Année politique Suisse 2004 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
Arbeitswelt
In der Schweiz wird immer häufiger
Teilzeit gearbeitet. Eine auf den Daten der Volkszählung 2000 basierende Studie zeigte, dass jede vierte erwerbstätige Person eine Teilzeitstelle hat, wobei die entsprechende Quote bei den Frauen deutlich höher liegt als bei den Männern. 78% der Teilzeit jobbenden Frauen sind Mütter. Am stärksten verbreitet ist Teilzeitarbeit im Gesundheitswesen und in den Lehrberufen, wo die Frauen traditionell stark vertreten sind. In diesen Bereichen sind heute aber auch Männer öfter Teilzeit tätig
[3].
Die höhere Gangart in der Arbeitswelt hat eine
verstärkte psychische und psychosoziale Belastung der Erwerbstätigen zur Folge. 44% der im Rahmen der Gesundheitsbefragung 2002 des BFS befragten Personen gaben an, einen Arbeitsplatz mit zumeist sehr starker nervlicher Belastung zu haben. Ein weiterer psychischer Belastungsfaktor ist die Arbeitsplatzunsicherheit, die sich in der Furcht ausdrückt, die Stelle zu verlieren oder nur unter grossen Schwierigkeiten wieder eine gleichwertige Arbeit zu finden. Eine starke nervliche Belastung, welche 37% der Arbeitenden mit dem tiefsten sozio-professionellen Niveau und 61% der Erwerbstätigen mit dem höchsten Status empfanden, kann Ursache für körperliche Probleme wie Kopf- oder Rückenschmerzen, Schlafstörungen oder generelle psychische Beeinträchtigungen sein
[4].
Arbeit auf Abruf, Temporäranstellung via Personalverleih, Heimarbeit ohne festgelegte Stundenzahl: Solche Arbeitsverhältnisse gelten gemäss einer vom Seco in Auftrag gegebenen Studie als „prekär“, allerdings nur dann, wenn die damit verbundenen Unsicherheiten finanziell nicht abgegolten werden, das heisst wenn der auf eine 100%-Stelle gerechnete Lohn unter 3500 Fr. liegt. Gemäss dieser Definition arbeiten in der Schweiz rund 150 000 Personen in
prekären Arbeitsverhältnissen, was 3,8% aller Erwerbstätigen entspricht. Der grösste Teil entfällt auf Arbeit auf Abruf (38%), danach folgen befristete Arbeitsverhältnisse (21%), Heimarbeit ohne festgelegte Stundenzahl (16%), Scheinselbständigkeit (13%), unerwünschte Teilzeitarbeit mit unregelmässigen Arbeitszeiten (8%) sowie Temporärarbeit (4%). Diese Arbeitsformen treten erwartungsgemäss vor allem bei Tätigkeiten in privaten Haushalten, im Gastgewerbe, in der Landwirtschaft sowie bei den persönlichen Dienstleistungen auf. Frauen, Personen unter 25 Jahren und solche ohne Lehrabschluss sind besonders betroffen. Ein Zusammenhang mit Nationalität und Sprachregion konnte nicht festgestellt werden, wohl aber mit der Entwicklung der Arbeitslosigkeit
[5].
Eine zweite vom Seco bestellte Studie betrachtete lediglich die
Arbeit auf Abruf und kam zu deutlich höheren Zahlen. Gemäss dieser Untersuchung arbeiten in der Schweiz knapp 200 000 Personen (5,4% aller Erwerbstätigen) in dieser prekären Arbeitsform. Der Unterschied zur ersten Studie liess sich durch den Umstand erklären, dass auch besser Verdienende mit einbezogen wurden. Die Autoren der Studie kamen zum Schluss, dass Erwerbslose dank Arbeit auf Abruf leichter eine neue Stelle finde, die „Sprungbrett“-Funktion also den „Klebe-Effekt“ dominiert. Zudem sei die Arbeitszufriedenheit bei Arbeit auf Abruf nicht geringer als bei einer normalen Anstellung
[6].
