Année politique Suisse 2004 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Flüchtlingspolitik
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Vollzug
In Umsetzung des Entlastungsprogramms 03 wurden ab dem 1. April Personen mit einem rechtskräftigen Nichteintretensentscheid (NEE) aus dem Sozialhilfesystem des Asylbereichs ausgeschlossen. Diese Personen gelten als Ausländer und Ausländerinnen mit illegalem Aufenthalt und haben die Schweiz grundsätzlich zu verlassen, wobei dies wegen mangelnder Ausweispapiere oft nicht möglich ist. Mit dem Fürsorgestopp soll Druck auf sie ausgeübt werden, bei der Papierbeschaffung aktiv mitzuwirken. Gemäss Art. 12 der Bundesverfassung haben sie aber auf Verlangen Anspruch auf Nothilfe, falls sie nicht in der Lage sind, für sich selber zu sorgen. Für die Ausrichtung der Nothilfe sind die Kantone zuständig. Der Bund entschädigt die Kantone pro Person mit einer einmaligen Nothilfepauschalen sowie im Fall eines begleitenden Vollzugs mit einer Vollzugspauschale [15].
Gemeinsam mit den Kantonen überprüfte das BFF die Auswirkungen des NEE in den Bereichen Nothilfe und öffentliche Sicherheit quartalsweise in einem gesamtschweizerischen Monitoring. Von April bis Juni wurden 1788 NEE rechtskräftig. 273 Personen (15%) erhielten Nothilfe der Kantone. Die erfassten Kosten für individuelle Nothilfe beliefen sich während der ersten drei Monate auf rund 162 000 Fr. In 13 Kantonen wurden zudem Nothilfestrukturen errichtet, welche Kosten von knapp 450 000 Fr. verursachten. Die Strukturkosten werden vom Bund nicht abgegolten. Im dritten Quartal (Juli bis September) wurden 1185 Nichteintretensentscheide rechtskräftig. Für 465 dieser Personen richteten die Kantone Nothilfe aus, was zusammen mit den Fällen der Vormonate zu Kosten von knapp 520 000 Fr. führte. In zusätzliche Nothilfestrukturen flossen rund 665 000 Fr. Eine nennenswerte Zunahme der Kriminalität der von einem NEE betroffenen Personen konnte nicht festgestellt werden. Wie das BFF eingestehen musste, führte der Fürsorgestopp aber nur in den wenigsten Fällen zu einer kontrollierten Ausreise. Die meisten Betroffenen tauchten ab [16].
Ab dem Spätherbst mussten sich die Gerichte mit der Ausgestaltung der Nothilfe befassen. Im Kanton Bern stützte das Verwaltungsgericht eine Beschwerde von fünf Asylbewerbern mit NEE, denen wegen mangelnder Kooperation bei der Papierbeschaffung die Nothilfe entzogen worden war. Im Kanton Solothurn entscheid das Verwaltungsgericht gerade umgekehrt, worauf der Fall ans Bundesgericht weitergezogen wurde. Dieses entschied Ende Jahr superprovisorisch, dass während der Dauer dieses bundesgerichtlichen Verfahrens die Nothilfe weiterhin gewährt werden muss [17].
Das BFF beschloss, ein Rückkehrhilfeprogramm zur Förderung der freiwilligen Rückkehr in die Demokratische Republik Kongo anzubieten. Das Programm wurde in Zusammenarbeit mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und der DEZA entwickelt. Die finanzielle Starthilfe beträgt 2000 Fr. pro erwachsene und 1000 Fr. pro minderjährige Person; zusätzlich können Beiträge für Kleinprojekte oder Ausbildungsmassnahmen gewährt werden. Das Rückhilfeprogramm Balkan wurde für besonders bedürftige Personen bis Ende 2005 verlängert. Es richtet sich primär an Personen, die aufgrund ihres Alters sowie medizinischer oder sozialer Probleme bisher nicht ausgeschafft wurden. Für diesen Personenkreis werden mit individuellen, bedarfsorientierten Massnahmen in den Bereichen Wohnraum, Gesundheit, Betreuung und berufliche Integration die Voraussetzungen für eine nachhaltige Wiedereingliederung in der Heimat geschaffen [18].
2001, auf dem Höhepunkt der Diskussionen um die „Papierlosen“ (oft abgewiesene Asylbewerber, die nicht in ihre Heimat zurückkehren können oder wollen, die aber auch nicht als Gruppe vorläufig aufgenommen wurden) hatte Bundesrätin Metzler eine Härtefallregelung erlassen. Unter gewissen Bedingungen (lange Aufenthaltsdauer in der Schweiz, fortgeschrittene Integration, gute Führung) konnten die Kantone für diese Fälle beim Bund eine humanitäre Aufnahme beantragen. Die Kantone verhielten sich ganz unterschiedlich. Am meisten Gesuche reichte der Kanton Waadt ein, von denen rund 800 bewilligt wurden. Aber auch die anderen Westschweizer Kantone machten oft von der Möglichkeit Gebrauch, während mehrere Deutschschweizer Kantone wie Zürich, Aargau und die beiden Basel das Instrument nie benutzten. Bis Mitte August des Berichtsjahres wurden 1849 Gesuche gestellt, 625 bewilligt und 999 abgelehnt. Ohne vorgängige Konsultation der Kantone und ohne Begründung setzte Bundesrat Blocher nun per Ende Jahr die Härtefallregelung kurzerhand ausser Kraft [19].
