Année politique Suisse 2004 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit / Kollektive Arbeitsbeziehungen
Auf den 1. Juni traten die Übergangsbestimmungen zum
Personenfreizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU in die
zweite Phase. Schweizerinnen und Schweizer haben ab diesem Zeitpunkt freien Zugang zum Arbeitsmarkt der bisherigen 15 EU-Länder. Umgekehrt bleiben die Kontingente für EU-Angehörige bis 2007 bestehen, wobei allerdings der Vorrang inländischer Arbeitskräfte und die systematische Kontrolle aller neuen Arbeitsverträge bezüglich Lohn- und Arbeitsbedingungen entfallen. Dafür greifen die 1999 beschlossenen flankierenden Massnahmen, die ein Lohn- und Sozialdumping verhindern sollen
[26].
Als flankierende Massnahmen zur
Erweiterung des
Personenfreizügigkeitsabkommens auf die neuen EU-Staaten, die den Schweizer Arbeitsmarkt vor Lohndrückerei und schlechteren Arbeitsbedingungen schützen sollen, schlug der Bundesrat vor, die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen zu erleichtern und eine Verstärkung der Kontrollen vorzusehen. Rund 150 Inspektoren sollen darüber wachen, dass die üblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen von den zugewanderten Arbeitskräften nicht unterschritten werden, wobei der Bund die Hälfte der Lohnkosten dieser Inspektoren übernimmt; sie sollen jene Kontrollen und Untersuchungen durchführen, die den 2003 eingeführten tripartiten Kommissionen als Grundlage ihrer Beschlüsse dienen
[27].
Im
Ständerat war das Eintreten auf das Zusatzprotokoll und die flankierenden Massnahmen unbestritten. In der Detailberatung beantragte eine Minderheit Schmid (cvp, AI), für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Gesamtarbeitsvertrages das bisherige Quorum von 30% der Arbeitgeber und 30% der Arbeitnehmer zu belassen, dies wurde vor allem mit den Interessen der KMU begründet. Die Mehrheit der Kommission beantragte, dem Bundesrat zu folgen, wonach das Quorum der Arbeitgeber aufgehoben und dasjenige der Arbeitnehmer auf 50% erhöht wird. Mit 24 zu 13 Stimmen folgte der Rat der Mehrheit der Kommission. Mit 27 zu 6 wurde ein weiterer Antrag Schmid abgelehnt, die flankierenden Massnahmen erst nach Aufhebung der arbeitsmarktlichen Beschränkungen (2011) in Kraft zu setzen und auf sieben Jahre zu beschränken
[28].
Im
Nationalrat stellte Gutzwiller (fdp, ZH) den Ordnungsantrag, das
Zusatzprotokoll und die
flankierenden Massnahmen in einem Genehmigungsbeschluss
zusammenzufassen. Der Stimmbürger könne doch nicht über die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Staaten entscheiden, ohne zu wissen, mit welchen Massnahmen Lohndumping bekämpft werde. Mit 120 zu 46 Stimmen stimmte der Rat diesem Antrag zu. In der Detailberatung übernahm der Rat mehrheitlich die Beschlüsse des Ständerates. Mit 75 zu 57 Stimmen folgte der Nationalrat insbesondere einem Antrag Bührer (fdp, SH) und damit Bundes- und Ständerat und beschränkte die Meldepflichten für die Arbeitgeber gegenüber den zuständigen Kontrollbehörden auf die Identität, die Tätigkeit und den Arbeitsort der in die Schweiz entsandten Arbeitnehmer. Die Kommission hatte auch die Löhne und die Arbeitszeiten in die Meldepflicht einbeziehen wollen. Eine Minderheit Kaufmann (svp, ZH) beantragte, auf die Anstellung von Inspektoren zu verzichten, die rund 20 Mio Fr. pro Jahr kosten; es sei an den in den tripartiten Kommissionen vertretenen Sozialpartnern, diese Kontrollen zu übernehmen. Bundespräsident Deiss konterte, wenn man Kontrollen wolle, so müsse man auch die notwendigen Mittel zur Verfügung stellen. Der Antrag Kaufmann wurde mit 124 zu 47 Stimmen abgelehnt. Gegen einen Antrag Germann (svp, ZH), der Festhalten an den getrennten Vorlagen beantragte, da sonst die Möglichkeit entfalle, frei entscheiden zu können zwischen Ausdehnung der Personenfreizügigkeit mit oder ohne flankierende Massnahmen, stimmte der Ständerat in der Differenzbereinigung der Zusammenfügung mit 27 zu 7 Stimmen zu, worauf die Vorlage von beiden Kammern definitiv verabschiedet werden konnte
[29].
[26] Presse vom 18.5. und 1.6.04. Siehe
SPJ 1999, S. 238 ff. Zur Umsetzung der flankierenden Massnahmen setzte Bundespräsident Deiss Ende Oktober eine Task-Force ein (
NZZ, 29.10.04). Zu den ersten Ergebnissen des Observatorium-Berichts von Seco, BFM und BFS, der keine bedeutenden Auswirkungen auf Arbeitslosigkeit und Lohnniveau feststellte, vgl. Presse vom 29.6.05. Das sahen die Gewerkschaften und Teile der Arbeitgeberschaft allerdings anders. Die meisten Probleme scheinen sich dort zu stellen, wo ausländische Temporärfirmen Personal (insbesondere im Baugewerbe) in die Schweiz vermitteln (
TA, 20.9., 27.10. und 10.12.04;
SGT, 28.9.04; Presse vom 22.10.04. Siehe dazu auch die Stellungnahme des BR zu Fragen im NR (
AB NR, 2004, S. 1402, 1405, 1543 f. und 2195) sowie drei überwiesene Kommissionspostulate des NR, die eine gezieltere Überwachung der Entwicklungen anregten (
AB NR, 2004, S. 2033).
[27]
BBl, 2004, S.
6565 ff.
[28]
AB SR, 2004, S. 731 ff., 744 ff. und 749 ff.
[29]
AB NR, 2004, S. 1974 ff., 2004 ff., 2033 und 2192 f.;
AB SR, 2004, S. 886. Siehe dazu auch oben, Teil I, 2 (Europe: UE).
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