Année politique Suisse 2004 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
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Allgemeine Fragen
Die Komplementärmedizin soll politisch und rechtlich verankert und der Schulmedizin gleichgestellt werden. Das verlangt eine Volksinitiative, die Ende September lanciert wurde. Bund und Kantone sollen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für die umfassende Berücksichtigung der Komplementärmedizin sorgen. Das Volksbegehren will die alternativen Heilmethoden definitiv in der Grundversicherung nach KVG verankern und den Stellenwert der Komplementärmedizin in der Ausbildung, in Lehre und Forschung verbessern. Hinter dem Begehren stehen Organisationen der ärztlichen und nichtärztlichen Komplementärmedizin, Patientenorganisationen, Wissenschafter, Exponenten von Krankenversicherern und Vertreter der nationalen und kantonalen Politik, so etwa die Nationalräte Günter (sp, BE) und Müller (gp, AG), Nationalrätin Hollenstein (gp, SG), Ständerätin Sommaruga (sp,BE) sowie alt Bundesrat Otto Stich [1].
Über ein Drittel der Schweizer Bevölkerung ist übergewichtig. Dieser alarmierende Befund veranlasste das Bundesamt für Gesundheit (BAG), eine Studie zur Abschätzung der medizinischen und volkswirtschaftlichen Kosten der Fettleibigkeit in Auftrag zu geben. Auch vorsichtig geschätzt, betragen diese rund 2,7 Mia Fr. pro Jahr resp. 370 Fr. pro Einwohner. Darin sind die indirekten Kosten (Leiden der Betroffenen und ihrer Angehöriger) nicht enthalten [2].
Frauen verursachen weniger Gesundheitskosten als bisher angenommen. Zu diesem Schluss kam eine Untersuchung des Gesundheitsobservatoriums Schweiz und des BAG. Zwar beziehen Frauen mehr Leistungen als Männer, doch ist die Differenz zu Lasten der Frauen eine Folge der längeren Lebenserwartung sowie der Kosten für Schwangerschaft und Geburt. Auch werden Ausgaben als Folge der Gewalt gegen Frauen (1998: 134 Mio Fr.) einseitig diesen zugeordnet. Stellt man diese Faktoren in Rechnung, so verursachen Frauen auf ein durchschnittliches Lebensjahr bezogen nur geringfügig höhere Kosten als Männer. Andererseits tragen sie weit mehr als die Männer zur Entlastung des Gesundheitswesens bei, da sie zu Hause bedeutend stärker in der Pflege engagiert sind als die Männer [3].
Laut einer weiteren Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums leidet jeder zweite Einwohner der Schweiz zumindest einmal im Leben an einer psychischen Störung; jeder Zehnte begeht einen Selbstmordversuch. Dennoch gebe es keinen Gesundheitsbereich, der durch ähnlich viele Vorurteile geprägt sei. Nur wenn das allgemeine Wissen über psychische Erkrankungen verbessert werde, könnten Störungen rechtzeitig erkannt und adäquat behandelt werden [4].
Im Vorjahr hatte der Ständerat eine Motion verabschiedet, die den Bundesrat beauftragt, Vorschläge für eine gesetzliche Regelung der indirekten aktiven und der passiven Sterbehilfe zu unterbreiten und Massnahmen zur Förderung der Palliativmedizin zu treffen. Der Nationalrat überwies den Vorstoss mit 72 zu 69 Stimmen ebenfalls. Dagegen sprachen sich die Vertreter der SP und der GP aus, weil sie den Motionstext in seiner offenen Formulierung zu unverbindlich fanden und zudem der Meinung waren, dass die Förderung der Palliativmedizin ein Ziel in sich darstelle und es falsch sei, sie in Verbindung mit der Sterbehilfe zu bringen [5].
Die Im Vorjahr ins Leben gerufene Stiftung für Patientensicherheit stand Ende Jahr bereits wieder knapp vor dem Aus. Der Bund hatte ihr 200 000 Fr. als Startkapital für 2004 zugesprochen, diese Unterstützung allerdings an die Auflage geknüpft, dass die Stiftung mittelfristig selbsttragend sein resp. von den Zuschüssen der involvierten Kreise (Kantone, Interessengruppen) finanziert werden müsse. Es gelang nun dem Sekretariat der Stiftung im ersten Betriebsjahr nicht, die Finanzierung sicherzustellen, da insbesondere die Kantone (mit Ausnahme des Tessin) sich mit verbindlichen Zusagen schwer taten [6].
Die nationalrätliche Rechtskommission war 2000 einstimmig mit einer parlamentarischen Initiative beauftragt worden, ein Entschädigungsgesetz für die Opfer von Zwangssterilisationen auszuarbeiten. Die konkrete Umsetzung – die Kommission schlug eine pauschale Genugtuungszahlung von 5000 Fr. pro Fall vor – war nun aber bedeutend umstrittener. Im Einvernehmen mit dem Bundesrat, der kein Präjudiz für spätere anderweitige Wiedergutmachungen an Opfer behördlicher Fehleinschätzungen (beispielsweise ehemalige Verdingkinder oder Zwangsinternierte in der Psychiatrie) schaffen wollte, sprachen sich SVP und FDP gegen die Entschädigungen aus. Es wurde argumentiert, die Zwangssterilisationen seien im Zeitpunkt ihrer Durchführung als angemessen empfunden worden, weshalb Entschädigungszahlungen eine fragwürdige Vergangenheitsbewältigung ohne genügende verfassungsrechtliche Grundlage darstellen würden. SP, Grüne und CVP vertraten hingegen die Auffassung, derart formaljuristische Argumentationen seien rechtsstaatlich unsensibel, der Staat habe die Pflicht, ein in seinem Namen begangenes Unrecht wieder gutzumachen. Mit 91 zu 84 Stimmen wurden die Anträge des Bundesrates sowie eines Vertreters der SVP auf Nichteintreten abgelehnt. Gehör fand der Bundesrat dann aber im Ständerat, der sich mit 28 zu 8 Stimmen gegen Eintreten aussprach, worauf sich der Nationalrat mit 103 zu 66 anschloss.
