Année politique Suisse 2004 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung / Bürgerrecht und Stimmrecht
Am 26. September kamen zwei der vom Parlament im Vorjahr verabschiedeten Einbürgerungsvorlagen in die Volksabstimmung. Die eine strebte eine Vereinheitlichung und Lockerung der Vorschriften über die
erleichterte Einbürgerung von in der Schweiz aufgewachsenen Ausländern an. Hier ging es primär darum, die von einigen Kantonen (GE, VD, FR, NE, JU, BE, BS und ZH) nach der Ablehnung einer ähnlichen Vorlage im Jahre 1994 eingeführten Lockerungen (Gebührenreduktion, kürzere Wohnfristen) zu vereinheitlichen und auf die ganze Schweiz auszudehnen
[7]. Die zweite Vorlage postulierte die automatische Einbürgerung von
Kindern der dritten Generation. Gemeint waren damit Kinder, deren Eltern die schweizerische Staatsbürgerschaft nicht haben, von denen aber mindestens ein Elternteil in der Schweiz zur Schule gegangen ist und seit minimal fünf Jahren über eine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung verfügt.
Wie nicht anders zu erwarten war, kam es zu einer von den Gegnern dominierten heftigen und emotionalen
Kampagne. Dabei waren die
Befürworter insofern im Hintertreffen, als der Einsatz und die Werbung nicht nur der FDP, der CVP und der Unternehmerverbände, sondern auch der Linken und der Gewerkschaften sehr zurückhaltend waren. Erst kurz vor der Abstimmung, als klar wurde, das die in frühen Meinungsumfragen prognostizierte Zustimmung kaum eintreten würde, riefen die Parteivorsitzenden der FDP, der CVP, der SP und der GP in einem gemeinsamen Inserat zu einem Ja auf. Von der Wirtschaft beteiligte sich nur der Arbeitgeberverband, nicht aber Economiesuisse an der Kampagne
[8]. Der zuständige Departementsvorsteher Blocher, welcher als Nationalrat gegen die Neuerungen votiert hatte, beschränkte sich darauf, über die Zustimmung des Bundesrats zu informieren sowie die Vor- und Nachteile der neuen Verfassungsbestimmungen darzulegen. Immerhin setzten sich praktisch sämtliche gedruckten Medien in ihrem redaktionellen Teil für die Bürgerrechtsvorlagen ein
[9].
Auf der anderen Seite malten die SVP, die SD und diverse gegnerische Komitees die
Gefahr einer „Masseneinbürgerung“ von nicht assimilierten Einwanderern aus fremden Kulturen an die Wand
[10]. Ihre Plakate und Inserate weckten den Eindruck, dass kriminelle Ausländer problemlos zu einem Schweizerpass kommen würden und brachten die gehäuft auftretenden Geschwindigkeitsexzesse von jugendlichen Autofahrern aus dem ehemaligen Jugoslawien in einen Zusammenhang mit den Abstimmungsvorlagen. Die Walliser Jungsektion der SVP ging sogar soweit, auf Plakaten zu suggerieren, dass mit der neuen Regelung auch der islamistische Terrorist Bin Laden das Schweizer Bürgerrecht erhalten würde
[11]. Ein weiteres Argumente der SVP und der SD war, dass es dem Bundesrat und den anderen Parteien nur darum gehe, mittels Masseneinbürgerungen die Ausländerstatistik zu manipulieren und damit ihren Kampf für eine restriktive Einwanderungspolitik zu behindern
[12].
