Année politique Suisse 2004 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV)
Aufgrund des Handlungsbedarfs in den Sozialversicherungen und des negativen Ergebnisses der Volksabstimmung vom Mai (siehe unten), legte das EDI dem Bundesrat unter dem Titel „Panorama der Sozialversicherungen“ eine Gesamtsicht der Sozialwerke vor. Gestützt auf dieses Aussprachepapier, das sämtliche Sozialversicherungen (mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung) sowie die Familienpolitik umfasste, traf der Bundesrat Ende Juni Richtungsentscheide insbesondere bezüglich AHV und IV.
Der Bundesrat teilte die Einschätzung des EDI, dass sich die finanzielle Situation der AHV ab 2010 rapide verschlechtert, falls keine Massnahmen ergriffen werden, und dass die AHV bis zum Jahre 2025 zusätzliche finanzielle Mittel benötigt, welche ungefähr 3,8 MwSt-Prozentpunkten entsprechen. Er beschloss deshalb, sofort Vorbereitungsarbeiten zu einer weiteren AHV-Revision in Angriff zu nehmen mit der zentralen Vorgabe, dass die Reform die finanzielle Sicherung bis 2020 ermöglichen soll und dabei den bis zu diesem Zeitpunkt erforderlichen Finanzierungsbedarf berücksichtigt. Alternative Szenarien, so etwa ein System basierend auf der Lebensarbeitszeit oder Modelle, die Aspekte wie das Einkommen und die Beschwerlichkeit der Arbeit in Rechnung stellen, sollen mit einbezogen werden. Dieser Entscheid entsprach der Ansicht der AHV-Kommission, welche die Prüfung neuer Kriterien zur Bestimmung des regulären Rentenalters verlangt hatte.
Der Bundesrat ging ebenfalls mit dem EDI einig, dass die
Sanierung der IV im Hinblick auf ihre prekäre finanzielle Situation absolute Priorität hat. Mit der neuen Vorlage zur Erhöhung der Mehrwertsteuer zu Gunsten der IV und mit der 5. IV-Revision (siehe unten) bestünden gute Aussichten, dass die Schulden der IV langsam abgebaut werden können. Der Bundesrat war aber der Ansicht, dass einige in der 5. IV-Revision vorgesehene Massnahmen, so etwa die Einführung eines kostenpflichtigen Verfahrens bei Anfechtung eines IV-Rentenentscheids, dringend umgesetzt werden sollten. Er kam zudem zum Schluss, dass das Thema der Entflechtung des Finanzhaushalts von AHV und IV von jenem des Bundes im Rahmen einer langfristigen Sicherung der AHV aufgegriffen und parallel zu den Massnahmen zur Sanierung der IV behandelt werden soll. Ende Oktober gab er dem EDI und dem EFD den Auftrag, eine Entscheidgrundlage bezüglich der Entflechtung auszuarbeiten
[5].
Im Vorjahr hatte das Parlament einer
Anhebung
der Mehrwertsteuersätze zu Gunsten von AHV und IV zugestimmt. Bei der stark defizitären IV war eine umgehende Erhöhung unbestritten. Kontrovers beurteilt wurde hingegen deren Ausmass. Der Bundesrat hatte einen Prozentpunkt beantragt. Gegen den Willen der Linken und des Bundesrates, welche dies als ungenügend für eine rasche Konsolidierung der
IV taxierten, setzte sich schliesslich in beiden Kammern die bürgerliche Mehrheit mit ihrem Antrag auf lediglich
0,8 Prozentpunkte durch. Noch umstrittener war die Kompetenzerteilung an den Bundesrat, die Mehrwertsteuersätze zu Gunsten der
AHV in zwei Schritten um insgesamt 1,5 Prozentpunkte anheben zu können. Der Ständerat hatte 2002 beschlossen, die Vorlage aufzusplitten und vorerst nur einer Erhöhung für die IV zuzustimmen, den Beschluss für die AHV aber aufzuschieben, bis der zusätzliche Finanzierungsbedarf tatsächlich ausgewiesen ist. Im Nationalrat kritisierten bürgerliche Vertreter ebenfalls die Einführung von „Steuern auf Vorrat“, doch fand sich schliesslich eine knappe Mehrheit für die erneute Zusammenführung der beiden Finanzierungsbeschlüsse. Aus Rücksicht auf die Bedenken des Ständerates wurde aber lediglich eine Erhöhung um
einen Prozentpunkt schätzungsweise ab 2010 gutgeheissen
[6].
