Année politique Suisse 2004 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Berufliche Vorsorge
Ende August nahm der Bundesrat von den Berichten und Empfehlungen zweier im Vorjahr eingesetzter Expertenkommissionen zu Systemfragen in der beruflichen Vorsorge Kenntnis. Aufgrund der vorliegenden Resultate fällte er die Grundsatzentscheide für die nächste Etappe der Strukturreform. Die Expertengruppen sollen zusammengeführt werden und bis 2007 drei Vernehmlassungsvorlagen ausarbeiten. Zentrales Element ist die Schaffung zusätzlicher Aufsichtsinstrumente, die ein frühzeitigeres Agieren bei unvorteilhafter Entwicklung der Finanz- und Anlagemärkte ermöglichen. Die Aufsichtsstruktur soll generell gestrafft und die heute parallelen Kompetenzen von Bund und Kantonen in der direkten Aufsicht eliminiert werden. Wie bisher soll die Vorsorgeaufsicht von der Versicherungsaufsicht getrennt sein und nicht in die geplante Finanzmarktaufsicht über Banken und Versicherungen integriert werden [19].
Ab 2002 war die Koordination des Frauenrentenalters zwischen der 1. und der 2. Säule durch den dringlichen, vom Parlament 2001 verabschiedeten Bundesbeschluss zur Weiterversicherung von erwerbstätigen Frauen in der beruflichen Vorsorge gewährleistet. Dessen Gültigkeit lief Ende 2004 aus. Die zur Vereinheitlichung des Frauenrentenalters erforderlichen Anpassungen waren im Rahmen der 11. AHV-Revision geregelt, die in der Volksabstimmung vom Mai aber abgelehnt wurde (siehe oben). Mit einer Verordnungsänderung setzte der Bundesrat deshalb das ordentliche Rentenalter der Frauen in der 2. Säule ab 2005 auf 64 Jahre fest [20].
Die den Bundesrat in Fragen der Durchführung und Weiterentwicklung der beruflichen Vorsorge beratende BVG-Kommission empfahl der Regierung, den aktuellen Mindestzinssatz von 2,25% 2005 weiterzuführen. Trotz der positiven Börsenentwicklung erlaubten das Ausmass der bestehenden Unterdeckungen und die eingeschränkte Risikofähigkeit zahlreicher Vorsorgeeinrichtungen vorderhand keine Erhöhung. Anderer Auffassung war die SGK des Ständerates, die sich für 2,5% entschied. Die nationalrätliche Schwesterkommission sprach sich sogar für 2,75% aus. Da er die Erholung des Börsenmarktes als positives Indiz für eine mittelfristige Entwicklung wertete, den Vorsorgeeinrichtungen aber die Möglichkeit einräumen wollte, wieder Schwankungsreserven aufzubauen, wählte der der Bundesrat den Mittelweg und entschied, den Mindestzinssatz per 1.1.2005 auf 2,5% anzuheben [21].
Bei den gesetzlichen Vorschlägen zur Sanierung von Pensionskassen in Unterdeckung schloss sich der Nationalrat in den wesentlichen Punkten dem Ständerat an. Er sprach sich aber mit 89 (SP, GP, Mehrheit der CVP und einzelne Mitglieder der FDP) zu 85 Stimmen knapp dagegen aus, dass die angeschlagenen Pensionskassen die obligatorisch versicherten Altersguthaben tiefer als zum jeweils geltenden Mindestzinssatz verzinsen dürfen; nicht bestritten war, dass die Pensionskassen im überobligatorischen Bereich diesbezüglich frei sind. Ein Antrag der CVP, den Rentnerinnen und Rentnern Einsitz im Stiftungsrat der Vorsorgeeinrichtung zu gewähren, damit sie sich auch an den Entscheiden über Sanierungsbeiträge beteiligen können, wurde mit 158 zu 15 Stimmen abgelehnt. Grundsätzlich wurde aber eine verstärkte Mitsprache der bereits Pensionierten mit 120 zu 5 Stimmen gutgeheissen [22].