Künftig sollen in der ganzen Schweiz gleiche Regeln gelten, wenn Ausländer, insbesondere abgewiesene Asylbewerber, zwangsweise ausgeschafft werden. Der Bundesrat schickte Ende November einen entsprechenden Gesetzesentwurf in die Vernehmlassung. Grundsätzlich soll bei einem Einsatz die Verhältnismässigkeit der angewendeten Mittel gewahrt werden. Massnahmen, welche die Gesundheit gefährden könnten, sind nicht erlaubt. Ursprung der so genannten Bundesregelung für Rückführungen waren Verletzungen und Todesfälle bei zwangsweisen Ausschaffungen von Ausländern. Im Jahre 2002 hatte die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren als Sofortmassnahme Empfehlungen für die Ausschaffungspraxis veröffentlicht. Zugleich war das EJPD aufgefordert worden, eine Bundesregelung auszuarbeiten [20].
Im Kanton Waadt, der sich während Jahren aus humanitären Gründen geweigert hatte, gewisse abgewiesene Asylbewerber auszuweisen, zeichnete sich auf Regierungsebene eine Trendwende ab. Anfang Jahr fand ein Treffen zwischen Bundesrat Blocher und Vertretern der Waadtländer Regierung statt, um das Schicksal der noch pendenten Fälle vor allem aus dem ehemaligen Jugoslawien zu regeln. Gegen den Verzicht des Kantons auf eine Globallösung und seine Zusage, die Ausschaffungen der definitiv abgewiesenen Personen auch zu vollziehen, erklärte sich der Bundesrat bereit, jedes einzelne Dossier noch einmal durch das BFF vertieft prüfen zu lassen. 523 abgewiesene Asylbewerber fanden keine Gnade beim Bund. Die Waadtländer Regierung zeigte sich entschlossen, die Ausschaffungen auch gegen den Willen des von den Bürgerlichen dominierten Kantonsparlaments vorzunehmen, das eine Resolution an die Exekutive verabschiedete, welche die Einhaltung humanitärer Prinzipien einforderte. Auch in der Bevölkerung regte sich zunehmender Widerstand. Die beiden Waadtländer FDP-Vertreter im Nationalrat, Christen und Favre, setzten sich ebenfalls für eine differenziertere Sichtweise ein. Dennoch wurden die Rückführungen eingeleitet. Bundesrätin Calmy-Rey veranlasste, dass den Weggewiesenen zumindest eine Rückkehrhilfe durch die DEZA gewährt wurde [21].
 
[15] Siehe SPJ 2003, S. 247 ff.
[16] NZZ, 25.3. (Verordnungsänderungen), 30.3. (Empfehlungen der SODK zur Nothilfe), 13.5. und 9.9.04; Bund, 25.3.04; TA, 1.6. und 4.11.04; Presse vom 29.10.04 und 28.1.05 (Monitoringberichte). In den Zahlen des 3. Quartals waren die Ausgaben des Kantons ZH nicht enthalten. Noch offene Rechnungen im Gesundheitsbereich könnten die effektiven Kosten weiter anwachsen lassen. Siehe dazu auch die Ip. 04.3754.
[17] Bern: NZZ, 16.11.04. Solothurn: Presse vom 19.11., 18.12. und 29.12.04. Zu einem weiteren Urteil des BG, wonach Asylbewerber in Ausschaffungshaft gesetzt werden dürfen, wenn auf ihr Asylgesuch mangels Vorweisung von Papieren nicht eingetreten worden ist und die Gefahr des Untertauchens besteht, siehe Presse vom 31.7.04; TA, 12.10.04.
[18] Presse vom 7.7. und 28.7.04.
[19] LT, 16.8.04; BaZ, 20.8.04. Siehe SPJ 2001, S. 201 f.
[20] BZ, 7.7.04; Presse vom 25.11.04. Siehe SPJ 2002, S. 239.
[21] SGT, 22.1. und 27.8.04; TA, 2.3., 26.8. und 14.9.04; 24h, 5.3., 9,12. und 15.12.04; TG, 2.4. und 1.7.04; BaZ, 9.7.04; Lib., 11.8., 17.8. und 22.9.04; NZZ, 2.9.04; Presse vom 3.9. und 17.9.04; AZ, 13.9.04; LT, 22.10.und 15.12.04.