Année politique Suisse 2004 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
 
Kantonale Verfassungsrevisionen
In Freiburg hiess das Volk am 16. Mai mit einer Mehrheit von gut 58% die neue Kantonsverfassung gut. Als wichtigste Neuerungen brachte sie die Einführung des kommunalen Ausländerstimmrechts, die rechtliche Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Paaren sowie die Schaffung einer kantonalen Mutterschaftsversicherung. Für eine Ablehnung hatten die SVP, die FDP sowie eine Gruppe zur Verteidigung der französischen Sprache plädiert; die beiden ersteren, weil die Verfassung dem Staat zu viele nicht finanzierbare Aufgaben aufbürde, letztere, weil sie Gemeinden mit einer beträchtlichen angestammten anderssprachigen Minderheit (wie z.B. der Stadt Freiburg) das Recht einräumt, sich zur zweisprachigen Gemeinde zu erklären [4].
In Basel-Stadt wurde die Vernehmlassung über einen Vorentwurf für eine neue Kantonsverfassung abgeschlossen. Mit Ausnahme der Einführung des Ausländerstimmrechts, der Mutterschaftsversicherung (welche mit dem positiven Ausgang der Volksabstimmung auf Bundesebene ohnehin obsolet wurde) und der Parteienfinanzierung stiessen alle Neuerungen auf breite Zustimmung. Die zweite Lesung nahm der Verfassungsrat im November auf. Um nicht das gesamte Projekt zu gefährden, strich er das Ausländerstimmrecht wieder [5]. In Luzern schloss die Verfassungskommission ihre Arbeit ab und übergab ihren Vorschlag der Regierung, welche eine Vernehmlassung durchführte. Die Kommission hatte unter anderem beschlossen, das Ausländerstimmrecht nur in der fakultativen kommunalen Form aufzunehmen und diesen Vorschlag bloss als Variante dem Volk vorzulegen. In der Vernehmlassung wurden die wichtigsten angestrebten materiellen Änderungen (Ausländerstimmrecht, Stimmrechtsalter 16, Kompetenz des Parlaments, nichtchristliche Kirchen als öffentlich-rechtliche Anstalten zu anerkennen) von den drei bürgerlichen Parteien CVP, FDP und SVP abgelehnt [6]. In Zürich wurde anfangs Jahr die Vernehmlassung über den Vorentwurf für eine neue Verfassung abgeschlossen; im Sommer führte der Verfassungsrat die zweite Lesung des bereinigten Entwurfs durch. Dabei berücksichtigte er insbesondere auch das Anliegen der FDP, Grundsätze, welche bereits in der Bundesverfassung enthalten sind, nicht auch noch in die Kantonsverfassung aufzunehmen (namentlich Grund- und Sozialrechte). Im Oktober verabschiedete der Verfassungsrat den Entwurf gegen den Widerstand der SVP zuhanden der Volksabstimmung [7]. Im Kanton Schwyz beantragte die Regierung, eine Totalrevision der Verfassung in Angriff zu nehmen und dazu eine Verfassungskommission zu wählen [8].
Die Bundesversammlung genehmigte eine Reihe von Revisionen von kantonalen Verfassungen, darunter auch die Totalrevision derjenigen Graubündens. Dabei kam es zu einer Kontroverse zwischen dem Bundesrat und dem Ständerat über das Majorzsystem. Auslöser dazu war eine Bemerkung in der Botschaft der Landesregierung, welche, gestützt auf das Urteil einiger Staatsrechtler, das Majorzsystem bei Parlamentswahlen als „rechtlich zweifelhaft“ eingestuft hatte, da es der demokratischen Repräsentationsidee widerspreche. Auf die bundesrätliche Anregung, dieses Wahlsystem für kantonale Parlamente in Zukunft als nicht verfassungskonform zu taxieren, reagierte die SPK des Ständerates – dessen Mitglieder mit Ausnahme der Vertreter des Kantons Jura alle nach diesem System gewählt werden – kurz, heftig und negativ. Das Majorzsystem werde nicht nur in der Schweiz, sondern auch in einer ganzen Reihe anderer demokratischer Staaten für Parlamentswahlen angewendet und es sei in der Schweiz gemäss Bundesverfassung Sache der Kantone und ihrer Bürgerinnen und Bürger, das von ihnen bevorzugte Wahlverfahren zu bestimmen. Beide Ratskammern schlossen sich dieser Meinung an, und auch Bundesrat Blocher distanzierte sich von der in der Botschaft formulierten Kritik am Majorzsystem. Unterstützung erhielt die Majorzkritik des Bundesrates von der Linken. Im Nationalrat unterlag sie jedoch mit einem Antrag, das Majorzsystem und die Wahlkreiseinteilung aus der Bündner Verfassung zu streichen, da sie im Widerspruch zur Bundesverfassung stehen würden [9].
 
[4] Verfassungsrat (3. Lesung): Lib., 13.1., 17.1. und 21.1.04. Abstimmung: Lib., 3.4. (Sprachenfrage), 5.5. und 17.5.04; TA, 7.5.04. Vgl. SPJ 2003, S. 15. Siehe dazu auch Ambros Lüthi, „Die Sprachenfrage in der Verfassung des Kantons Freiburg“, in LeGes, 2004, Nr. 2, S. 65-91.
[5] BaZ, 11.5., 23.11., 24.11. und 26.11.04. Vgl. SPJ 2003, S. 15.
[6] NLZ, 15.3., 30.4., 25.8. und 31.12.04.
[7] NZZ, 10.1. (Vernehmlassung), 29.5., 11.6., 26.6., 9.7. (2. Lesung), 29.10. und 30.10.04 (Verabschiedung). Vgl. SPJ 2003, S. 15.
[8] NLZ, 29.10.04. Siehe dazu auch Lit. Arbeitsgruppe KV-Revision.
[9] BBl, 2004, S. 1107 ff. (BR) und 3635 ff. (SPK-SR); AB SR, 2004, S. 260 ff.; AB NR, 2004, S. 1057 f.; BBl, 2004, S. 3643. Gegen Jahresende beantragte der BR vorbehaltlos die Genehmigung der Totalrevision der neuen Freiburger Kantonsverfassung (BBl, 2004, S. 403 ff.; siehe dazu oben).