Unbestritten war in beiden Kammern hingegen das eigentliche Sterilisationsgesetz. Dieses betrifft vor allem die rund 50 000 geistig behinderten Menschen, die in gemischtgeschlechtlichen Heimen leben, in denen Sexualität kein Tabu mehr ist. Um hier unerwünschte Schwangerschaften zu vermeiden, soll die Sterilisation als ultima Ratio zugelassen werden, allerdings unter strengen Bedingungen: sie ist erst ab 18 Jahren möglich und darf nur im Interesse der betroffenen Person vorgenommen werden [7].
Anfang Dezember verschickte der Bund Jodtabletten an alle Haushalte, die im Umkreis von 20 Kilometern eines Atomkraftwerks liegen. Im Notfall sollen sie bei rund 1,2 Mio Menschen eine Verseuchung der Schilddrüse verhindern. Zehn Jahre zuvor hatten nur Haushalte im Umfeld von fünf Kilometern die Jodtabletten als Hausvorrat erhalten. Die Gemeinden, die im Abstand von fünf bis 20 Kilometer liegen, lagerten den Jodvorrat zentral. Abklärungen hatten seither gezeigt, dass mit diesem System die Tabletten nicht rechtzeitig an die Bevölkerung verteilt werden könnten [8].
Die hoch spezialisierte Medizin soll gesamtschweizerisch konzentriert und von den Kantonen gemeinsam geplant werden. Die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren unterbreitete den Kantonen Ende Jahr eine entsprechende Vereinbarung zur Ratifikation. Bis im Herbst 2007 will sie die Standorte für bestimmte Bereiche verbindlich festlegen. Diese Koordination geschieht sowohl im Interesse der Wirtschaftlichkeit als auch der Qualität. Mit der „Interkantonalen Vereinbarung über die Koordination und Konzentration der hoch spezialisierten Medizin“ (IVKKM) werden die Kantone ihre Planungshoheit in der Spitzenmedizin an die GDK abtreten. Durch dieses Vorgehen soll eine Bundeslösung abgewendet werden, wie sie eine 2002 vom Ständerat überwiesene Motion verlangt, die nun vom Nationalrat ebenfalls angenommen wurde [9].
Im November startete im Kanton Tessin ein Pilotversuch mit einer elektronischen Patientenkarte. Rund 2500 Freiwillige aus der Region Lugano erhalten die Gelegenheit, die Karte während anderthalb Jahren zu testen. Jeder Karteninhaber entscheidet selbst, welche Informationen auf dem Mikrochip gespeichert werden. Vorgesehen sind administrative Daten, Gesundheitsinformationen für den Notfall sowie Details der Krankengeschichte (Diagnosen, Röntgenaufnahmen, Labordaten etc.). Damit sollen doppelte und allenfalls sogar widersprüchliche Behandlungen und die damit verbundenen Kosten und gesundheitlichen Beeinträchtigungen vermieden werden. Die Krankenkassen erhalten keinen Einblick in die gespeicherten Daten [10].
Zu Spitälern und Pflegeheimen siehe unten, Teil I, 7c (Krankenversicherung).
 
[1] BBl, 2004, S. 4984 ff.; Presse vom 27.7.04; NZZ, 24.9.04.
[2] Presse vom 3.9.04. Siehe auch die Antwort des BR auf eine Interpellation im NR (AB NR, 2004, Beilagen III, S. 264 ff.). Vgl. SPJ 2002, S. 192.
[3] Lit. Camenzind / Meier; Zusammenfassung in CHSS, 2004, S. 238-242. Zu den Ausführungen des BR bezüglich der 2001 vom Bund eingerichteten Fachstelle „Gender Health“ siehe AB NR, 2004, S. 1030.
[4] Presse vom 9.3.04.
[5] AB NR, 2004, S. 266 ff.; TA, 13.2.04. Vgl. SPJ 2003, S. 204 f. Im Spätsommer kündigte der Direktor des BJ die Einsetzung einer Arbeitsgruppe zu diesen Fragen an (TA, 20.9.04).
[6] NZZ, 27.4. und 21.10.05. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR in AB NR, 2004, S. 1547 und Beilagen V, S. 293 ff.
[7] AB NR, 2004, S. 244 ff., 2108 ff. und 2186; AB SR, 2004, S. 262 ff. und 945; BBl, 2004, S. 7265 ff. Siehe SPJ 2000, S. 196 f.
[8] BaZ, 30.10.04.
[9] AB NR, 2004, S.17 ff.; TA, 27.4.04; Presse vom 2.12.04; NZZ, 18.12.04. Siehe SPJ 2002, S. 196.
[10] NZZ, 30.9.04; TA, 3.11.04; Presse vom 9.11.04. Für die Einführung einer gesamtschweizerischen primär administrativen Versichertenkarte siehe unten, Teil I, 7c (Krankenversicherung). Im NR wurde eine Motion Noser (fdp, ZH) zur Förderung der elektronischen Mittel im Gesundheitswesen bekämpft und deshalb noch nicht behandelt (AB NR, 2004, S. 1740).