Année politique Suisse 2004 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Bezahlter Mutterschaftsurlaub
Das von der SVP ergriffene Referendum gegen die Öffnung der Erwerbsersatzordnung für Frauen bei Mutterschaft, welche für (unselbständig und selbständig) erwerbstätige Frauen eine Lohnfortzahlung während 14 Wochen von 80% des letzten massgebenden Lohnes sicherstellt, beschränkt allerdings auf maximal 172 Fr. pro Tag, kam trotz fehlender Unterstützung durch die Wirtschaft mit etwas über 70 000 Unterschriften zustande [49].
Im Abstimmungskampf begründeten die Gegner, zu denen auch die SVP-Frauen Schweiz sowie einige rechtsbürgerliche Abweichler aus der FDP gehörten, ihre Ablehnung vor allem mit dem ordnungspolitischen Argument, dass kein weiterer Ausbau des Sozialversicherungssystems mehr erfolgen dürfe. Sie machten geltend, die Geburtskosten seien durch das KVG abgedeckt, weshalb der über 50-jährige Verfassungsauftrag zum Mutterschutz erfüllt sei. Kinder seien zudem eine Privatsache; ihre Polemik gegen die Gesetzesänderung gipfelte denn auch im Begriff der „Staatskinder“, die es zu verhindern gelte. Zudem bemängelten sie, dass lediglich erwerbstätige Mütter in den Genuss von Leistungen kämen. Letztere Begründung war besonders bemerkenswert, da die gleichen Gegner 1999 die Vorlage einer Mutterschaftsversicherung gerade deshalb bekämpft hatten, weil auch die nichterwerbstätigen Mütter einbezogen werden sollten. Die Befürworter, mit Ausnahme der SD und der Lega alle anderen Parteien, machten für ihre Unterstützung den nie eingelösten Verfassungsauftrag von 1945 geltend sowie Anliegen der Familien- und der Gleichstellungspolitik. Sie unterstrichen, dass es sich eben gerade nicht um eine neue Sozialversicherung handle, sondern um die Ausdehnung der bestehenden EO, an welche die erwerbstätigen Frauen seit jeher Lohnbeiträge bezahlen, in den allermeisten Fällen ohne je Leistungen daraus zu beziehen.
Uneinheitlich war die Haltung der Wirtschaft, die fünf Jahre zuvor massiv zum Scheitern einer Mutterschaftsversicherung beigetragen hatte. Der Arbeitgeberverband anerkannte zwar, dass unter dem Strich die Wirtschaft eher entlastet würde, angesichts der starken ordnungspolitischen Opposition in seinen Reihen beschloss er aber Stimmfreigabe. Economiesuisse war mehrheitlich ablehnend eingestellt, wollte sich aber nicht exponieren und gab die Stimme ebenfalls frei. Der Vorstand des Gewerbeverbandes, dessen Direktor, Pierre Triponez (fdp, BE), zusammen mit Frauen aus den anderen Bundesratsparteien die nun vorliegende Lösung initiiert hatte, stellte sich klar hinter die Vorlage, konnte aber nicht die ganze Basis um sich scharen [50].
In der Volksabstimmung vom 26. September wurde die Gesetzesänderung mit 55,5% Ja-Stimmen klar angenommen. Am deutlichsten stimmten die Westschweizer Kantone Waadt (81,1% Ja), Jura (79,6%), Genf (79,5%) und Neuenburg (74,7%) sowie das Tessin (66,7%) zu, am schwächsten der Kanton Appenzell Innerrhoden (26,9%), gefolgt von Schwyz (32,3%) und Glarus (34,2%). Von den 17 Städten mit mehr als 30 000 Einwohnern lehnte einzig Schaffhausen den bezahlten Mutterschaftsurlaub ab, ein deutliches Zeichen, dass im urbanen Milieu heute die Berufstätigkeit der Frauen eine Selbstverständlichkeit ist, welche auch die Einstellung zur Frage des Erwerbsersatzes geprägt hat [51].
Bezahlter Mutterschaftsurlaub
Abstimmung vom 26. September 2004

Beteiligung: 53,8%
Ja: 1 417 159 (55,5%)
Nein: 1 138 580 (44,5%)
Parolen:
Ja: FDP, CVP, SP, GP, LPS, CSP, EVP, EDU, PdA; SGB, Travail.Suisse, KV Schweiz; SGV, Gastrosuisse
Nein: SVP (2*), SD, Lega
Stimmenthaltung: Economiesuisse, SAGV

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Gemäss Vox-Analyse verhalf vor allem das gegenüber 1999 veränderte Abstimmungsverhalten der Männer der Vorlage zum Durchbruch. Während in der letzten Abstimmung lediglich 41% der Männer für einen bezahlten Mutterschaftsurlaub votiert hatten, waren es diesmal 61%. Der Ja-Stimmenanteil der Frauen stieg von 44 auf 52%. Mit 81% am deutlichsten nahm die Generation der 18- bis 29-Jährigen die Vorlage an. Der „Röstigraben“ brach weniger stark auf als 1999. Gleich wie damals nahm die lateinische Schweiz die Vorlage deutlich an, während die Deutschschweiz sie ablehnte, diesmal allerdings nur knapp mit 51% Nein-Stimmen (1999: 71%). Die Annäherung der Sprachregionen war darauf zurückzuführen, dass die kleinen und mittleren deutschschweizerischen Städte dem bezahlten Mutterschaftsurlaub jetzt klar zustimmten. Die Sympathisanten der SVP legten zu 86% ein Nein in die Urne, jene der SP zu 97% ein Ja. Die Anhängerschaften der FDP und CVP nahmen die Vorlage an, allerdings nicht sehr deutlich. Als Hauptmotive für die Zustimmung wurden Gründe der sozialen Gerechtigkeit, des nicht eingelösten Verfassungsauftrags und der Familienpolitik genannt [52].
 
[49] BBl, 2004, S. 879 f. Siehe SPJ 2003, S. 240 f. Zu den gleichzeitig vorgenommenen Verbesserungen für Dienstleistende in Militär und Zivildienst siehe oben, Erwerbsersatzordnung.
[50] TA, 23.1. (SAGV und Economiesuisse) und 6.2.04 (Frauenvertreterinnen der Parteien); Bund und SGT, 13.2.04 (SGV); NZZ, 23.6.04 (Fachkommissionen); Presse vom 29.6.-25.9.04 (Kampagne), insbesondere NZZ, 21.7.04 (Parteifrauen); SHZ, 29.7.04 (SVP BE und VD); NZZ, 5.8.04 (Opposition im SGV); Bund, 14.8.04 (Bauern). Die Befürworter erhielten prominente Unterstützung von den drei früheren Bundesrätinnen Dreifuss (sp), Kopp (fdp) und Metzler (cvp), denen sich über 60 ehemalige Parlamentarierinnen anschlossen (BaZ, 12.8.04; LT, 18.8.04; TG, 6.9.04).
[51] BBl, 2004, S. 6641 ff. Die Gesetzesänderung wird Mitte 2005 in Kraft treten (Presse vom 25.11.04) und stellt grosszügigere Regelungen wie etwa im Kt. Genf nicht in Frage (LT, 17.7.04; TA, 10.9.04). Siehe auch die Ausführungen des BR zu einer Frage im NR (AB NR, 2004, S. 1546).
[52] Allenspach, Dominik / Kopp, Laura / Milic, Thomas, Analyse der eidg. Abstimmungen vom 26. September 2004, VOX Nr. 84, gfs.bern und Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich, Zürich 2004.