Da es sich bei Mehrwertsteueranpassungen um Verfassungsänderungen handelt, unterstand der Finanzierungsbeschluss dem
obligatorischen Referendum. Die Vorlage wurde dem Volk am gleichen Abstimmungswochenende wie die 11. AHV-Revision unterbreitet, gegen welche die Linke das Referendum ergriffen hatte (siehe unten). Obgleich die FDP-Fraktion der Finanzierungsvorlage als Teil eines ausgewogenen Ganzen zugestimmt hatte, bröckelte die freisinnige Zustimmung angesichts der Opposition der Wirtschaft in den Wochen vor der Abstimmung zusehends. Schliesslich gab die Partei die Nein-Parole aus. Als Hauptargument nannte sie ihre Ablehnung von
„Steuern auf Vorrat“ sowie das Zustandekommen des Referendums gegen die 11. AHV-Revision. Beobachter bezeichneten die Begründung allerdings als etwas fragwürdig: Das Mehrwertsteuerprozent sollte erst erhoben werden, wenn es wegen der demographischen Entwicklung wirklich nötig ist. Zudem hätte die tatsächliche Einführung einen Parlamentsbeschluss benötigt, gegen den das Referendum hätte ergriffen werden können. Die SVP hatte von Anbeginn erklärt, dass sie die Mehrwertsteuererhöhung bekämpfen werde und zur Sicherung der AHV-Finanzierung auf das Nationalbankgold setzen wolle. Als dann auch noch ein Teil der Gewerkschaftsbewegung ein Fragezeichen hinter die „unsoziale“ Erhöhung der Mehrwertsteuer setzte, schien das Schicksal der Vorlage besiegelt. Es zeigte sich, dass es fatal gewesen war, die beiden Finanzierungsbeschlüsse zu AHV und IV nicht aufzusplitten, wie dies der Ständerat vorerst angeregt hatte; eine differenzierte Stimmabgabe war unter diesen Voraussetzungen nicht möglich
[7].
In der Volksabstimmung vom 16. Mai wurde die Mehrwertsteuererhöhung mit über 68% Nein-Stimmen
wuchtig verworfen. Am deutlichsten erfolgte die Ablehnung im Kanton Jura, wo nur 18,9% der Stimmenden ein Ja in die Urne legten. Es folgten die Kantone Wallis (20%) sowie Nid- und Obwalden mit 21,7 resp. 22,7%. Am höchsten war der Ja-Stimmenanteil im Kanton Basel-Stadt mit 39,3%, gefolgt von Zürich (36,6%) und Bern (34,1%)
[8].
Anhebung der Mehrwertsteuersätze zu Gunsten von AHV und IV
Abstimmung vom 16. Mai 2004
Beteiligung: 50,8%
Ja: 756 550 (31,4%) / 0 Stände
Nein: 1 651 347 (68,6%) / 20 6/2 Stände
Parolen:
– Ja: SP, GP, CVP, CSP, EVP; SGB, Travail.Suisse, SBV
– Nein: FDP, SVP, LPS, PdA, EDU, SD, Lega; Economiesuisse, SGV
– Stimmenthaltung: SAGV
Gemäss
Vox-Analyse erwiesen sich allein die politischen Faktoren einigermassen entscheidend für das Abstimmungsverhalten, während Alter, Geschlecht, Landesteil oder Siedlungsform kaum ins Gewicht fielen. 51% der Stimmenden, die sich mit der SP identifizieren, nahmen die MwSt-Anhebung an, während sich die Gefolgschaften von FDP und (noch stärker) SVP an die jeweiligen Parteiparolen hielten und die Vorlage klar ablehnten. In der Gruppe jener, die der CVP nahe stehen, stimmten rund 43% zu. Bei der Nennung der Motive zeigte sich, dass das Nein in erster Linie ein
„Portemonnaie“-Entscheid“ war
[9].
Gegen die 11. AHV-Revision hatte der SGB im Vorjahr mit Unterstützung von SP, GP und Travail.suisse das
Referendum ergriffen und mit in Rekordzeit gesammelten über 150 000 Unterschriften eingereicht. Im Abstimmungskampf standen sich zwei klar abgesteckte Lager gegenüber. Auf der einen Seite das links-grün-gewerkschaftliche, welches die Revision mit der Erhöhung des Frauenrentenalters, den Abstrichen bei der Witwenrente, dem verlangsamten Teuerungsausgleich sowie dem nicht eingehaltenen Versprechen auf eine sozial abgefederte Frühpensionierung als reine „Sozialabbauvorlage“
bezeichnete, auf der anderen Seite die bürgerlichen Parteien, für welche die Revision einen dringend notwendigen Beitrag zur Sicherung der Sozialwerke darstellte. Im Vorfeld der Abstimmung vom 16. Mai gaben die meisten Beobachter der Revision nur geringe Erfolgschancen. Das Ausmass der Ablehnung –
über zwei Drittel Nein-Stimmen – erstaunte dennoch. In sämtlichen Kantonen wurde die Voralge verworfen. Am deutlichsten war die Verweigerung im Kanton Jura mit lediglich 13,6% Ja-Stimmen, gefolgt vom Wallis (17,6%) und dem Kanton Neuenburg (21%). Am meisten Zustimmung fand die Revision in den Kantonen Appenzell Innerrhoden (45,9%), Appenzell Ausserrhoden (41,1%) und Nidwalden (40,1%)
[10]. Während im links-grünen Lager der deutliche Entscheid mit grossem Jubel aufgenommen wurde, da er zeige, dass sich das Volk einem Rentenabbau widersetze, versuchten die Vertreter des bürgerlichen Lagers, die Bedeutung ihrer Niederlage herunter zu spielen. Einig war man sich allerdings, dass das von Bundesrat Couchepin in die Diskussion gebrachte Rentenalter 67 praktisch vom Tisch sei; es könne nur noch darum gehen, das AHV-Alter, das heute faktisch bei 62 Jahren liegt, durch geeignete Massnahmen wieder an die gesetzlich vorgesehenen 65 Jahre anzunähern
[11].
