoff, insbesondere beim Fremdsprachenunterricht). Einstimmig gaben die Delegierten die Ja-Parole zum Stammzellenforschungsgesetz heraus; die Konferenz der Kantonalpräsidenten sprach sich für die neue Finanzordnung aus [14].
Anfang November teilte Rolf Schweiger der FDP seinen sofortigen Rücktritt als Parteipräsident mit. Er begründete diesen Schritt mit einem Burn-out-Syndrom, das in den letzten Wochen an Intensität zugenommen habe. Vizepräsidentin Marianne Kleiner (AR) übernahm interimistisch die Parteileitung. Eine vom Glarner Ständerat Fritz Schiesser präsidierte Findungskommission erhielt den Auftrag, für das Parteipräsidium geeignete Kandidaten zu kontaktieren, aber auch strukturelle Fragen wie jene einer weiteren Professionalisierung des Präsidiums und der dazu erforderlichen finanziellen Ausstattung zu erörtern. Dass sich diese Fragen nicht trennen liessen, war insbesondere bei dem von der Presse als potentiellem Nachfolger gehandelten Felix Gutzwiller (ZH) offensichtlich, der das Amt nicht übernehmen könnte, ohne sich von einem Teil seiner zahlreichen anderen Funktionen in Wissenschaft und Wirtschaft zu trennen. Als weitere Anwärter galten Didier Burkhalter (NE), Ruedi Noser (ZH), Marianne Kleiner (AR), Fulvio Pelli (TI) und Georges Theiler (LU). Ende Dezember unterbreitete die Findungskommission der Geschäftsleitung einen Doppelvorschlag mit den Nationalräten Fulvio Pelli (TI) und Georges Theiler (LU). Die Wahl des neuen Präsidenten ist für April 2005 vorgesehen [15].
Mitte November lancierte ein freisinniges Komitee eine eidgenössische Volksinitiative „Verbandsbeschwerderecht – Mehr Wachstum für die Schweiz“ mit dem Ziel, Beschwerden von Umweltverbänden auszuschliessen, wenn ein Bauprojekt in einer Volksabstimmung oder von einem kommunalen, kantonalen oder nationalen Parlament gutgeheissen wurde. Zum 27-köpfigen Initiativkomitee gehörten neben Zürcher Freisinnigen prominente FDP-Mitglieder anderer Kantone, namentlich Marianne Kleiner (AR), Georges Theiler (LU), Charles Favre (VD), Duri Bezzola (GR), Françoise Saudan (GE) und Léonard Bender (VS). Die Kantonalsektionen BS, FR, GE, GR, NW, SG, TG, TI, UR, VD, VS und ZG schlossen sich dem Begehren an [16].
In den kantonalen Parlamentswahlen mussten die Freisinnigen insgesamt 23 Sitze abtreten: acht in St. Gallen, sechs in Uri, vier im Thurgau, je zwei in Schaffhausen und in Schwyz sowie einen in Basel-Stadt.
 
[7] Presse vom 12.1.04. Zu den vorgängigen Spekulationen um einen allfälligen Rücktritt von Parteipräsidentin Christiane Langenberger siehe Presse vom 8.-9.1.04. Zu „Avenir radical“ siehe SPJ 2003, S. 341.
[8] Presse vom 5.-9.3.04.
[9] Presse vom 18.-19.4.04. Zum Parteipräsidentenwahlkampf siehe Presse vom 10.-11.3., 17.3., 24.3., 30.-31.3. und 13.-16.4.04. Zum Steuerpaket siehe SPJ 2003, S. 340.
[10] Presse vom 17.5.04.
[11] Presse vom 21.8. und 23.-24.8.04; ausführlich zu den Parteigremien siehe NZZ, 14.7. und 19.8.04; Presse vom 15.7.04.
[12] Presse vom 7.9. und 13.9.04; NZZ, 20.9.04. Zur Vernehmlassung der 21 Projekte von „Avenir radical“ siehe Presse vom 22.6.04.
[13] Presse vom 22.-23.9.04; NZZ, 27.10.04.
[14] Presse vom 25.10.04.
[15] Presse vom 6.11., 8.-9.11., 15.11. und 18.12.04; NZZ, 22.12.04.
[16] NZZ, 25.9.04; AZ, 17.11.04; TA, 17.11. und 20.11.04. Zur Kritik am Volksbegehren, auch von Freisinnigen, siehe NZZ, 27.10.04. Siehe dazu auch oben, Teil I, 6d (Politique des sites et de la nature).