Bei einer hohen Stimmbeteiligung von fast 54% lehnten Volk und Stände am 26. September beide Einbürgerungsvorlagen ab: die
erleichterte Einbürgerung von in der Schweiz aufgewachsenen Ausländern mit 1 106 529 zu 1 452 453 Stimmen (56,8% Nein), die automatische Einbürgerung von
Kindern der dritten Generation etwas knapper mit 1 238 912 zu 1 322 587 Stimmen (51,6% Nein) . Zustimmung fand die erste Vorlage in den Kantonen Basel-Stadt, Freiburg, Waadt, Neuenburg, Genf und Jura, die zweite zusätzlich noch in Bern. Am grössten war die Opposition mit Nein-Stimmenanteilen zwischen 70 und 75% in kleinen Innerschweizer Kantonen (UR, SZ, OW, NW und GL) sowie in Appenzell-Innerrhoden und Thurgau. Der Gegensatz zwischen zustimmender Romandie und ablehnender Deutschschweiz wurde dadurch etwas gemildert, als neben Basel auch die meisten anderen grossen deutschsprachigen Städte (u.a. Bern, Biel, Luzern, Zürich) zugestimmt hatten. Auffallend waren am Ergebnis zwei Dinge: erstens, dass mit Ausnahme von Basel-Stadt alle Deutschschweizer Kantone, welche 1994 der erleichterten Einbürgerung für die zweite Generation noch zugestimmt hatten (ZH, BE, ZG, BL und GR), nun ebenfalls Nein-Mehrheiten aufwiesen; und zweitens, dass die Vorlage für die zweite Generation, welche auf Bundesebene eingeführt hätte, was für rund die Hälfte der Schweiz bereits seit rund zehn Jahren gilt, stärker abgelehnt wurde, als die grundlegende Neuerung der automatischen Bürgerrechtserteilung an die sogenannte dritte Generation
[13]. Die Vox-Analyse zeigte, dass das Abstimmungsverhalten zu einem guten Teil von der grundsätzlichen Einstellung zu Ausländern sowie von persönlichen positiven oder negativen Erfahrungen im Zusammenleben mit diesen geprägt gewesen war. Eine weitere Konfliktlinie bestand zwischen Links und Rechts: Die Linke hatte den beiden Vorlagen zugestimmt, während Personen, die sich als rechts stehend bezeichneten, mehrheitlich dagegen waren. Sympathisanten der SP stimmten zu mehr als 80% dafür, Sympathisanten der SVP lehnten zu über 90% ab; die Anhängerschaft der FDP und der CVP war je hälftig gespalten
[14].
Bundesbeschluss über die erleichterte Einbürgerung (2. Generation)
Abstimmung vom 26. September 2004
Beteiligung: 53,8%
Ja: 1 106 529 (43,2%) / 5 1/2 Stände
Nein: 1 452 453 (56,8%) / 15 5/2 Stände
Parolen:
— Ja: SP, FDP (2*), CVP, GP, LP, EVP; SGB, Travail.Suisse, Arbeitgeberverband.
— Nein: SVP, SD, EDU, Lega, FP.
— keine Parole: Economiesuisse, SGV, SBV.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Bundesbeschluss über die automatische Einbürgerung (3. Generation)
Abstimmung vom 26. September 2004
Beteiligung: 53,8%
Ja: 1 238 912 (48,4%) / 6 1/2 Stände
Nein: 1 322 587 (51,6%) / 14 5/2 Stände
Parolen:
— Ja: SP, FDP (3*), CVP, GP, LP, EVP; SGB, Travail.Suisse, Arbeitgeberverband.
— Nein: SVP, SD, EDU, Lega, FP.
— keine Parole: Economiesuisse, SGV, SBV.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Das Reformpaket Bürgerecht hatte aus zwei Verfassungs- und drei Gesetzesvorlagen bestanden. Nach der Ablehnung der beiden Verfassungsrevisionen in der Volksabstimmung fielen auch die zwei zugehörigen Gesetzesänderungen aus den Traktanden. Darin wäre unter anderem auch die Verkürzung der
minimalen Anwesenheitsdauer in der Schweiz von zwölf auf acht Jahre und der Wohnsitzdauer in der Gemeinde auf drei Jahre für die ordentliche Einbürgerung enthalten gewesen. Die
dritte Gesetzesänderung war nicht mit dem Referendum bekämpft worden und kann, da sie sich auf geltendes Verfassungsrecht abstützt, in Kraft gesetzt werden. Sie schreibt vor, dass auf allen drei Entscheidungsebenen (Bund, Kantone, Gemeinden)
nur noch kostendeckende Einbürgerungsgebühren zulässig sind. Die Gemeinden haben damit kein Recht mehr, einkommensabhängige „Einkaufssummen“, welche bisher bis zu mehr als zehntausend Franken ausmachen konnten, zu verlangen. Da diese Einnahmen bei Gemeinden und Kantonen für 2005 bereits budgetiert waren, sahen die Bundesbehörden eine Inkraftsetzung auf Anfang 2006 vor
[15].