11. AHV-Revision
Abstimmung vom 16. Mai 2004
Beteiligung: 50,8%
Ja: 772 773 (32,1%)
Nein: 1 634 572 (67,9%)
Parolen:
– Ja: FDP, SVP, CVP, LPS, EDU; Economiesuisse, SAGV, SGV, SBV.
– Nein: SP, GP, CSP, EVP, Lega; SGB, Travail.suisse
In der
Vox-Analyse dieses Urnengangs erschien die
parteipolitische Positionierung als das dominante Erklärungsmoment für den Stimmentscheid. Mit 83% Nein verwarfen die Sympathisanten der SP die Revision wuchtig. Die FDP konnte eine Mehrheit (56%) ihrer Anhängerschaft von ihrer Ja-Parole überzeugen. Dies gelang der CVP lediglich zu 46% und der SVP sogar nur zu 41%. Die Deutschschweiz stimmte mit 35% Ja-Stimmen eher zu als die Welschschweiz (25%), doch war der Unterschied nicht mehr so relevant wie in früheren Abstimmungen zur AHV. Anders als bei der 10. AHV-Revision nahmen die Männer mit 38% Ja deutlich stärker an als die Frauen (25%), wobei der Unterschied (ausser bei den über 70-Jährigen) linear mit dem Alter zunahm. Die 50- bis 59-jährigen Männer nahmen die Revision sogar knapp an, während die Frauen der gleichen Altersklasse sie zu 80% ablehnten. Als Entscheidmotiv wurde von den Befürwortern mehrheitlich die Sicherung der Sozialwerke genannt; die Gründe der Gegner waren weniger einheitlich, artikulierten aber doch zu einem grossen Teil die Sorge um die Errungenschaften des Sozialstaats
[12].
[5]
SHZ, 3.3.04;
TA, 3.6.04;
NZZ, 10.6.04; Presse vom 1.7. und 30.10.04. Der NR überwies stillschweigend ein Postulat Meyer Thérèse (cvp, FR), welches den BR auffordert, ein Modell zur Flexibilisierung des Rentenalters auszuarbeiten, das sowohl die Beitragsjahre aufgrund einer regulären Erwerbstätigkeit als auch die Höhe der Rente berücksichtigt und die Flexibilisierung des Rentenalters gezielt fördert (
AB NR, 2004, S. 1743). Modell „Lebensarbeitszeit“:
TA, 19.5.04; Presse vom 17.6.04. Idee Couchepins, das Rentenalter an das Einkommen zu koppeln:
NLZ, 8.6.04;
BZ, 9.6.04;
NZZ, 28.6.04;
TA, 10.12.04. Flexibilisierungsmodell SGB:
NZZ, 6.7. und 14.9.04. SAGV für Rentenalter 66:
NZZ, 23.11.04. Eine Motion des SR, welche die Entflechtung verlangt, wurde im Berichtsjahr vom NR noch nicht behandelt (
SPJ 2003, S. 226 f.). Ein Postulat Walker (cvp, SG), das eine mit der Schuldenbremse kompatible Entflechtung anstrebt, wurde bekämpft und dessen Behandlung deshalb verschoben (Po. 03.3659).
[6] Siehe
SPJ 2002, S. 215
und
2003, S. 225 f.
[7] FDP und Wirtschaft:
TA, 29.1.04;
NZZ, 5.2.04. Kampagne: Presse vom 20.2.-15.5. und 17.5.04. Zum Notenbankgold siehe oben, Teil I, 4b (Geld- und Währungspolitik).
[8]
BBl, 2004, S.
3943 ff.
[9] Engeli, Isabelle,
Analyse der eidg. Abstimmungen vom 16. Mai 2004, VOX Nr. 83, gfs.bern und Institut für Politikwissenschaft, Universität Genf, Genf 2004.
[10]
BBl, 2004, S.
740
und
3943 ff.; Presse vom 20.2.-15.5. und vom 17.5.04. Alt Bundesrätin Dreifuss durchbrach ihre sonstige Reserve und engagierte sich gegen die Revision (
BZ, 24.4.04). Siehe
SPJ 2003, S. 225 ff.
[11] Presse vom 17.5. und 18.5.04.
[12] Engeli, Isabelle,
Analyse der eidg. Abstimmungen vom 16. Mai 2004, VOX Nr. 83, gfs.bern und Institut für Politikwissenschaft, Universität Genf, Genf 2004.
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