Der Ständerat blieb in der Differenzbereinigung im Grundsatz bei seinem Entscheid, milderte die Rentenkürzungen allerdings etwas ab und entschied mit 22 zu 19 Stimmen, dass Pensionskassen während höchstens fünf Jahren den jeweils geltenden Mindestzinssatz unterschreiten dürfen, wenn die anderen Sanierungsmassnahmen nicht genügen, um die Unterdeckung zu beheben. Von einem verstärkten Mitspracherecht der Rentnerinnen und Rentner wollte er erneut nichts wissen. Der Nationalrat liess sich nicht umstimmen und hielt mit 95 zu 87 resp. 97 zu 83 Stimmen in beiden Punkten an seiner Haltung fest. In der zweiten Runde der Differenzbereinigung schloss sich der Nationalrat beim Mitspracherecht der Pensionierten der kleinen Kammer an, beharrte aber mit 76 zu 74 Stimmen auf seinem Entscheid beim Mindestzinssatz. Die Einigungskonferenz schlug als Brücke eine zusätzliche Bestimmung vor, wonach die fünfjährige Unterschreitung maximal 0,5 Prozentpunkte betragen darf. Diesen Kompromiss hiessen beide Kammern diskussionslos gut. In der Schlussabstimmung wurden die Sanierungsmassnahmen sowohl im Stände- wie im Nationalrat einstimmig angenommen [23].
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Erste BVG-Revision
Der Bundesrat entschied, die im Vorjahr verabschiedete 1. BVG-Revision in drei Schritten in Kraft zu setzen. Er folgte damit dem Willen des Parlaments, das eine rasche Umsetzung verlangt hatte, damit die Versicherten wieder Vertrauen in diesen arg gebeutelten Zweig des Sozialversicherungssystems fassen. Die Massnahmen bezüglich grösserer Transparenz traten bereits auf den 1. April in Kraft. Sie betreffen die Verstärkung der paritätischen Verwaltung bei den Sammelstiftungen, die Vereinheitlichung der Normen der Rechnungsführung, die Verpflichtung für die Versicherer, eine separate Rechnung für die von ihnen betriebenen Sammelstiftungen zu führen sowie eine Informationspflicht der Versicherer gegenüber den Sammelstiftungen. Für den Fall einer Auflösung von Versicherungsverträgen zwischen Versicherern und Vorsorgestiftungen gibt es neu Bestimmungen, die den Interessen der Versicherten und ihren Vorsorgeguthaben besser Rechnung tragen. Die Pensionskassen hatten bis Ende 2004 Zeit, ihre Reglemente und Infrastrukturen an die neuen gesetzlichen Anforderungen anzupassen [24].
Die zweite Etappe der Revision wurde auf den 1.1.2005 in Kraft gesetzt. Mit Ausnahme der Bestimmungen über den Begriff der beruflichen Vorsorge und den Einkauf wurden damit alle in der 1. BVG-Revision vorgenommenen Änderungen umgesetzt. In den entsprechenden Verordnungen legte der Bundesrat die Grundsätze fest, die eine Vorsorgeeinrichtung bei einer Liquidation zu berücksichtigen hat, insbesondere bezüglich der Verteilung der Reserven. Ferner wurden die Grundsätze präzisiert, welche die Verwalter der Vorsorgeeinrichtung bei der Vermögensanlage und -verwaltung zu beachten haben. Zentrale Elemente dieses zweiten Pakets sind die schrittweise Senkung des Umwandlungssatzes von 7,2 auf 6,8%, um der höheren Lebenserwartung der Versicherten Rechnung zu tragen, sowie das Absenken der Eintrittsschwelle und des Koordinationsabzugs; damit wird auch tieferen Einkommen der Eintritt in die berufliche Vorsorge ermöglicht [25].