Als Reaktion auf die Bundesgerichtsurteile vom Vorjahr, welche
kommunale Urnenabstimmungen über Einbürgerungen als verfassungswidrig untersagt hatten, lancierte die SVP im Mai, wie damals angekündigt, eine Volksinitiative. Das Begehren verlangt, dass die Gemeinden absolut frei sind, die Entscheidungsinstanz und -prozedur festzulegen. Diese kommunalen Einbürgerungsentscheide sollen zudem nicht rekursfähig sein
[16]. Der Ständerat gab einer Standesinitiative des Kantons Schwyz Folge, welche das Gleiche wie die 2003 vom Ständerat angenommene parlamentarische Initiative Pfisterer (fdp, AG) verlangt: ein faires Verfahren in einem politischen Entscheid bei Wahrung der kantonalen Autonomie in der Organisation des Entscheids. Die mit der Umsetzung der Initiative Pfisterer befasste SPK des Ständerats verschickte gegen Jahresende einen von ihr ausgearbeiteten Entwurf an die Kantone zur Vernehmlassung. Sie hielt darin am Grundsatz fest, dass die Einbürgerung ein politischer Entscheid bleiben soll. Konkret beantragte sie, dass die Kantone Urnenabstimmungen zulassen können, unter der Bedingung, dass ein Nein begründet werden muss und der Einbürgerungsentscheid angefochten werden kann. Als technische Möglichkeit für die Feststellung der geforderten Begründung schlug sie die Verbindung des Abstimmungszettels mit einem Fragebogen zum Ankreuzen oder Aufschreiben der Ablehnungsgründe vor
[17]. Das Bundesgericht hatte sich bei seinem Verdikt von 2003 nur auf Urnenabstimmungen bezogen und nicht auf
Gemeindeversammlungen mit offenem Handmehr. Die Beschwerde der SVP des Kantons Schwyz gegen die dort nach dem Verbot von Urnenabstimmungen erlassene neue Regelung gab den Richtern nun Gelegenheit, sich auch zu Entscheiden an Gemeindeversammlungen zu äussern. Diese sind gemäss Bundesgericht zulässig, wenn die Abstimmung nicht geheim ist und Ablehnungsanträge begründet werden müssen. Zumindest in der öffentlichen Urteilsberatung kam aber auch eine deutliche Skepsis der Richter gegen diese Art der Einbürgerung zum Vorschein. Dem Kanton Schwyz wurde empfohlen, zumindest in grösseren Gemeinden andere Gremien wie Parlamente, Exekutiven oder Kommissionen entscheiden zu lassen
[18].
Die
Zahl der Einbürgerungen lag mit 36 957 knapp unter dem Vorjahreswert (37 070). Die grösste Gruppe von Eingebürgerten stellte erneut Serbien-Montenegro mit 7840 Personen, gefolgt von Italien (4408) und der Türkei (3568)
[19].
[7] Siehe
SPJ 1994, S. 23 f. Zu den bestehenden Erleichterungen in den erwähnten Kantonen siehe auch
Bund, 3.9.04.
[8]
TA, 19.8. und 23.9.04;
Blick und
Bund, 24.9.04 (Parteispitzen). Zur Kampagne siehe Presse vom 26.7.-25.9.04. Zu den Befragungen im Vorfeld siehe
BaZ, 28.9.04.
[9] Presse vom 24.8.04;
AZ,
Bund und
NZZ, 11.9.04.
[10] Das zuständige Bundesamt (IMES) ging von etwa 15 000 zusätzlichen Einbürgerungen pro Jahr in der Anfangsphase und deutlich weniger in späteren Jahren aus (
BZ, 7.8.04).
[11] Vgl. dazu
Bund und
NZZ, 14.8.04;
NF, 11.9.04 (JSVP-VS). Siehe auch das Inserat eines von NR Schlüer (svp, ZH) repräsentierten gegnerischen Komitees, welches mit Grafiken suggerierte, bei Annahme der Bürgerrechtsvorlagen werde in 30 Jahren die Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung muslimisch sein (
NZZ und
TA, 4.9.04;
LT, 7.9.04). Zur Kritik von Politikern der bürgerlichen Parteien und des Direktors des Arbeitgeberverbandes an der SVP-Propaganda siehe u.a.
LT, 21.9.04 sowie als Replik darauf SVP-Präsident Maurer in
NLZ, 21.9.04.
[12] Presse von Anfang Juli bis 25.9.04.
[13]
BBl, 2004, S. 6641 ff.; Presse vom 27.9.04.
[14] Allenspach, Dominik / Kopp, Laura / Milic, Thomas,
Analyse der eidgenössischen Volksabstimmung vom 26. September 2004, VOX Nr. 84, Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich und gfs.bern, Bern 2004.
[15]
BZ, 6.2.04;
NZZ, 28.9.04. Zu den bisherigen Gebühren siehe
AZ, 6.9.04.
[16]
BBl, 2004, S. 2425 ff. Vgl.
SPJ 2003, S. 19.
[17]
AB SR, 2004, S. 860;
NZZ, 19.5.04; Presse vom 28.5.04 (Standesinitiative SZ) sowie
NZZ, 18.11.04 (SPK-SR). Im Berichtsjahr haben auch die Kantonsparlamente von Aargau und Luzern die Einreichung analoger Standesinitiativen beschlossen (
NZZ, 18.2. (LU) und 20.10.04 (
AG); Standesinitiativen 04.306 resp. 04.309). Vgl.
SPJ 2003, S. 20.
[18] Presse vom 13.5.04. In Schwyz reichte die SVP eine Volksinitiative für die Wiedereinführung von Urnenabstimmungen über Einbürgerungsentscheide ein (
NZZ, 22.9.04).
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