In der Sommersession behandelte der Nationalrat als erster das neue Bundesgesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit. Das Gesetz baut auf vier Pfeilern auf: Die Kantone sollen durch Delegation an die Gewerbepolizei oder die tripartiten Kommissionen Kontrollstellen schaffen; weiter soll die Koordination zwischen den Behörden verbessert werden; ferner müssen ertappte Arbeitgeber mit Sanktionen rechnen; letztlich sollen Erleichterungen für die Abrechnung der Sozialabgaben bei geringfügiger Beschäftigung in kleinen Firmen und Privathaushalten die Anreize zur Schwarzarbeit senken. In der Eintretensdebatte waren sich alle Parteien mit dem Bundesrat einig, dass Schwarzarbeit kein Kavaliersdelikt ist. Sie entzieht der AHV und anderen Sozialversicherungen Mittel, sie benachteiligt die ehrlichen Unternehmer, und sie höhlt den Schutz der Arbeitnehmenden aus. Gegen das neue Gesetz wandte sich nur die äusserste Linke, die sich für eine vollständige Regularisierung aller bisher schwarz Arbeitenden, insbesondere der so genannten Sans-papiers, aussprach. Doch mit 124 zu 4 Stimmen hatte der entsprechende Nichteintretensantrag Zisyadis (pda, VD) keine Chance. Erfolglos waren in der Detailberatung auch weniger weit gehende Massnahmen, welche den schwarz Arbeitenden die Durchsetzung von Lohnansprüchen im nachhinein erleichtert hätten. An der bürgerlichen Mehrheit scheiterte auch der Vorschlag der SP, Papierlose nach einem Jahr illegaler Arbeit in der Schweiz von einer Amnestie profitieren zu lassen.
Unbestritten war, dass Schwarzarbeit im Wiederholungsfall happig bestraft werden soll. Den fehlbaren Arbeitgebern droht Busse bis zu einer Mio Fr. und Gefängnis bis zu fünf Jahren. Am meisten zu reden gaben die etwas indirekteren zusätzlichen
Sanktionen gegen fehlbare Arbeitgeber. Von den Vorschlägen des Bundesrates und der vorberatenden Kommission fand lediglich die Bestimmung bei der bürgerlichen Mehrheit Gnade, wonach Unternehmen, vor allem in der Baubranche, die „schwerwiegend“ gegen das Gesetz verstossen, während fünf Jahren von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen werden können. In anderen Punkten gelang den Bürgerlichen hingegen eine Entschärfung des Entwurfs. Erstens sollten die von Aufträgen ausgeschlossenen Firmen nicht öffentlich genannt werden. Vergeblich argumentierte die SP, dass dadurch die Transparenz verschlechtert werde. Zweitens sollten Bauern, die illegal Personal beschäftigen, auch künftig keine Kürzung ihrer Subventionen zu befürchten haben. Ein erfolgreicher Minderheitsantrag aus der FDP begründete die Schonung der fehlbaren Landwirte damit, dass der Entzug der Subventionen für viele Bauernbetriebe „existenzbedrohend“ wäre. Drittens sollten Firmen auch zukünftig kaum mit nachträglichen Lohnklagen illegal Beschäftigter rechnen müssen. Denn ein entsprechendes Klagerecht der Gewerkschaften, das die Kommission noch ins Gesetz eingefügt hatte, wurde im Plenum wieder gestrichen. Abgelehnt wurde aber auch der Antrag der SVP, dass die Steuer- und Sozialversicherungsbehörden schon bei einem blossen Verdacht auf illegalen Aufenthalt die Ausländerbehörde informieren müssen. Die Ratsmehrheit hielt dem erfolgreich entgegen, dass den Behörden damit Polizeiaufgaben aufgebürdet würden. Angesichts der mehrfach von Rechts und von Links geäusserten Unzufriedenheit wurde das Gesetz überraschend deutlich mit 128 zu 24 Stimmen verabschiedet
[7].
Der
Ständerat setzte dem Gesetz wieder einige der von der grossen Kammer gezogenen Zähne ein. Nach seiner Auffassung sollen die Namen jener Firmen, die wegen Schwarzarbeit vom öffentlichen Beschaffungswesen ausgeschlossen werden, publik gemacht werden. Auch sollen Subventionen vor allem in der Landwirtschaft gekürzt werden können. Schliesslich nahm der Ständerat auch das Klagerecht der Gewerkschaften wieder in das Gesetz auf. Dieses wurde in der Gesamtabstimmung mit 32 zu 1 Stimme gutgeheissen
[8].
[5]
Lit. Ecoplan; Presse vom 6.2.04.
[6]
Lit. Hennenberger / Sousa-Posa und Marti / Osterwald; Presse vom 6.2.04;
NZZ, 11.2.04.
[7]
BBl, 2002, S.3605 ff.;
AB NR, 2004, S. 1184 ff. und 1201 ff. Eine Mehrheit der GP- und der SVP-Fraktion lehnte das Gesetz in der Gesamtabstimmung ab. In der vorberatenden Kommission waren einzelne Massnahmen derart umstritten gewesen, dass die Vorlage aus dem Programm der Frühjahrssession gestrichen und einer zweiten Lesung unterzogen wurde (
NZZ, 18.2.04;
TA, 19.2.04). Diskussionslos wurde ein Postulat der Kommission für eine landesweite Informations- und Aufklärungskampagne über die Folgen der Schwarzarbeit angenommen (
AB NR, 2004, S. 1219).
[8]
AB SR, 2004, S. 917 ff. und 922 ff.
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