 
[19] Presse vom 26.8.04; Kottmann, Helene, „Ergebnisse der Expertenkommission ‚Optimierung der Aufsicht in der beruflichen Vorsorge’“, in CHSS, 2004, S. 365-370. Mehrere Kantone folgten einer Empfehlung des Bundes und beschlossen, gemeinsame Aufsichtsbehörden für Pensionskassen und Stiftungen zu schaffen (NZZ, 16.9.04).
[20] Presse vom 3.7.04.
[21] Presse vom 14.5., 3.7. und 2.9.04. Zur Forderung, die Festsetzung des Mindestzinssatzes zu entpolitisieren und nach einer versicherungsmathematischen Formel zu berechnen, siehe TA, 26.6.04; AZ, 23.11.04; SHZ, 24.11.04. Da unter den Vertragskündigungen des letzten Jahres durch die Versicherungsgesellschaften, welche dann Anschlussverträge zu schlechteren Konditionen anboten, v.a. die in Sammelstiftungen zusammengeschlossenen KMU zu leiden hatten, hiess der SR eine Motion seiner SGK gut, die den BR verpflichten will, durch Gesetzes- oder Verordnungsänderungen den Schutz der KMU zu verbessern (AB SR, 2004, S. 207 f.). Vgl. SPJ 2003, S. 231 f.
[22] AB NR, 2004, S. 3 ff. Siehe auch zwei Ip. im NR zur Ungleichbehandlung im obligatorischen und überobligatorischen Bereich (AB NR, 2004, Beilagen I, S. 227 ff. und 321 ff.). Anschliessend an seine Beratungen überwies der NR mit grossem Mehr eine Motion des SR, die den BR verpflichtet, einen Gesetzesentwurf zu Sanierungsmassnahmen auch bei den öffentlichen Kassen vorzulegen: AB NR, 2004, S. 15 ff.; SPJ 2003, S. 231. Zum Bericht des BSV über die Unterdeckung der Pensionskassen Ende 2003 siehe Presse vom 7.12.04. Zur Performance 2004, die 4,2% betrug, siehe Presse vom 8.3.05.
[23] AB SR, 2004, S. 60 ff., 140 ff., 304 und 438; AB NR, 2004, S. 290 ff., 790 ff.,1037 f. und 1237. Die neuen Gesetzesbestimmungen treten auf den 1.1.2005 in Kraft (Presse vom 28.10.04). Zu einem BG-Urteil, das entgegen der Auffassung des BR Risikoprämien zur Absicherung von Mindestzinssatz und Umwandlungssatz für gesetzeskonform erklärte, siehe NZZ, 29.4.04. Zu dringlichen Massnahmen bei der Pensionskasse des Bundes vgl. oben, Teil I, 1c (Verwaltung). Für Forderungen nach einer hälftig vom Steuerzahler finanzierten Pensionskasse für Landwirte siehe oben Teil I, 4c (Politique des revenus).
[24] Presse vom 25.3.04; CHSS, 2004, S. 225-228. Für eine im Auftrag der GPK des NR erstellte Studie, die zum Schluss kam, aufgrund der mangelhaften Datenlage der Versicherer, des BPV und des BSV sei es nicht möglich, den Vorwurf des „Rentenklaus“ weder zu beweisen noch zu widerlegen, siehe Presse vom 23.6.04. Zur Revision des Versicherungsaufsichtsgesetzes vgl. oben, Teil I, 4, (Banken, Börsen und Versicherungen). Für die 1. BVG-Revision siehe SPJ 2003, S. 233 f.
[25] Presse vom 3.7.05; TA, 31.12.04; CHSS, 2004, S. 294-298. Der NR überwies eine Motion des SR, die verlangt, dass der Umwandlungssatz auf seine technischen Grundlagen überprüft und soweit erforderlich den realen Voraussetzungen angeglichen werden soll (AB NR, 2004, S. 1900). Siehe SPJ 2003, S. 233.